-𝔼𝕝𝕖𝕧𝕖𝕟-

Schwuchtel.

So hat Noah mich genannt. Dämliche Schwuchtel, hat er gesagt und dann so ekelhaft gelacht, als wäre er witzig.

"Wie ist es gelaufen, Carter?", will Kathy Montagmorgen wissen, aber ich grummle nur vor mich hin, was ihr zu verstehen gibt, dass ich nicht in der Stimmung bin, mit ihr oder sonst irgendwem zu reden.

"Schrecklich", erwidere ich dann genervt und ein wenig zu laut, als sie mich anstupst.

"Was hat er gemacht?"

Ich schließe die Augen, senke den Kopf und zähle langsam bis zehn.

"Carter", wiederholt sie meinen Namen und will scheinbar, dass ich sie ansehe. Dazu habe ich jetzt keine Kraft.

"Ich hasse ihn", erkläre ich leise und werde prompt in eine Umarmung gezogen.

"Was hat er getan?", flüstert sie in mein Ohr, kurz bevor sie sich wieder ordentlich hinsetzt.

Wir haben jetzt gemeinsam Biologie und sitzen sogar nebeneinander. Später werden Tristan, Kathy und ich alle zusammen Latein haben und einen Test schreiben, auf den ich mich momentan nicht konzentrieren kann.

Meine Gedanken schwirren die ganze Zeit um Noah, wieder und wieder gehe ich unser Gespräch durch, komme aber nie zu einem Ergebnis.

Was hat ihn dazu gebracht, mir das jetzt zu sagen? Jetzt, wo ich schon fast weg bin.

Kurz bevor Miss Quinn den Raum betritt, stehe ich auf, was Kathy mir nach macht. Die junge Lehrerin ist erst seit Anfang des Schuljahres hier. Ihre kupferfarbenen, langen Haare fallen über ihre Schulter und auf ihrer kleinen Nase thront eine Brille mit schwarzem Gestell.

Kathy mag sie, ich kann sie nicht leiden.

Was vielleicht daran liegt, dass ich schlechte Erfahrungen mit Biologielehrern gemacht habe, aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Als sie uns begrüßt hat und das allgemeine Stühle Rücken halbwegs verstummt ist, beginnt sie mit dem Unterricht, den ich weitestgehend verfolge.

Zumindest bis Kathy anfängt mir dauernd Zettelchen zuzuschieben. Ich kann mir sogar sehr gut denken, was darauf steht.

Sie tippt mich an, wovon Miss Quinn glücklicherweise nichts mitbekommt. "C", flüstert Kathy und blickt verstohlen in meine Richtung.

Da mir keine andere Wahl bleibt, öffne ich den einfach zusammengefalteten Zettel und lese, was darauf steht.

'𝓗𝓪𝓽 𝓮𝓻 𝓮𝓽𝔀𝓪𝓼 𝓖𝓮𝓶𝓮𝓲𝓷𝓮𝓼 𝓰𝓮𝓼𝓪𝓰𝓽?'

Ich nicke in ihre Richtung und ein weiterer Zettel wird mir zugeschoben.

'𝓦𝓪𝓼?'

Ich sehe sie an und bedeute ihr, kurz zu warten. Geradeaus zu Miss Quinn starrend, nehme ich mir einen Stift und schreibe zwei Worte auf die Rückseite des Zettels, den Kathy benutzt hat.

Da ich auf dem linken Platz auf der linken Seite des Raumes nahe den Fenstern sitze und Kathy und ich die dritte Reihe für uns auserkoren haben, bemerkt Miss Quinn nichts von unseren nonverbalen Kommunikationen.

'𝕯ä𝖒𝖑𝖎𝖈𝖍𝖊 𝕾𝖈𝖍𝖜𝖚𝖈𝖍𝖙𝖊𝖑'

Als Kathy die Worte liest, atmet sie geschockt ein.

Eigentlich hat Noah nicht mich direkt so genannt, sondern gesagt, dass würde er allen erzählen. Da ich mir aber nicht sicher bin, ob er weiß, dass ich wirklich schwul bin, kann ich nicht sagen, inwiefern diese Beleidigung gegen mich persönlich gerichtet war.

'𝓢𝓸 𝓮𝓲𝓷 𝓐𝓻𝓼𝓬𝓱𝓵𝓸𝓬𝓱'

Kathy wird mich wahrscheinlich immer verteidigen. Egal worum es geht.

