60 - Aschgrau

▷ Message to Bears - You Are a Memory ◁


Mein Herz setzt aus. Für eine ganze Sekunde. Oder für eine ewige Minute. Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Wie ferngesteuert laufe ich zu der Stelle, an der wir gerade noch standen. Und was mich erwartet, treibt mir die Galle in den Mund. Das komplette Häuschen ist zerstört, als wäre etwas Großes hindurchgerauscht. In der Ferne sehe ich einen Sattelschlepper, der langsam zum Stehen kommt. Mein Puls rast.

Noah. Ich muss Noah suchen.

Mit zittrigen Händen fege ich die zersplitterten Holzteilchen aus dem Weg und rufe seinen Namen. Immer wieder. Ich rufe und schreie mir die Seele aus dem Leib, bis mich jemand von dem Chaos wegzieht. Ich wehre mich mit Händen und Füßen.


Es ist nicht Noah der mich festhält. Es ist ein fremder Mann, ein Mann, dem der Schock ins Gesicht geschrieben steht. Ich weiß, er meint es nur gut, aber ich kann es nicht ertragen, seine Hände an mir zu spüren. Es ist nicht Noah, der mich hält. Es ist nicht Noah. Ich halte die Luft an. Schwärze umhüllt mich, doch ich kämpfe mich ans Licht. Ich muss zu Noah. Ich muss Noah finden. Ich stoße den Mann von mir und falle auf die Knie, suche in der zerstörten Bude nach einem Lebenszeichen von ihm. Ein Schluchzen bricht aus mir und meine Sicht trübt sich ob der Tränen, die sich nun ihren Weg in die Freiheit bahnen.

Noah. Ich muss Noah suchen.

Dann. Ein leises, sanftes Wispern der tiefen, rauen Stimme, die ich überall wiedererkennen würde. Es ist so laut um uns, dass sie fast nicht zu hören ist. Aber ich höre sie. Schnell stehe ich auf und schiebe die Bretter beiseite. Ich bin auf alles gefasst. Auf komisch abstehende Gliedmaßen, auf Blut, auf gebrochene Knochen, auf alles. Aber nicht darauf, Noah blass wie eine weiße Wand vor mir liegen zu sehen. Seine Klamotten sind nass und ich erkenne nicht, ob es der Glühwein ist, den er gerade noch in der Hand hielt oder ob es eine Körperflüssigkeit ist, die ich nicht beim Namen nennen möchte. Ich weigere mich das zu tun. Ich falle auf die Knie und suche seine Hand. Sie zittert. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er Schmerzen hat, doch er will es mir nicht zeigen. Er will mir keine Angst machen.

"Noah", wispere ich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn.

Er atmet schnell, unkontrolliert.

"Dalí, mir ist kalt." Er hustet. Er hat Blut an den Lippen. Mir wird schummrig und ich habe plötzlich große Angst. Angst um ihn. Um uns. Er darf nicht gehen. Nicht so. Nicht heute.

Ich ziehe meinen Mantel aus und lege ihn über ihn. Sofort nehme ich wieder seine Hand.

"Vorsicht, nicht so fest drücken, du brichst mir noch meine Hand." Er versucht zu lachen und lustig zu sein. Aber an der ganzen Situation ist nichts lustig. Er verschluckt sich und hustet mehr Blut.

Ich sehe mich um. Uns umgibt ein Trümmerfeld. Überall liegen Menschen die verletzt sind, die von anderen Menschen umgeben sind. Schreie durchbrechen die Luft, zerbrechen sie, bis sie in Splittern auf den Boden fällt. Splitter, die sich in mein Herz bohren.

"Okay, Noah. Du schaffst das. Jemand hat die Kontrolle über den LKW verloren, aber du bist nicht so stark verletzt. Ich-"

"Dalí", unterbricht er mich. "Ich liebe dich." Er zittert, seine Atmung geht noch immer unkontrolliert. Ein erneutes Husten durchfährt seinen Körper.

Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht verhindern, dass sich die Panik in mir breitmacht und aschgraue Angst meine Hoffnung frisst. Ich weine.

"Ich liebe dich auch, Noah." Meine Stimme bricht.

