22 - Perlorange
▷ Kings of leon - Closer ◁
Den gestrigen Nachmittag habe ich nur noch verschwommen in Erinnerung. Herr Zesinski hat versucht, mich zu beruhigen. Als er aber gesehen hat, dass dies nicht funktioniert, hat er eine Kollegin aus der Klinik angerufen, die mich abgeholt hat. Noah ist währendessen nicht von meiner Seite gewichen. Das Schuldgefühl war spürbar und fast greifbar. Ich ertrug es nicht, dass er sich schuldig fühlte. Für ihn war es nur ein Spaß. Er konnte nicht wissen, was das Wasser in mir auslöst. In der Klinik angekommen, wurde ein Gespräch mit mir geführt, das ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung habe. Ich habe mein Bedafsmedikament genommen und mich sofort ins Bett gelegt. Noah hat mich bis zur Tür gebracht und stand verloren davor. Leonie hat ihn mit rausgezogen und vermutlich mit ihm gesprochen, damit er sie über das Geschehene informiert. Das Medikament wirkte relativ schnell und ich döste weg. Leonie brachte mir Abendessen, das ich allerdings üerhaupt nicht anrührte. Ich hatte nicht einmal die Kraft zum Rauchen. Ich blieb im Bett liegen und ertrank in meinen Tränen, die nicht aufhörten zu fließen. Ich schlafe kaum, drehe mich nur hilfslos hin und her. In den Raucherraum traue ich mich nicht, aus Angst, Noah zu sehen. Ich würde es jetzt nicht ertragen, in seinem kalten Schweigen zu sitzen. Auch wenn ich nicht weiß, ob sein Schweigen noch immer so eiskalt ist wie am Anfang. Es nervt, dass ich nicht schlafen kann.
Dementsprechend ist meine Laune auch am heutigen Tag. Und mir graut es vor der Gruppentherapie. Ich habe Angst, dass mein gestriger Auftritt ein Thema wird. Ich habe keine Lust zu reden. Ich kann das nicht. Nicht vor allen. Das Frühstück lasse ich auch aus. Ich schnappe mir nur meinen Kaffee und begebe mich vor die Tür. Vor dem Speisesaal stehen bereits die üblichen Verdächtigen. Auch Noah ist da und unterhält sich mit einigen Jungs aus seiner Gruppe. Als er mich entdeckt, kommt er sofort auf mich zu. Mir ist es wahnsinnig unangenehm, dass er mich in einem meiner schwächsten Momente erlebt hat. Ich kann nicht zurückweichen, denn wenn ich noch einen Schritt täte, würde ich im Busch landen. Und das wäre bei meinem Gewicht leider so gar nicht gut für den lieben Busch.
"Hey, Dalí. Wie fühlst du dich?"
Ich trinke einen Schluck von meinem Kaffee und nicke nur. Der Mut, ihm in die Augen zu sehen, fehlt mir. Ich möchte nicht, dass er sieht, wie es mir geht. Man kann in den Augen der Menschen oftmals viel zu viel lesen.
Er legt seine Hand unter mein Kinn. "Lia, bitte sieh mich an." Seine Stimme ist sanft, aber er spricht mit Nachdruck.
Ich gebe nach und sehe ihn an. Seine Stirn ist gerunzelt und seine Augen sind dunkel. Genauso wie die Augenringe unter seinen Augen. Als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er sieht komplett so aus wie ich mich fühle. In seiner Nähe fühle ich mich so schutzlos wie noch nie. Obwohl er keinerlei Ahnung hat, was da unten im Wasser mit mir passiert ist, so habe ich dennoch das Gefühl, er weiß es ganz genau. Eine nicht greifbare Agression wappt immer wieder über den Rand meiner ruhigen Seite. Wie ein Meer im Sturm. Ich bin wütend, dass man mich so gesehen hat; wütend, dass ich das Trauma noch immer nicht überwunden habe. Mein Schweigen schwebt über uns, wie eine Wolke aus Gift und wabert durch alle Ritzen. Seine Augen erforschen meine und ich habe das Gefühl, als könnte er mir direkt in meine Seele sehen. Ich schlage meine Augen nieder, weil ich Noahs Blick nicht Stand halte.
Jemand räuspert sich und Noah nimmt sofort die Hände von meinem Gesicht. Mir war gar nicht bewusst, dass er es immer noch in seinen Händen gehalten hat.