Dafür liebe ich sie.

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Ich konnte den Schulsport noch nie leiden. Nur eine praktische Ausführung der physikalischen Mathematik - oder der mathematischen Physik? -, vermischt mit ein wenig Biologie, die zu einem exothermen Stoffgemisch mutiert ist und wahrscheinlich zur Unterhaltung der Lehrkräfte dienen soll.

Nachdem wir den einfachsten Lateintest in der Geschichte Amerikas geschrieben haben, war erstmal eine Stärkung in Form des Mittagessens angesagt.

Tja, und jetzt haben wir Sport. Freude.

Hinzufügend muss ich sagen, dass ich den Ausdauerlauf liebe. Jegliche Art von Laufen liebe ich. Laufen hat mich schon immer dazu gebracht, Erinnerungen zurück aus den Tiefen des Langzeitgedächtnisses zu holen.

Aber Hochsprung - es gibt nichts Schrecklicheres.

Irgendwer müsste mir da nochmal den Sinn erklären. Zusammengefasst: Man springt über eine Stange auf eine Matte und hofft, dass man sich dabei nichts bricht.

Okay, alles schön und gut. Aber dann gibt es da noch diese Menschen, die sich erstaunlicherweise 'Mitschüler' nennen und einen bei seinem Versagen beobachten.

Na ja, in meinem Fall versage ich nicht, aber Kathys Hochsprungkünste sind irgendwo bei ihrer Sympathie für Sport geblieben, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Kathy sich schon mehr als einmal beim Hochsprung verletzt hat.

Warum ist mir das noch nie passiert?

Tristan scheint es wirklich verdammt witzig zu finden, wie Kathy und ich uns einen abrackern, während er mit Leichtigkeit über die Stange kommt. Wahrscheinlich trainieren die das beim Football auch immer.

Die ganze Stunde geht es so weiter und ich hasse den Sommer dafür.

Warum werden wir mit Leichtathletik gestraft, während wir genauso gut in der Halle Bälle durch die Gegend werfen könnten?

Nachdem ich mich mühsam umgezogen habe - Tristan, dieser Perversling, hat mir hin und wieder aufreizende Blicke zugeworfen -, begebe ich mich zum Parkplatz, um zum Tor und somit zu meinem Auto zu gelangen.

Aber natürlich wird nichts daraus, pünktlich nach Hause zu kommen, denn Kathy steht an der Fahrertür ihres Wagens, an dem ich zwangsläufig vorbeikommen muss. Ihre Arme sind vor ihrer Brust verschränkt, aber ihr Blick vermittelt Wärme.

"Erzähl's mir."

Ich deute ihr, ins Auto zu steigen, was sie leichtfertig tut und sich auf dem Fahrersitz niederlässt, während ich mich auf die rechte Seite des Autos begebe.

Meine Fingerknöchel sind weiß. Diese Tatsache lenkt mich für einen winzigen Augenblick ab, bis ich zurück in die Realität finde.

"Als wir bei mir waren, hat er mir erzählt, dass es sich bei dem Grund, der hinter dem Kuss steckte, um eine Wette handelte. Er brauchte Geld und konnte sich so leicht welches beschaffen. Es war allem Anschein nach nicht geplant, dass er ausgerechnet mich küsst, sondern war ich lediglich Opfer der Umstände.

Noah hat mir zwischen den Zeilen verklickert, dass ich niemandem davon erzählen soll, da er ja so ein straighter Typ ist und ein Kuss mit einem Kerl seinem 'guten' Ruf schaden würde. Dann meinte er noch, dass ich - sofern ich mich nicht an seine Anweisungen hielte - als 'Schwuchtel' dargestellt werde.

Er ist verschwunden, bevor ich hätte nachfragen können, ob er weiß, dass ich wirklich schwul bin, was ich vielleicht sowieso hätte vermeiden können, deshalb ..."

Mein Redefluss wird jäh von Kathy unterbrochen: "Carter, ich hoffe, dass du weißt, dass Noah ein absolutes Arschloch ist. Du solltest dir seine Worte nicht zu Herzen nehmen. Du bist ein toller Mensch und hast deshalb auch keinen Grund auf ihn zu hören.