"Komm her, bitte." Er sieht mich flehend an, mit seinen wunderschönen Augen. Er sieht so müde aus. Erschöpft. Sanft küsse ich ihn und hoffe, dass ich ihm etwas Kraft einflößen kann. Das Blut an seinen Lippen schmeckt nach Metall. Er erwidert meinen Kuss kurz. Seine Lippen sind kalt. So unendlich kalt.

Ich lege mich an seine Brust, lausche seinem Herzen und schließe die Augen. Es ist Glühwein auf seinem Oberteil, der saure Geruch des Alkohols frisst sich in meine Nase.

"Ich habe noch nie jemanden so sehr geliebt wie dich. Bitte vergiss das nicht." Seine Stimme ist schwach. So unendlich schwach.

Ich sehe ihn wieder an. "Ich werde das nicht vergessen, Noah. Aber wir haben noch Zeit. Wir können noch ganz viele gemeinsame Erinnerungen schaffen."

Sein Lächeln ist schwach und seine Augenlider flattern.

"Nein, bleib bei mir. Hörst du?"

"Mir ist so kalt, Dalí. Ich bin so müde. So unendlich müde. Bitte lass mich ein bisschen schlafen. Nur ein bisschen."

Tränen laufen mir über das Gesicht. "Bitte bleib bei mir. Noah, bitte."

"Ich bin so müde. Ich werde ein bisschen schlafen, mein Herz. Ja?"

Ich schüttle den Kopf. "Nein, Noah. Bitte bleib bei mir." Und flüsternd setze ich hinzu: "Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich."

Noah wird es schaffen. Ich weiß das. Das Leben kann nicht so ein Arschloch sein, dass es mir ihn wieder wegnimmt. Noah hat es verdient zu leben. Er hat noch so viel vor sich - sein ganzes Leben.

"Dalí", flüstert er und ich drücke seine Hand.

Ich beschließe, keine Angst zu haben. Denn ich weiß, dass er überleben wird. Er wird es schaffen. Wie ferngesteuert streichle ich seine Hand und wische ihm den Staub der Straße aus seinem wunderschönen Gesicht.

Hinter mir sind Schritte zu hören. Durch meinen Tränenschleier erkenne ich einen Notarzt und Rettungssanitäter. Sie lassen sich neben Noah fallen und schiebe mich sanft zur Seite. Noahs Hand lasse ich nicht los. Sie prüfen seinen Puls.

Ich lasse Noahs Gesicht nicht aus den Augen. Seine Gesichtszüge entspannen sich etwas und ein sanftes Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Die Hand die ich halte wird schlaff.

"Er hat keine Atmung. Beginnt mit der Reanimation. Jetzt."

Erstarrt halte ich Noahs Hand. Jemand zieht mich von ihm weg und ich sehe nur noch seinen leblosen Körper. Wie in Trance verfolge ich, wie sie sich um ihn kümmern. Sie legen ihm Klebeteilchen auf die Brust. Ich verfolge, wie sie das Gerät einschalten. Ihn wiederbeleben. Er atmet wieder. Sie legen ihn auf eine Trage. Er ist stabil. Er ist stabil und das bedeutet, er wird es schaffen. Noah wird überleben. Er wird nicht sterben. Nicht so. Nicht heute. Tränen trüben meine Sicht. Mir ist kalt. Mein Mantel liegt unbeachtet auf dem Boden. Einer der Sanitäter legt mir eine goldene Decke um die Schultern.

"Nehmt sie mit", weist der Notarzt an und sieht zu mir.

Ich weiß, sie dürfen mich eigentlich nicht mitnehmen, aber ich vermute, sie können mich schlecht allein zurücklassen. Die Fahrt ins Krankenhaus halte ich Noahs Hand. Ich zerquetsche sie, weil ich will, dass er wieder wach wird. Ich will, dass er mich wieder ansieht mit seinen wunderschönen Augen. Dass er mich neckt und ärgert. Dass er mit mir spricht. Dass ich seine Stimme höre. Sein Lachen. Ich will ihn im Arm halten und nie wieder los lassen. Ich will weitere gemeinsame Erinnerungen und Momente schaffen, die ich in meinen Marmeladengläsern verstauen kann. Ich will nicht, dass das hier ein Ende hat. Ich schluchze. Die Decke auf meinen Schultern knistert. Der Sanitäter beobachtet mich aus den Augenwinkeln, während er sich um Noah kümmert und ihn kontrolliert.

