-𝔽𝕚𝕧𝕖-

Nachdem ich wieder Zuhause angekommen bin, mache ich erstmal durch laute Rufe auf mich aufmerksam.

Aus der Küche kommt meine Tante Maryse, die eine Schürze umhat, welche scheinbar voller Mehl ist.

"Ah, Schatz, schön, dass du wieder hier bist. Komm, probier meinen Kuchen. Das ist ein neues Rezept, dass ich ..."

Könnt ihr Menschen auf stumm stellen, indem ihr euch einfach vorstellt, sie wären nicht da?

Ich kann das, seit ich auf der Grundschule bin. Das ist hilfreich, wenn die gesamte Klasse laut ist, während du einfach daneben hockst und dir Algebra ansiehst.

Ein Teil meines Gehirns funktioniert dann immer wie ein Filter, der Dinge heraushört, die für mich von Bedeutung sind. Ich bin nicht wie die meisten Menschen, die sehen, aber nicht wahrnehmen. Ich sehe und nehme wahr, wenn es interessant für mich ist.

Ja, ich war auch als Kind schon komisch.

Es gibt nicht viele Dinge, die mich begeistern. Ich hasse - wahrscheinlich wider Erwartung - Mathe. Wobei hasse ein starker Ausdruck ist. Mathe und ich sind seit der fünften Klasse auf dem Kriegsfuß.

In der fünften Klasse hatten wir Vertretung bei Mister Chester. Niemand mochte ihn, er dagegen schien sich zu vergöttern. Er schenkt sich selbst zu Weihnachten sicher ein T-Shirt mit einem Foto von sich. Jedenfalls hat er mich nach vorn gerufen, weil ... Mister Chester jemanden brauchte, den er demütigen konnte.

Also suchte er sich mich aus. Natürlich. Seiner Aufforderung nachkommend stellte ich mich vorne hin. Er begann, mir Aufgaben aus der höheren Mathematik zu stellen und hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ein Fünftklässler die beantworten kann. Okay, das sollte eigentlich kein Witz sein, falls das jetzt einer denkt. Ich bin nicht witzig.

Letztendlich hat die ganze Klasse von meiner Intelligenz erfahren, was mir irgendwie ultra peinlich war und da durchschnittlich Intelligente meistens nicht damit klar kommen, wenn andere - schwächere - schlauer sind als sie, wurde ich gehänselt. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich meine Intelligenz verheimliche: menschliches Versagen.

Dafür, dass ich Mathe nicht leiden kann, mag ich Englisch und Geschichte.

An Englisch reizt mich die Kunst der Literatur. Ich lese viel, wir haben hier sogar eine hauseigene Bibliothek.

Literatur begeistert mich, Schriftsteller zu sein muss ein anstrengender Job sein, schließlich muss man ständig kreativ und ideenreich sein. Das ist sicher total kraftraubend.

An Geschichte begeistert mich die Greifbarkeit, dass alles so nah ist, nur ein paar Seiten in den Büchern entfernt. Helden, Könige, Kaiser, Kriege, Hungersnöte, antike Politiker - all das ist fast erstaunlich genau beschrieben, obwohl keiner der Menschen, die unsere heutigen Schulbücher schreiben, irgendetwas davon selbst erlebt haben.

Jeder kann Geschichte nachempfinden und aus der Vergangenheit lernen. Weil man ja aus Fehlern lernt und in der Vergangenheit sind den Menschen viele Fehler unterlaufen.
Wobei das ja nicht nur in der Vergangenheit der Fall ist, denn auch in der Gegenwart und Zukunft passieren zu viele Fehler.

" ... Kathy?", beendet Maryse ihren fünfminütigen Monolog und sieht mich abwartend an.

Ich zucke mit den Schultern. "War ganz in Ordnung. Tristan, ein Freund von uns, war auch da und wir haben ein bisschen geredet." Dass Zach sich geprügelt hat, lasse ich unerwähnt, sie muss schließlich nicht alles wissen.

"Oh, dass ist ja schön", sagt sie, während sie freundlich lächelt. Wahrscheinlich kommt gleich irgendein psychologisches Gutachten meines Gehirns und dass ich ihr das nächste mal besser zuhören soll.

Aber nichts dergleichen geschieht.

Mir wird lediglich ein Stück Kuchen in den Mund geschoben und ich werden dazu gezwungen, zu kauen und runterzuschlucken.

Ich brumme genervt, das Brummen wandelt sich jedoch schnell zu einem genussvollen Aufstöhnen. "Das ist wahnsinnig lecker."

Mit einem triumphierenden Blick bedenkt sie den Kuchen und erwidert dann selbstgefällig: "Das weiß ich doch."

