Kapitel eins
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?!" Ich drehte mich um und sah, wie sie gerade mit tränenüberströmtem Gesicht mit der Hand ausholte, um die nächstbeste Fensterscheibe einer Kleidungsgeschäfts einzuschlagen. Die Besitzerin sprintete bereits hinter der Theke hervor und schrie etwas, dass ich durch die geschlossene Tür zwar nicht verstehen konnte, die Lippenbewegungen ließen jedoch eindeutig auf ein lautes „Stooop!" schließen. Ohne darüber nachzudenken rannte ich zu dem Mädchen, schlang meine Arme um ihren Brustkorb und zog sie zu mich auf den Boden. Nur Sekunden später wurde die Türe des Geschäfts aufgerissen und die Besitzerin stürmte schimpfend zu uns. „Was fällt dir eigentlich ein MEINE Scheibe einzuschlagen? Sag mal, geht's dir noch gut? Verschwinde auf der Stelle oder ich hole die Polizei!" Ihrer Körperhaltung und Stimmlage nach meinte sie das todernst. Ich schob das Mädchen von mir runter, rappelte mich von Boden auf, lächelte die Verkäuferin noch kurz an, um sie zu beruhigen, und griff dann nach der Hand des Mädchens um sie von diesem Schauplatz, wo sich schon ein Haufen Leute eingefunden hatte, die alle gafften, tuschelten und uns mit ihren Smartphones filmten, in die nächstbeste Nebengasse zu zerren, wo wir uns dem ganzen Geschehen in Ruhe widmen konnten.
Noch immer weinend setzte sie sich auf die Stufen eines heruntergekommenen Hauseingangs, schlug anschließend die Hände ins Gesicht und stieß einen so grellen Schrei aus, dass ich vor Schreck fast in das parkende Auto hinter mir gestolpert wäre. „Hey, hey, alles gut. Ich bin da, alles ist gut, es ist vorbei", versuchte ich sie zu beruhigen. Und es half. Wenigstens ein bisschen, denn sie hob ihren Kopf aus den Händen und blickte mich an. Wäre ich mit der Situation nicht vollkommen überfordert gewesen, hätte ich vermutlich aus Mitleid ebenfalls angefangen zu heulen, denn sie sah mit ihren aufgequollenen und roten Augen aus wie ein Haufen Elend. Ein Schluchzer entkam ihren Lippen, dann hustete sie und sagte: „Danke." – „Danke wofür? Dass ich dich vor einer Straftat bewahrt habe?", fragte ich spaßhalber. „Auch", antwortete sie mit einem leichten Schmunzeln, „aber einfach dafür, dass du da bist. Die Schwester hat gerade angerufen – meine Oma ist gestorben." Dann begann sie zu zittern und die Tränen flossen wie ein Wasserfall. Ich war betroffen und wusste nicht was ich sagen sollte, denn ich hasste es, auf so eine Aussage mit „Ooh, mein Beileid" zu antworten. Doch glücklicherweise war der Heulanfall diesmal kurz und sie begann, mir die ganze Hintergrundgeschichte zu erzählen. Dass ich ein Fremder war, der sie vorhin zu Boden gezerrt hatte, schien sie bereits vergessen zu haben. Oder sie hatte es nur bewusst verdrängt, jedenfalls brauchte sie in diesem Moment jemanden zum Reden und dieser Jemand war ich.
„Sie war so ein toller Mensch, immer für mich da, witzig und einfach", sie seufzte, „ja, einfach unbezahlbar. Und jetzt ist sie weg, einfach so, von einer Sekunde auf die andere, Puff! Als wäre sie ein Luftballon, den irgendwer mit einer Nadel aus Spaß zerstochen hat." Ich nickte und sie erzählte weiter. „Es ist ja *schnief* nicht so als wäre ich insgeheim nicht auch erleichtert, dass es endlich vorbei ist. Immerhin hat sie lange gekämpft und gelitten und im Endeffekt war eh allen klar, dass das alles jetzt dann mal zu Ende gehen würde. Aber ich habe nicht gedacht, dass es dann doch so weit kommt oder diesem Gedanken zumindest erfolgreich verdrängt." Sie lachte kurz. „Was war ich dumm. Ein dummes kleines Irgendwas, das nicht weiß, was es will, was es tun soll – ich sitze hier gerade mitten auf der Straße und heule wie ein kleines Kind und irgendein Fremder hört mir zu. Das ist echt..." – „Seltsam?", versuchte ich die Welle an Selbstmitleid zu stoppen. „Aber das ist irrelevant. Wenn es dir damit besser geht, dann tu es einfach. Scheiß doch auf die andern, du bist ein eigenständiger Mensch, der seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse hat." Überrascht von dieser Rede sah sie auf, blickte mir fest in die Augen und fragte: „Wer bist du?" Diese einfache Frage überraschte mich, denn mit so einem raschen Themenwechsel hatte hier vermutlich keiner gerechnet.