"Herr Eisold, wie Sie vielleicht wissen ist es Patienten nicht gestattet, körperliche Nähe zu anderen Patienten aufzubauen."
Noahs Blick verdunkelt sich. "Entschuldigen Sie, Herr Petzolt, aber wie Sie vielleicht erkennen können geht es Frau Großmann nicht besonders gut und ich versuche gerade für sie dazu sein - was Ihrem Therapeutenteam ja offensichtlich nicht wirklich gut gelingt." Er richtet sich zu seiner vollen Größe auf, macht seinen Rücken gerade und überragt Herrn Petzolt um einen ganzen Kopf. Er wirkt bedrohlich, wie seine Augen auf den Millieutherapeuten herabfunkeln. Dieser fühlt sich merklich unwohl und geht einige Schritte zurück.
"Ich wollte das nur klarstellen, Herr Eisold. Bitte denken Sie daran."
"Es ist absurd, uns sowas zu unterstellen. Herr Eisold hat ja bereis mehrmals deutlich gemacht, dass ich definitiv nicht sein Typ bin. Von daher wird hier niemals, auf gar keinen Fall, irgendwas laufen. Machen Sie sich keine Sorgen." Ich verschränke die Arme und sehe den Therapeuten der Jupiter-Gruppe gelangweilt an.
Dieser nickt und lässt uns endlich wieder in Ruhe.
"Entschuldige bitte, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Ich habe nicht nachgedacht." Noah beißt nervös auf seiner Unterlippe herum.
"Alles gut. Komm jetzt, die Millieutherapie fängt gleich an."
"Oh, was hab ich Bock", mault Noah und geht voraus, den Weg zu den Gruppenräumen entlang.
"Frau Großmann, wie mir zu Ohren gekommen ist, widerfuhr Ihnen gestern etwas beim Schwimmen." Frau Koch sieht mich wissend an und wirft Herrn Zesinksi einen Seitenblick zu. Na super.
"Alles gut."
Herr Zesinski schüttelt den Kopf. "Das war es nicht, Frau Großmann, das habe ich gesehen. Vielleicht sollten Sie die Gruppentherapie heute Nachmittag nutzen um darüber zu sprechen. Ich würde es Ihnen raten."
Ich nicke und unterdrücke ein Stöhnen. Bitte nicht.
Das Mittagessen erlebe ich wie in Trance. Zu groß ist meine Angst vor der bevorstehenden Therapiesitzung. Anett zwingt mich dazu, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen. Komisch, normalerweise esse ich wie ein Scheunendrescher, wenn ich Stress habe oder es mir nicht gut geht. Gerade bekomme ich aber kaum einen Bissen hinunter. Schließlich ist es soweit und ergeben mache ich mich auf den Weg zu den Gruppenräumen. Unserer ist leer. Ich setze mich genau gegenüber von Noahs Bild und starre es an. Der Raum füllt sich nach und nach. Noah sitzt unter seinem Bild, mir gegenüber und starrt mich aus seinen blauen Augen an. Kurz nach 15:00 Uhr erscheinen die Therapeuten. Frau Mechter trägt einen perlorangenen Cardigan, dessen Farbe mich völlig fasziniert. Wie schön muss es sein, damit eine Leinwand zu bemalen?
"Guten Tag, meine Damen und Herren. Gibt es heute jemanden, der erzählen möchte?" Frau Mechter sieht auffordernd in die Runde, ich starre konzentriert auf den Boden, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden.
Schweigen legt sich über die Gruppe, die letztendlich von niemandem geringeren als Noah gebrochen wrid.
"Ich finde, Frau Großmann sollte sprechen."
Mein Blick schnellt hoch. Könnte ich mit ihm töten, wäre Noah bereits tot in seinem Stuhl. Das darf doch nicht wahr sein. Ich schüttle den Kopf.
"Doch, Lia. Du solltest über das von gestern sprechen - und die Ursache." Er lehnt sich nach vorne.
"Lass doch bitte gut sein, Noah."
"Nein, Lia. Sprich. Bitte."
"Ich bin eher der Meinung, Herr Eisold sollte sprechen." Meine Stimme ist scharf und Noah lehnt sich angespannt in seinem Stuhl zurück. "Dazu muss man sich aber erst einmal öffnen."