"... aber danke für deine Bestätigung mein allerliebster Lieblings-Neffe", vervollständige ich ihren Satz, was sie zum Lachen bringt.

"Natürlich." Sie lacht immer noch und ich beginne, die Spülmaschine zu ordnen. Ich habe da einen leichten Knall; immer wenn jemand etwas falsch einräumt, muss ich es ändern.

Wir haben zwei Arten von Besteck: Besteck mit bunten Griffen und Besteck mit Griffen aus Edelstahl - damit es nicht rostet -, das alles in unterschiedlichen Schubladen liegt. Meine Tante konnte mich dazu überreden, nicht nach Farbe zu ordnen, sondern nach Art des Bestecks, also Messer und Gabeln und so weiter.

In der Spülmaschine ist das anders. Da ordne ich nach Farben, einfach, um Abwechslung reinzubringen. Meine Tante macht das jedes Mal wahnsinnig, meinem Onkel ist das inzwischen egal.

Nein, eigentlich hat es ihn nie interessiert.

Ich nehme alle blauen Besteckgegenstände aus der Spülmaschine heraus und lege sie vorerst auf den Tresen. Das mache ich mit allen weiteren Farben - also orange, grün und pink - und lege sie in Stapeln neben das blaue Besteck.

Als ich damit fertig bin, das Besteck wieder einzuräumen - nach Farben geordnet natürlich -, sehe ich zu Maryse, die mich mit einem kritischen Blick beobachtet.

"Was?" Fragend sehe ich in ihre Richtung und beginne, die Arbeitsfläche abzuwischen, auf der allem Anschein nach kurz zuvor noch Kuchen gebacken wurde.

"Du machst das jedes einzelne Mal, wenn ich das Besteck in die Spülmaschine eingeräumt habe. Das ist wie ein Tick, den du hast. Tust du das bei Kathy Zuhause auch?", will sie wissen und sieht mich immer noch an, was irgendwie ziemlich unangenehm ist.

"Nein. Da räume ich nur das Gewürzregal auf. Das ist immer unordentlich."

Maryse scheint irgendwie sprachlos zu sein.

"Ich gehe dann hoch." Ich zeige auf die Treppe und gehe rückwärts auf diese zu, während ich meine Tante durchgehend ansehe.

"Okay." Ihre Stimme klingt leicht brüchig und sie muss sich räuspern.

Ich winke ihr zu, drehe mich um und laufe die Treppe nach oben.

Was für ein komischer Tag.

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Am Abend - kurz nach zehn - sitze ich in meinem Zimmer und hänge irgendwo zwischen meiner Gedankenwelt und der Realität.

Ich habe eine Art Ruhemodus, wie Delfine. Delfine schlafen nämlich, indem sie eine Gehirnhälfte wachhalten und die andere Hälfte schlafen legen.

Klar, ich kann nicht meine gesamte linke oder rechte Gehirnhälfte einschläfern, aber zumindest einen kleinen Teil in den Ruhemodus, der dem Schlaf schon ziemlich nahe kommt, versetzen.

So kann ich meinen Gedanken nachhängen und gleichzeitig Kraft für den nächsten Tag sammeln.

Das mache ich meistens die ganze Nacht lang, manchmal auch nur bis kurz nach Mitternacht. Meinen Onkel interessiert das sowieso nicht und meine Tante hat sich nach ein paar Jahren dazu entschieden, mich meinen Macken auszusetzen, ohne etwas dazu zu sagen. Na ja, außer das mit der Spülmaschine. Das kann sie nicht lassen.

Habe ich irgendwann schon mal gesagt, dass ich es hasse, wenn man mich in meiner Ruhephase stört?

Als es klingelt, werde ich mir dieser Tatsache nur zu deutlich bewusst.

Genervt stöhne ich auf und laufe die breite Treppe hinunter.

Das Haus hat meine Tante von ihrem Urgroßvater geerbt, der es aufgebaut hat. Sie hat es restaurieren und renovieren lassen, damit es nicht gleich einstürzt - wobei es eigentlich ziemlich stabil gewirkt hat - und sie darin wohnen kann.

Kurz danach hat sie Victor - meinen Onkel - kennen gelernt und wir sind zu dritt hierher gezogen.

Warum ich bei meiner Tante wohne, werde ich nicht weiter ausführen, einfach, weil ich noch nicht darüber sprechen will.

Ich öffne die Tür und stöhne erneut auf. Dann keuche ich vor Überraschung.

Was macht er hier?

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Jup, ich liebe sie - die Cliffhanger.
Ich hatte heute eine lange und kreative Phase, deshalb kommt das Kapitel heute schon.
Sonntag kommt natürlich auch eins.
Hoffe ihr hattet bisher eine schöne Woche.🤗

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