„Ehm", stammelte ich, „ich bin Paul." „Und du?", fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu. „Martha", war sie Antwort. „Schöner Name, nett dich kennenzulernen." – „Danke, aber lass die Floskeln, das führt sowieso zu nichts." – „Na dann Themenwechsel: Was machen wir jetzt? Soll ich dich nach Hause bringen? Oder willst du was essen und noch ein bisschen reden?", fragte ich in der Hoffnung, ... ja in welcher Hoffnung eigentlich? Dass sie sagen würde „Oh, du mein Retter", und dann die Arme um mich schlingen würde um mich zu küssen? Iiih, nein danke. Ich wollte keine fremden Lippen auf den meinen haben, das war ja ekelhaft. Ich verstand nicht, wie das meine Freunde im Club daran reizend fanden mit wildfremden Menschen rumzumachen. Man möchte gar nicht wissen, wie viel ... Zeug man da austauscht, aber mein Gehirn meinte, immer genau das tun zu müssen.
Eine halbe Stunde später setzten wir uns im Stadtpark die die Wiese neben die Schaukeln und aßen das vorhin gekaufte Obst. Ich hatte beschlossen, dass Essen eine ablenkende und zugleich beruhigende Wirkung hat, und somit machten wir auf unserem Weg in den Park einen schnellen Abstecher zum nächsten Supermarkt, um uns einen Apfel, eine Banane, ein paar Erdbeeren und eine Tasse Himbeeren zu kaufen, die wir dann mit meinem Taschenmesser, das ich zufällig dabei hatte, in kleine Stücke schnitten und im Erdbeerkarton zu einem Salat mixten. Wir – oder genauer gesagt ich – war dann doch zu geizig, um mir eine bereits fertige Mischung zu kaufen, denn da war das Preis-Leistungs-Verhältnis meiner Meinung nach unzufriedenstellend. Diese Dinger kosten viel zu viel und mit unserer Methode konnten wir nicht nur die Kiwis aus dem Salat verbannen (diese Unart, wer mag denn geschnittene Kiwis? Die löffelt man!), sondern auch eine größere Menge an Obst essen. Und Obst ist schließlich gesund, somit war nichts falsch daran.
„Magst du eigentlich Ananas?", fing ich ein Gespräch an. „Ja prinzipiell schon, aber meine Zunge tut danach immer so weh." – „Das liegt daran, dass die Ananas eigentlich nicht gegessen werden möchte und dich deshalb auffressen will.", belehrte ich sie. „Aber dagegen kannst du einfach Salz auf die Stücke streuen, dann schmeckt sie nicht nur besser, sondern ist auch angenehmer zum Essen." Sie sah mich angeekelt an: „Iuh, das machst du aber nicht, oder? Ich mein, Salz ist für pikante Sachen da und nicht, dass man es auf Obst streut." Ich seufzte. Die Leute verstanden nie, dass das echt gut schmeckte. Als ich es das erste Mal ausprobiert hatte, war ich auch sehr skeptisch, aber seitdem...nie wieder ohne Salz! Das gibt dem ganzen erst das gewisse Etwas. „Dann magst du bestimmt auch Pizza Hawaii?", sagte sie und sah mich mit suspektem Blick von der Seite an, während sie sich ein Erdbeerstück in den Mund schob. Ich nickte stumm und wünschte mir insgeheim, ich hätte dieses Gespräch nicht begonnen. Denn wenn es auf diese Frage hinauslief gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde man anerkannt, oder man bekam einen angeekelten Blick und ein „Wie kannst du nur?". Das spaltete ganze Familien und hatte manchmal den Anschein, das Potential zu haben eine Freundschaft zu beenden.