Es wird kein Ende haben. Es kann kein Ende haben. Noah hat das nicht verdient. Nicht, nachdem er so gekämpft hat. Ich schlucke und wische mir mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht. Ich muss stark sein. Für ihn. Für uns beide. Alles wird gut. Noah wird nicht sterben.

"Er wird es schaffen", meint der Sanitäter zu mir. Ich sehe ihn das erste Mal richtig an. Er hat graue Haare und stechend blaue Augen. Er lächelt mich aufmunternd an. Und ich glaube ihm. Noah hat ein Kämpferherz. Er wird es schaffen. Da bin ich mir sicher.



Sie setzen mich in den Wartebereich der Notaufnahme. Ich starre vor mich hin, nehme nichts und niemanden um mich herum wahr. Mein Handy vibriert und ich nehme es aus der Tasche. Ich funktioniere wie ein Roboter. Meine Gefühle sind gänzlich ausgeschaltet. Und doch weiß ich, dass jedes weitere gesprochene Wort den Damm brechen würde. Ich tue etwas das ich noch nie getan habe: Ich bete. Ich bete dafür, dass Noah es schafft. Dass er über den Berg ist.


Im Krankenhaus herrscht Chaos. Gerade die Notaufnahme ist voll mit Verletzten des Unfalls. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass es ein Terrorangriff war. Aber das kann nicht sein, oder? In Berlin passiert sowas nicht. So etwas passiert weit weg. Dort, wo es einen selbst nicht erreichen kann. Oder? Aber ich glaube das erst, wenn ich eine offizielle Bestätigung habe. Und bis ich weiß, dass Noah es ganz sicher geschafft hat. Ich bekomme nichts um mich herum mit. Nichts. Alles geschieht wie im Zeitraffer und ich weiß nicht, wie lange Noah inzwischen schon in dem Raum ist, in den ich nicht mit durfte.


Die Tür öffnet sich und jemand in einem weißen Kittel kommt auf den Wartebereich zu.

"Gehört hier jemand zu Herrn Eisold?", fragt er und sieht sich suchend um.

"Ja, ich, ich bin seine Verlobte", platze ich heraus, wissend, dass er mir ansonsten keinerlei Informationen geben darf.

Und noch jemand steht auf. Smilla. Ich habe sie gar nicht gesehen, nicht wahrgenommen. Wir sehen uns an. Beide angsterfüllt. Mir ist schlecht. Ich spüre, wie sich die Übelkeit ihren Weg durch meinen Körper bahnt.

Der Arzt sieht Smilla an. "Und Sie sind?", möchte er wissen.

"Seine Mutter."

Er sieht uns über seine Brille hinweg an. Ich kann seinen Blick nicht deuten, aber ich halte an meiner Hoffnung fest. Alles wird gut. Alles wird gut. Er wird nicht sterben. Noah lebt.


"Kommen Sie bitte mit", weist er uns an und geht voraus. Ich kann kaum Schritt halten. Und irgendwas an seinem Gang sagt mir, dass er es eilig hat. Dass er keine Zeit hat. Es sind zu viele Patienten zu versorgen.


"Sie sollten sich bitte hinsetzen. Beide." Seine Stimme ist tief und beruhigend. Aber meine Alarmglocken schrillen. Laut. Ich merke eine gewisse Ungeduld, die kurz über sein Gesicht huscht, die er aber gut hinter seiner neutralen Fassade verstecken kann. Das Gespräch hier ist nur reine Routine für ihn.