Sieh' dir zum Beispiel Tristan an. Der ist wahnsinnig glücklich als geouteter Schwuler und hat auch kein Problem, offen damit umzugehen. Leute, die im Jahr 2020 immer noch gegen gleichgeschlechtliche Liebe sind, gehören weggesperrt."

Ich kriege eine innige Umarmung, die ich nicht erwidern kann, da ich stetig geradeaus starren muss.

Kathy hat Recht. Noah sollte meine Gedanken nicht kontrollieren. Ich sollte mich auf Menschen wie Tristan konzentrieren, die sich für die gleichgeschlechtliche Liebe einsetzen und sie nicht nur tolerieren, sondern ihre Akzeptanz voranbringen.

Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet sie sich von mir und ich steige aus dem Auto.

Ein paar Minuten bleibe ich noch stehen, auch als sie schon weggefahren ist und sehe dann Tristan an mir vorbeilaufen.

Vielleicht ist es jetzt soweit.

Ich laufe mit Höchstgeschwindigkeit auf ihn zu und packe ihn am Ärmel. Er dreht sich leicht verwirrt zu mir um, als er mich aber erkennt, beginnt er zu grinsen.

"Hey, Carter, hast du ..."

Ich lasse ihn nicht ausreden, ziehe ihn in Richtung Schultor und laufe um den Block, schiebe ihn um das Auto herum und bedeute ihm, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, ähnlich wie ich in Kathys Auto einige Minuten zuvor.

Als ich sicher bin, dass er sitzen bleiben wird, laufe ich um das Auto herum und steige hinein.

Die Fahrt über schweigen wir, was sich als angenehmer entpuppt, als ein stetiges, uninteressantes Gespräch zu führen.

Als wir vor dem Haus meiner Tante halten, sieht er mich verwirrt an, aber ich steige unberührt aus und laufe auf das Haus zu.

Ich höre seine Schritte; natürlich folgt er mir. Er hat ja auch keinen Grund es nicht zu tun.

Ich lege meine Hand in seine, was mir einen weiteren verwirrten Blick einbringt, jedoch lasse ich mich nicht abbringen und ziehe ihn die Treppen hinauf.

In meinem Zimmer will er sich auf mein Bett setzen, aber da ich mich hinlege, legt er sich auch neben mich.

Wir sehen uns minutenlang schweigend in die Augen, während das leise, sanfte Ticken meiner Uhr, die Stille unterstreicht.

Vielleicht ist es ja vom Schicksal bestimmt, dass unsere Lippen sich irgendwann treffen.

Dem Kuss an sich mangelt es nicht an Leidenschaft, aber eigentlich ist er der Inbegriff der Unschuld.

Mit leichtem Druck pressen sich unsere Lippen aneinander, aber ansonsten berühren sich unsere Körper nicht mal im Ansatz. Tristans Augen sind offen, deshalb halte ich meine auch geöffnet.

Wie man möglicherweise gemerkt hat, bin ich nicht sonderlich erfahren, was das Küssen angeht. Oder Sex.

Mein Gegenüber seufzt in den Kuss hinein, was mich dazu veranlasst, mich von ihm zu lösen, da es mir auch so langsam an Luft mangelt.

Kurz senke ich meinen Blick auf die schwarz-rote Bettwäsche, die in den letzten fünf Sekunden irgendwie viel interessanter geworden ist.

Dann raffe ich mich zusammen und sehe Tristan in die Augen, der blöd vor sich hin grinst.

"Wie konnte ich jemals glauben, dass du hetero bist?", stellte er sich selbst eine Frage, die ich nicht werde beantworten können.

"Ich will dich nochmal küssen", sage ich, statt eine Antwort auf seine Frage zu geben.

Meine Aussage lässt ihn noch doofer grinsen. "Du weißt wirklich, was du willst, Carter."

Als er sich nach vorne lehnen will, um unsere Lippen wieder zu verbinden, kann ich noch ein leises "dich" dazwischenschieben, was Tristan dazu veranlasst, inne zu halten.

Dann lege ich meine Hände in seinen Nacken und unsere Lippen treffen sich wieder.

Ich würde jetzt nicht sagen, dass der Kuss besser ist, als der erste, aber er ist ein wenig - okay sehr viel - wilder.

Tristan zu küssen, sollte verboten werden. Zu schnell würde man schließlich süchtig danach werden; süchtig nach ihm werden.

