33 - Smaragdgrün

▷ Bruce Springsteen - Streets of Philadelphia ◁

Der Samstag beginnt mit einem schrillen Weckerklingeln weit vor meiner eigentlichen Aufstehzeit und einer hektischen Leonie. Ich bin mir sicher, ich kann Noahs Kuss auf meiner Stirn noch immer spüren. Ob die Stelle leuchtet wie ein Neonzeichen am Time Square? Ich habe das Gefühl, dass dem so ist. Leonie verlässt früh unser Zimmer und winkt mir lächelnd zum Abschied zu. Die anderen meiner Millieugruppe erzählen bei unserer Wochenendbesprechung von ihren anstehenden Unternehmungen, während ich nur schweigend daneben sitze. Es macht mich wütend, dass er mir fehlt. Hätte ich seine Handynummer, hätte ich ihm garantiert schon geschrieben. Es ist erbärmlich, wie abhängig ich von ihm bin, obwohl wir nicht mal zusammen sind. Ich bin so bescheuert.

Es ist früher Vormittag und die Sonne brennt bereits jetzt vom Himmel. Ich hoffe sehr, dass es später gewittert. Alleine stehe ich beim Rauchen, da ich mich eher absteits von dem Rest halte. Die Klinik ist wie ausgestorben, weil so ziemlich alle unterwegs sind und das gute Wetter genießen. Missmutig mache ich mich nach dem Mittagessen auf den Weg zum Wald, der smaragdgrün vor mir liegt und dessen Bäume im leichten Wind bereits ein wenig wanken. Ich habe das Gefühl, dass heute wirklich ein Gewitter ansteht. Die Luft ist zum Schneiden dick und so drückend, dass mir das Atmen schwer fällt. In meiner Tasche klappern mein Tagebuch, meine Stifte, Zigaretten, eine Flasche Wasser und mein Buch, welches ich im Moment lese, gegeneinander. 'Ein ganzes halbes Jahr' hat mich von Anfang an gepackt, auch wenn ich noch nicht besonders weit gekommen bin.

Mitten im Wald steht eine Bank, zu der ich nun möchte. Der erdige Geruch des Waldes und das Knirschen des Bodens unterhalten zwei meiner Sinne. Tief atme ich ein und versuche, meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken. In der Ferne sehe ich die Bank und sie ist zu meiner großen Freude leer. Da es an solch heißen Tagen besonders wichtig ist, dass man viel trinkt, stelle ich meine Wasserflasche neben mich und packe mein Buch aus. Es tut gut, mich in die Geschichte fallen und ablenken zu lassen. Die Zeit verfliegt, als ich in meinem Buch versunken bin.

"Sie sollten hier so bald wie möglich aus dem Wald verschwinden. Es gewittert in Kürze."

Verwirrt sehe ich auf. Eine ältere Dame steht an meiner Bank und deutet zum Himmel. Mir wird kurz etwas flau im Magen. Der Himmel ist pechschwarz und es wird mit Sicherheit nicht mehr lange dauern bis zum ersten Blitz. Ich werfe einen Blick auf mein Buch, seufze und schlage es zu.

"Danke", entgegne ich und stehe auf.

Sie lächelt nur und geht in die andere Richtung davon. So schnell es geht mache ich mich auf den Weg zur Klinik. Der Wind ist so stark, dass ich ihn eigentlich hätte merken müssen, als ich noch auf der Bank saß. Die ersten Regentropfen fallen vom Himmel und innerhalb von Sekunden bin ich nass bis auf die Haut. Um meine Tasche zu schützen, lege ich meine Jacke darüber. Es blitzt und ich zucke zusammen. Ich muss so schnell wie möglich aus diesem Wald heraus. Erleichtert seufze ich auf, als ich endlich das Klinikgebäude vor mir sehe. Völlig durchnässt erreiche ich das Haus und betrete das Foyer. Ein paar der Patienten sitzen dort und stricken. Diese Momentaufnahme erinnert mich an den Tag meiner Ankunft. Damals wollte ich nichts mehr als sterben, hatte Todessehnsucht. Jetzt habe ich Sehnsucht nach Noah. Interessant, wie sich die Prioritäten ändern. Allerdings ist beides nicht besonders toll.