"Wir haben alles getan was wir konnten. Er hat das Bewusstsein verloren, wir haben ihn wiedergeholt. Seine Atmung setzte aus, wir haben ihn wiedergeholt. Aber die inneren Blutungen waren zu stark. Er war zu stark verletzt. Er hatte Blut in der Lunge. Es tut mir sehr leid. Wir-"


Mehr verstehe ich nicht. In meinen Ohren erklingt ein lautes Schrillen. Ein hohes Summen. Es übertönt die Stimme des Arztes. Ich bin froh, dass ich sitze, meine Knie sind schwach. Mein ganzer Körper ist schwach. Smilla bricht neben mir in Tränen aus. Sie sinkt zusammen wie ein Häufchen Elend. Sie hat gerade ihren Sohn verloren. Ihren Sohn, den sie erst vor Kurzem - nach langer Zeit ohne ihn - wieder gewonnen hat. Er wurde ihr einfach genommen. Entrissen.

Wie mir. Ich höre die Stimme des Arztes. Wie er uns erklärt, was genau passiert ist. Ich höre nur das Wort 'Verstorben' und werde taub. Ich fühle nichts mehr. Leere füllt mich aus. Es fühlt sich an, als würde ich schweben. Ich bekomme keine Luft. Es wird dunkel in meinem Kopf. Dunkel vor meinen Augen. Ein seltsamer Druck lastet auf meinem Kopf. Ich merke nur, wie ich die Augen schließe und zur Seite kippe. Starke Arme fangen mich auf.


Aber es sind nicht Noahs Arme. Es werden nie wieder Noahs Arme sein.


Ich komme zu mir und halte Smillas Hand. Sie weint. Und es irritiert mich, dass ich nicht weinen kann. Ich bin so taub, gefühlslos. Ich kann nicht weinen. Keine einzige Träne bahnt sich ihren Weg. Ich fühle nichts. Ich wünschte, ich hätte eine Klinge dabei. Ich habe das Gefühl, dass gerade nicht nur Noah gestorben ist, sondern auch ein großer Teil von mir.


Noah ist gestorben. Noah ist tot. Die Liebe meines Lebens wurde mir entrissen. Und ich fühle nichts. Fühle mich wie tot. Leer. Taub.


Ich stehe auf. Smilla mit mir. Wir sehen uns an und sie fällt in meine Arme. Ich halte sie fest. Tröste sie. Streiche beruhigend über ihren Rücken. Doch ich selbst stehe da wie zur Salzsäule erstarrt.

Noah ist nicht mehr da. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Für immer. Ich werde nie wieder seinem Herzschlag lauschen können.

All meine Hoffnung. Zerschlagen. All mein Licht. Verloren. Mein Herz versinkt in Dunkelheit. Sie begräbt mich unter sich. Ich ertrinke. Ich bekomme keine Luft. Ich ersticke. Ich ersticke. Ich ersticke. Meine Knie geben nach und ich lasse mich auf den Stuhl sinken. Mein Blick irrt verloren hin und her. Auf der Suche nach etwas. Nach Halt. Nach sturmblauen Augen.

Doch sie werden nicht fündig.

Sie werden nie wieder fündig werden. Nie wieder.

Ich habe ihn verloren. Ich habe uns verloren. Für immer. Ich werde ihn nie wieder in die Arme schließen können.


Smilla redet auf mich ein, doch ihre Worte erreichen mich nicht. Ich bin taub für alles. Stumm für jeden. Ich möchte nicht mehr sprechen. Nie wieder. Dieses Leben hat keinen Sinn mehr. Nicht ohne Noah. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Allein ohne ihn. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn so sehr. Wie soll ich das nur ohne ihn schaffen? Er hat mir mein Leben gerettet. Und ich habe seins zerstört. Ich habe ihn getötet. Ich werde mir das nie verzeihen. Niemals.




Das Taxi hält vor der Haustür meiner Oma und ich schaffe es mit letzter Kraft, den Fahrer zu bezahlen und auszusteigen. Ich kann nicht auf Smilla warten, sondern stolpere sofort zur Haustür. Gerade als ich klingeln will, wird sie aufgerissen. Leonie steht vor, mit Tränen in den Augen und schließt mich in ihre Arme. Ich spüre nur, wie sich ihre Hände in meinen Rücken krallen. Und dann falle ich.  All meine Selbstbeherrschung fällt von mir ab und ich breche zusammen.


Denn das Lied das sein Herz für mich singt ist für immer verstummt.

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