Aber er erkundet meinen Mund ja auch nicht - er erobert ihn. Das macht einen gewaltigen Unterschied aus.

Wir haben uns wohl dagegen entschieden, unseren Zungen freien Lauf zu lassen, nur um Speichel auszutauschen, weshalb jeder Kaumuskel in dem Mund bleibt, wo er hingehört.

Vielleicht ist der Kuss ein bisschen intensiver, als der davor, weil unsere Körper sich berühren. Ich fühle zwar nicht dieses Kribbeln, dass immer beschrieben wird, wenn man jemanden berührt, den man mehr als gern hat, dafür übermittelt Tristans Körper aber eine angenehme Wärme, anders als die Hitze außerhalb dieser alten Mauern.

Er muss stöhnen, aber ich verstehe den Sinn hinter dieser menschlichen Reaktion nicht. Warum ...

"Carter", stöhnt er. Okay, der Sinn ist mir gerade bewusst geworden: Damit raue, sexy Stimmen sich in Szene setzen können.

"Tristan, Carter, kommt bitte, es gibt Essen", ruft Maryse, was uns auseinander fahren lässt. Gott, habe ich mich gerade erschrocken.

Mein Gegenüber muss über meinen Schock lachen, was ihm einen gespielt bösen Blick von meiner Seite einbringt.

Als Entschuldigung küsst Tristan mich kurz auf die Lippen, aber ich drehe mich beleidigt weg und ziehe eine Schnute.

Wir machen uns auf den langen Weg die Treppe hinunter und erreichen mit Mühe und Not gerade so das Esszimmer.

Heute gibt es Chilli sin carne, da es nur einmal in der Woche - mittwochs - Fleisch gibt.

Hähnchenfleisch, das geschächtet ist. Ich bin weder Muslim noch Jude, glaube jedoch, dass diese Art des Tötens der Tiere ein wenig gesünder für den Verzehr ist.

Keine Ahnung, wahrscheinlich einer meiner Ticks.

Die Essens- und Einkaufspläne inklusive Rezept verfasse ich meistens mitten in der Nacht, wenn im Haus Ruhe einkehrt und ich nachdenken kann.

Dass es nur mittwochs Fleisch gibt, verdanke ich meiner Neigung zur Gewohnheit - ein weiterer menschlicher Trieb.

Da ich nicht vollends auf Fleisch verzichten soll, aber der Umwelt auch nicht noch mehr als sowieso schon schaden will, haben Maryse und ich uns auf diesen Kompromiss geeinigt.

"Das schmeckt echt gut." Tristans Mund ist nicht gefüllt, was ihm Pluspunkte in Sachen Höflichkeit einbringt.

Nein, ich führe keine Liste, ich weiß gar nicht, wie man darauf kommen könnte.

"Das Rezept meiner Mutter Celestine." Maryse lächelt Tristan zu und sieht sich dann um.

"Er wird wohl nicht kommen." Es ist eine Feststellung, keine Frage.

Sie antwortet auch nicht darauf. Sie erwidert lediglich: "Er ist wahrscheinlich bei seiner Partnerin. Sich für die nächsten Fälle vorbereiten und so."

Also hat er gerade Sex mit einer Frau, die wahrscheinlich nicht Maryse Redwood heißt, die dazu aber noch mit ihm zusammen die Kanzlei leitet.

Wow.

Du übertriffst dich mal wieder selber, Victor.

Maryse wirkt abwesend, ihr Blick ist ins Nichts gerichtet und sie scheint etwas zu sehen, dass wir nicht einmal bemerken würden, wenn es vor unserer Nase Macarena tanzen würde.

Tristan und ich wechseln einen Blick, räumen unsere Teller ab und verziehen uns wieder nach oben.

Ich entscheide jetzt mal über seinen Kopf hinweg - auch wenn ich kleiner bin als er -, dass er heute Nacht hier schlafen wird.

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Ich sollte nicht schreiben, wenn ich krank bin 😷😕.

Hey 🤗,

ich muss gestehen, dass es mir an Zufriedenheit mangelt, was dieses Kapitel betrifft 😩. Vielleicht habt ihr ja Verbesserungsvorschläge für mich.

Ehrlichgesagt finde ich es super, dass Carter sich das getraut hat. Wer noch?

Niemand? Okay, ich verzieh mich dann mal in meine Ecke.

Schöne Woche noch und bis Freitag 😊❤.

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