"Wie meinen Sie das, Frau Großmann?" Herr Dr. Vitas hat unseren Schlagabtausch neugierig beobachtet.
"Naja. Herr Eisold ist ja dafür bekannt, sich hinter seiner beschissenen Mauer zu verstecken und andere von sich zu stoßen."
Ich kann Noah ansehen, wie er sich mir gegenüber wieder vollkommen verschließt. Ein harter Gesichtsausdruck nimmt den Platz ein. Und ich weiß in der Sekunde, dass es falsch ist, dass ich alles an ihm auslasse. Er, der mir nur in den Arsch treten will, endlich zu sprechen. Aber ich brauche ein Ventil. Diese Aggression macht mich völlig verrückt.
"Frau Großmann, mäßigen Sie Ihren Ton, bitte."
"Ist doch so. Er giftet jeden an und schubst jeden weg, der nett zu ihm ist."
"Als wäre jemand nett zu mir", giftet Noah.
Erbost sehe ich ihn an. "Ja, ich zum Beispiel."
Noah lacht nur und schüttelt den Kopf.
"Es würde dir wirklich helfen, wenn du mal deinen Mund aufmachst, Noah."
"Das bezweifle ich", entgegnet er nur und sieht mich warnend an.
"Vielleicht erzählst du endlich mal von dir, von deiner Vergangenheit. Ich vermute ja, du wurdest von irgendjemandem so scheiße verletzt, dass du deswegen die Mauer hochgezogen hast." Meine Stimme ist rot vor Wut und Aggressionen. Aber ich kann mich nicht stoppen. Ich kann mich nicht daran hindern, die zarten Bande, die sich zwischen Noah und mir entwickelt haben, mit meinen Worten zu kappen.
"Lia", knurrt Noah mahnend. Seine Augen sind schwarz vor Wut.
Doch ich habe mich in Rage geredet. "Also wäre das ein Ratespiel, würde ich tippen. Und zwar auf deinen Vater."
"Grenze." Noahs Hände sind zu Fäusten geballt, so sehr, dass das Weiße hevortritt.
"Hat er dich geschlagen oder missbraucht, Noah?", frage ich, denn ich merke, dass ich kurz davor bin, ihn zu knacken. Oder zu brechen. Ich weiß es nicht. Ich bin in einem Film und alles ist mir egal. Es ist mir scheiß egal, dass ich ihn gerade verletze und Wunden aufreiße, die er sorgsam zugeklebt und verarztet hat. Ein kleiner Teil von mir weiß, dass es falsch ist; dass es unfair ist. Aber ich kann nicht aufhören.
"Halt endlich die Fresse." Seine Augen schimmern. Und irgendwas piekt in mir. Irgendwas weht aufgeregt mit roten Fahnen. Als Warnung. Aber ich spreche weiter.
"Ja, vermutlich hat er das. Und deswegen schenkst du niemandem dein Vertrauen. Wie sollst du auch jemandem vertrauen können, wenn dich dein eigener Vater so behandelt?" Meine Stimme hallt durch den Raum. Die anderen sind still und starr vor Schreck.
"Frau Großmann, es reicht!" Frau Mechters Stimme poltert durch den Raum und ich erstarre.
Noah springt auf. Seine Augen sind mit Tränen gefüllt. "Du weißt gar nichts. Gar nichts weißt du. Fick dich einfach", schreit er.
Und dann wird mir mit einem Schlag bewusst, dass ich zu weit gegangen bin. Viel zu weit. Die Tür fällt knallend ins Schloss und es legt sich ein kaltes Schweigen über die gesamte Gruppe. Niemand sieht mich direkt an, alle starren auf den Boden.
"Jemand sollte nach ihm sehen", bemerkt Sabine.
Ich springe auf. Es ist mein Fehler, dass es ihm scheiße geht.
"Ich denke nicht, dass Sie nach ihm sehen sollten, Frau Großmann." Herr Dr. Vitas sieht mich ernst an.
"Doch, genau das denke ich. Es tut mir so leid, Leute. Ich ... fuck."