"Du bist ja ganz nass! Regnet es etwa?" Ein Mann, Mitte 40, sieht mich grinsend an. Er weiß ganz genau, dass es draußen regnet.

"Nein, ich schwitze nur so viel, weil ich so viel wiege."

Er blinzelt und sagt weiter nichts mehr.

Mir ist sehr kalt und ich beschließe zu duschen. In meinem Zimmer angekommen stelle ich mich unter die heiße Dusche, weil ich so ausgefroren bin. Hunger macht sich bemerkbar und ich freue mich, dass es bald Abendessen gibt. Da ich das Buch an einer spannenden Stelle unterbrechen musste, lese ich es im Bett weiter und warte auf das Essen. Mit großem Appetit helfe ich beim Tischdecken. Es sind nicht viele da und so verkrümle ich mich nach dem Essen und Rauchen wieder auf mein Zimmer.

Inzwischen geht es mir nicht mehr so wirklich gut. Allein sein tut gut, weil man sich Zeit für sich nehmen kann. Blöd ist nur, dass man vollkommen alleine mit seinen Gedanke ist und die so viel lauter sind als die Stille um einen herum. Und de Tatsache, dass ich Noah vermisse, macht mich verrückt, wütend. Es ist das erste Wochenende ohne ihn.


Abends kann ich dann kaum einschlafen und schlafe sehr schlecht. Ich bin wie gerädert. Aber mein dummes Herz hüpft aufgeregt in meiner Brust bei dem Gedanken, dass Noah heute wieder kommt. Den Tag verbringe ich im Bett, nur zu den Mahlzeiten und zum Rauchen bin ich unten. Ich fühle mich alleine, ertrinke im Selbsthass und habe Schneidedruck. Es ist zum Kotzen, dass ich abhänigg von ihm bin. Ich will nicht von irgendjemandem abhängig sein, vor allem nicht von jemandem, der meine Gefühle nicht erwidert.

Lustig, dass ich von meinen Eltern abhängig bin, die nicht so wirklich elterliche Gefühle mir gegenüber zeigen können. Vielleicht bin ich ja wirklich so ein schlecht geratener Mensch, wenn sie so gar nicht stolz auf mich sein können. Vielleicht habe ich die Abscheu meiner Mutter verdient. Ich bin nicht besonders schön, nicht schlank, nicht besonders talentiert. Ich kann vieles gut, aber nichts besonders gut. Ich bin okay. Ich bin nur Durchschnitt, nichts besonderes. Es ist kein Wunder, dass meine Eltern nicht stolz auf mich sein können - oder mich lieben können. Wie denn auch?

Das Problem ist nur: Kann man es seinen Eltern nicht recht machen, ist man seinen Eltern nicht genug - und wie soll man das dann jemals für sich selbst sein? Wie kann man sich selbst genug sein, wenn man für seine Eltern ein Nichts ist?

Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich merke, wie die Dunkelheit wieder mit ihren eisigen Klauen nach mir greift und mich zu sich zerrt. Ich drücke mein Gesicht in das Kissen und lasse mich wieder von ihr mit sich ziehen.


Die Tür öffnet sich, was ich nur nebenbei mitbekomme, weil ich mit dem Kopf inzwischen unter dem Kissen stecke. Es ist nun Abend, vor dem Fenster ist es bereits fast dunkel, also muss es kurz vor neun sein, da die Sonne inzwischen wieder schneller untergeht. Das Jahr ist so schnell vergangen, wir haben fast schon wieder September. Leonie betritt das Zimmer und zieht ihren kleinen Koffer hinter sich her.

"Hey, Lia. Guess who's back? Lia? Hey, scheiße, was ist los?" Leonie setzt sich zu mir ans Bett und streicht mir über den Rücken.

Mir ist es peinlich, dass sie mich so sieht, mal wieder, deswegen verstecke ich mich noch mehr unter meinem Kissen.

"Lia, rede mit mir. Was hast du?" Sie zieht mir das Kissen vom Kopf.

Ergeben drehe ich meinen Kopf zu ihr. Leonie streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Geduldig sieht sie mich an und wartet. Nachdenklich beißt sie sich auf die Lippen. Irgendwann möchte ich sie nicht mehr länger warten lassen und erzähle ihr, was in meinem Kopf los ist. Als ich die Erzählung beende, schlingt sie die Arme um mich und hält mich fest.

"Du darfst deinen beschissenen Gedanken nicht so viel Raum geben. Ich weiß, dass das schwer ist, aber du musst versuchen, eine Mauer aufzubauen, die diese Gedanken von dir abhält."

"Aber sie sind so stark", murmle ich.

"Ich weiß. Aber sie dürfen nicht so sein, nicht so gemein zu dir. Du bist viel zu wertvoll. Guck, vielleicht kannst du versuchen, dich als deine beste Freundin zu sehen. Würdest du so mit deiner besten Freundin reden wie du mit dir selbst redest?"

Ich schüttle den Kopf. "Nein, niemals."

"Siehst du? Dann solltest du das dir gegenüber auch nicht tun."

Langsam beruhige ich mich wieder und frage sie nun neugierig über ihr Wochenende aus.


"Nico ist so ein guter Mensch. Er bringt mich zum Lachen und er akzeptiert meine Fehler. Und wir sind jetzt offiziell zusammen." Ein Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht und sie quietscht auf, als ich sie an mich drücke.

Freude durchflutet mein Herz und ich möchte ihr zeigen, wie sehr ich es ihr gönne, dass sie glücklich ist.


Es klopft sachte an unsere Tür und wir beide erstarren. Ich reiße die Augen auf und wische mir über das Gesicht. Mein Herz klopft schneller bei dem Gedanken, dass es vielleicht Noah ist. Aber ich stopfe den Gedanken ganz tief zurück in meinen Kopf.

"Das ist bestimmt Noah. Soll ich ihn abwimmeln oder aufhalten und du machst dich solange frisch?" Sie springt vom Bett auf.

"Ich mache mich frisch. Das wäre super, danke dir."

Ich gehe ins Badezimmer und wasche mein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Leonie klopft an der Tür und öffnet sie einen Spalt.

"Es ist Noah, er wartet vor der Tür."


Er steht vor mir, mit seinem Gepäck, und strahlt.

"Hey, ich bin gerade wieder hier angekommen und wollte dich fragen, ob du mit mir rauchen gehen willst?"

Ich nicke und bringe kein Wort heraus. Nervös nestle ich an meiner Jacke herum. Ich habe ihn so vermisst, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht und ich versucht bin, alles von ihm aufzusaugen, was ich vor mir sehen kann. Nur für den Fall, dass sich unser Kontakt irgendwann im Sande verläuft.

"Super, dann bring ich mein Gepäck schnell zu meinem Zimmer. Wartest du an der Treppe? Der Arzt hat noch nicht zugesperrt, weil ich ihn gefragt habe, ob wir noch kurz eine rauchen gehen können."

Seine Wortflut überschwemmt mich, doch ich halte ihr stand. Wieder nicke ich nur.

Noah runzelt die Stirn. "Ist alles gut?"

"Ja, ich bin nur müde."

Er legt den Kopf schief und zieht die Augenbrauen hoch. "Das ist die Standard-Antwort, wenn es einem scheiße geht und man nicht darüber sprechen möchte."

Ich rolle mit den Augen. "Der Kandidat hat 100 Punkte."

Noah seufzt. "Na gut, aber wenn du reden willst, ich bin da. Dann sehen wir uns also gleich?"


Wir stehen vor dem Haupteingang der Klinik, in der Nähe des Raucherpavillons und zünden unsere Zigaretten an .

"Wie war es?", möchte ich wissen und puste den Rauch in die Luft.