Fahrig öffne ich die Tür und gehe, so schnell ich kann, in Richtung Raucherpavillon. Aber da ist er nicht. Mit zitternden Fingern streiche ich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Fieberhaft überlege ich, wo er sein könnte. Gerade als ich zum Haus zurückgehen möchte, höre ich ihn. Oder besser gesagt sein Schreien. Gänsehaut überzieht meinen Körper und ich laufe, so gut ich kann, in die Richtung, aus der seine Schreien kommen. Ich laufe durch den tiefen Wald, stolpere über Wurzeln und Äste, schramme mit meinen Beinen an Dornen entlang. Aber all das kümmert mich nicht. Nur Noah ist jetzt wichtig. Es ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld.
Ich finde ihn, wie er sich mit einer Hand an einem Baum abstützt. Er zittert am ganzen Körper. Meine Schritte waren nicht zu überhören und trotzdem dreht er sich nicht um.
"Geh weg", knurrt er.
Ich schlucke. "Noah, ich-"
"Verpiss dich!", schreit er und dreht sich um. Er weint. Tränen fließen unaufhörlich über seine Wangen. Seine Unterlippe bebt, seine Hände zittern. Die Knöchel an seiner Faust sind blutig. Es scheint, als hätte er gegen den Baum geschlagen.
"Noah, bitte. Bitte komm mit mir mit, wir holen dir Hilfe. Und deine Hand muss verbunden werden."
Er schüttelt den Kopf. "Lass mich in Ruhe, Lia. Ich kann auf deine Art von Hilfe getrost verzichten", spuckt er mir vor die Füße.
Langsam, als würde ich auf ein Reh zugehen, gehe ich auf ihn zu. Er starrt auf den Boden und wischt sich immer wieder wütend die Tränen von den Wangen.
"Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich ... hatte Angst."
Noah sieht mich langsam an. Sein Blick wandert von meinen Füßen zu meinem Gesicht. Ein trauriges Lächeln stiehlt sich ihm auf sein Gesicht.
"Und dann musstest du mich derart an den Pranger stellen?" All die Wut in seiner Stimme ist verschwunden.
Ich fahre mir mit meinen Händen über das Gesicht. "Es tut mir leid, Noah. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Wahrscheinlich der Teufel höchstpersönlich. Aber bitte komm' wieder zur Klinik."
Er nickt und schweigt. Er scheint zu überlegen. Schließlich sieht er mich wieder direkt an.
"Weißt du, Lia. Genau das ist das Problem. Genau das ist der Grund, warum ich dir von Anfang an aus dem Weg gehen wollte. Warum du mich so wütend gemacht hast. Warum ich dich so weit weg von mir haben wollte, wie nur irgendwie möglich." Seine Stimme ist ein Flüstern, das von den Geräuschen des Waldes untermalt wird.
"Was meinst du?", erkundige ich mich und klinge bei Weitem souveräner als ich mich fühle.
"Bei dir wusste ich von Anfang an, dass du gefährlich bist."
Verwirrt blinzle ich und möchte mich gerade nach der Bedeutung seiner Aussage erkundigen, da spricht er weiter.
"Du siehst einen an, Lia, mit deinen hübschen braunen Augen und man ist dir ausgeliefert. Du siehst alles. Du siehst einem direkt in die Seele. Du siehst die Dunkelheit und den Abgrund. Egal wie oft ich dich wegschubse, du stehst einem ohne irgendwelche Urteile gegenüber. Und obwohl es mir so sehr Angst gemacht hat, wollte ich nichts mehr, als in deiner Nähe sein. Verrückt nicht?"
"Was?" Sein gesagtes sackt nur langsam in mein Hirn, wo es in Schneckentempo verarbeitet wird.
"Du siehst mich, Dalí. Nicht die Tattoos, nicht das Piercing, nicht meine Mauer. Du siehst mich. Und das macht Angst. Weil du mich dazu bringst, mich mit mir selbst zu konfrontieren."
"Noah, ich-"
"Da seid ihr ja endlich!" Aaron kommt mit schnellem Schritt auf uns zu und, so gern ich ihn auch habe, in diesem Moment könnte ich ihn erschlagen.
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Einige von euch haben mich darauf hingewiesen, dass die Info bezüglich des Körper-Beziehungs-Kontakt-Verbotes gefehlt hat - ihr habt Recht. Ich habe jetzt im Kapitel 03 und 18 jeweils eine Info diesbezüglich eingestreut. Ich habe das leider total übersehen. Ugh. Sorry.
Danke, dass ihr immer noch hier seid. ♥
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