"Es war gut. Es war wirklich gut. Sie ist großartig und ich bin so froh, dass ich den Schritt gegangen bin. Ich habe sie die ganze Zeit über so sehr vermisst und mich nie getraut, mich zu melden, aus Scham und Angst. Aber sie hat mir die Angst sofort genommen. Mama hat mich einfach in den Arm genommen, als wäre nie etwas passiert und plötzlich war alles zwischen uns wieder gut. Und wir haben so viel geredet, Dalí, das hat so gut getan."

Selbst in der Dunkelheit kann ich ihn strahlen sehen. Ich freue mich so sehr für ihn, dass ich Tränen in den Augen habe. Natürlich kann ich das nicht vor ihm verheimlichen, denn er sieht, wie ich sie mir wegwische.

"Was hast du? Oh nein, ich bin so egoistisch. Dein Verhältnis zu deiner Mutter ist so schlecht und dann komme ich daher. Ich bin so blöd." Wütend fuchtelt er mit seinen Händen in der Luft herum.

"Was? Nein, ich freue mich nur so für dich. Weil ich weiß, wie sehr du Angst hattest und wie aufgeregt du warst. Und wie viel sie dir bedeutet und wie viel dir das Treffen bedeutet hat. Du hast es so sehr verdient, dass alles gut wird, Noah." Jetzt bin ich es, die mit ihren Händen herumfuchtelt wie wild.

Noah pustet den Rauch aus seinem Mund und stockt. "Du freust dich für mich?"

Wie ein Wackeldackel nicke ich, damit er es auch in der Dunkelheit sieht. Nur die Straßenlaterne einige Meter von uns weg durchbricht die Dunkelheit etwas. Aber so stehen wir in vollkommener Schwärze. Er tritt an mich heran, uns trennt nicht mehr viel. Wenn ich meinen Kopf ein Stück nach vorne beugen würde, könnte ich ihn an seine Brust lehnen. Ich sehe ihn an und muss dafür meinen Kopf in den Nacken legen.

"Du bist zu gut für die Welt", sagt er leise und streicht mir mit seiner freien Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Er lässt seine Hand an meiner Wange liegen und streicht mit seinem Daumen über meine Wange. Mein Herz flattert in meiner Brust. Als er sich langsam vorbeugt, stockt mir der Atem. Ich zittere und weiß nicht, wohin mit meinen Händen oder was zu tun ist - was er vor hat. Er bewegt sich wie in Zeitlupe, langsam, unerträglich langsam. Uns trennen nur noch wenige Zentimeter und ich kann seinen Atem auf meinen Lippen spüren.

"Lia", raunt er heißer und schließt die Augen.

Mein Herz setzt aus. Nur noch ein Blatt Papier würde zwischen unsere Lippen passen, die Spannung, die in meinem Körper herrscht, ist unerträglich.


"Wir schließen jetzt die Tür. Kommen Sie bitte herein!", ruft der Nachtarzt und ich springe sofort einen Meter von Noah weg.

Dieser blinzelt kurz und sofort legt sich wieder eine Schutzschicht über sein Gesicht, bevor er sich umdreht.

"Klar, wir machen die hier nur noch schnell aus", antwortet Noah uns fuchtelt mit seiner Zigarette in der Dunkelheit herum.


Doch ich habe meine bereits auf den Boden geworfen und stürme an ihm vorbei. Meine Knie zittern, als wären sie aus Espenlaub, das im Wind zittert. Aber ich wage es nicht, dem Arzt in die Augen zu sehen, oder auf Noah zu warten. Die Gefühle, die mich wegen des Beinahe-Kusses überrennen, rauben mir den Atem. Ich bin vollkommen durch den Wind und hasse mich so sehr dafür, dass ich vor ihm davonlaufe. Aber ich will ihm nicht zeigen, wie sehr mich die Situation mitgenommen hat. Denn das hat schließlich nichts zu bedeuten, das alles hat nichts zu bedeuten. Warum sollte es auch? Ich bin nur Lia.

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