„Naja, jedenfalls", sagte ich, „sind Geschmäcker verschieden. Du musst es ja nicht mögen, ich würde dir nur raten, es einmal auszuprobieren. Vielleicht findest du ja Gefallen daran." – „Ich glaube kaum, aber danke für den Tipp.", antwortete sie und nahm sich ein Stück Banane. „Hast du heute eigentlich noch was vor?", fragte sie dann, nachdem sie runtergeschluckt hatte. „Ehm nope hab ich nicht. Warum? Hast du leicht noch was vor?" – „Nur so eine Frage, aus Interesse. Und nein, ich hab ebenfalls frei.", sagte sie. „Was machst du eigentlich so? Arbeitest du?" – „Ab und zu ja. Aber hauptsächlich bin ich Student. In Mathe", antwortete ich. „Aber ich bin nicht so sozial inkompetent wie das Klischee, ich bin halbwegs verträglich und bin auch ab und an mal draußen an der frischen Luft. Aber ja, ich sehe öfter griechische Buchstaben in Dingen, als es mir lieb ist." – „Kein Problem, ich bin offen gegenüber Naturwissenschaften. Ich finde das sogar spannend, das hat mir schon in der Schule gefallen." Sie lächelte leicht. Inzwischen hatte ihr vorhin blasses Gesicht wieder Farbe angenommen und die Tränenspuren waren kaum noch zu sehen. „Ich studier gerade Chemie, das ist echt spannend. Und im Labor kann ich jede Menge Substanzen zusammenmischen. Wenn du daran Interesse hast – ich kann dir das nur empfehlen." – „Spannend, ist nur nicht so meins. Ich habe keine Übung in praktischen Arbeiten weißt du", sagte ich. „Ach, das ist kein Problem, du bekommst am ersten Tag eine super Einschulung und die Experimente sind auch nicht so schwer. Das Ganze ist ziemlich aufbauend und du lernst jedes Mal was dazu. Außerdem sind die Chemikalien im Einstiegslabor relativ harmlos. Und wenn du gut aufpasst, dass verätzt du dir auch nichts. Ist mal einer passiert", fügte sie hinzu. „Aber es ist nichts Schlimmeres passiert. Das ist ein Fall von 1000, in denen alles gut läuft." – „Na dann", sagte ich, „werde ich das mal in meine Liste aufnehmen. Kannst du mir das aufschreiben sonst vergesse ich es noch."
Und ich schwöre, dieser Satz war nicht dazu gedacht, ihre Handynummer zu bekommen. Wirklich. Zumindest im ersten Moment nicht. Mir wurde es erst bewusst, als sie ihr Telephon rausholte und mich aufforderte, meine Nummer einzuspeichern, damit sie mir den Link zur Lehrveranstaltung schicken konnte.
Ich bedankte mich nochmal für den Tipp und dann aßen wir schweigend den letzten Rest unseres Obstsalates auf. „Übrigens, weil es mir gerade eingefallen ist: Heute am Abend gibt es ein Fest auf der Uni – magst du mitkommen?" Ein bisschen Ablenkung ist sicher nicht schlecht, dachte ich, sagte aber nichts. Sonst wurde sie an die Momente vor zwei Stunden erinnert und das wollte ich mit allen Mitteln verhindern. „So ein richtiges Mathefest?", fragte sie und fügte als Erklärung aufgrund meines fragenden Blickes noch hinzu: „Was macht ihr da? Rumsitzen und Gleichungen lösen? Seltsam zur Musik tanzen?" – „Nein, zumindest ich nicht. Ich bin musikalisch, das fällt mir nicht schwer. Aber es gibt Leute, die halbnackt auf den Tischen tanzen." – „Solange sie sich nicht ganz ausziehen", lachte sie. „Ich gehe da meistens einfach nur schnell vorbei, das interessiert mich kaum." – „Wirklich?" Ich nickte. „Okay. Scheint, als hättest du andere Vorlieben als die Leute, die ich kenne." Ich erkundigte mich nochmals nach heute Abend. „Also was ist, kommst du mit? Ich gehe wahrscheinlich mit ein paar Freunden hin." – „Sind die so wie du?", fragte sie. „Naja", antwortete ich, „niemand ist exakt so wie ich. Aber ja, sie denken so ähnlich wie ich. Also um halb sieben bei mir?", fragte ich. „Geht in Ordnung", antwortete sie, „wo wohnst du?" – „Schreiberplatz 8, Tür 7. Es gibt keinen Lift, also musst du die 86 Stufen zu Fuß gehen. Wenn du rein kommst geh weiter in den Hof und dann links zur roten Tür. Ich schicke dir nochmal die Adresse. Zur Sicherheit." Sie bedankte sich. Nachdem wir das Obst aufgegessen hatten, warf ich die improvisierte Schüssel in den nächsten Mistkübel und putzte mein Messer ab. Als ich mich gerade wieder setzen wollte, stand sie auf und nahm ihre Tasche. „Brechen wir auf?" – „Ja. Wo musst du hin?", erkundigte ich mich. „Zur U4", war die Antwort. „Hey, ich auch." Während wir uns in Bewegung zur nächsten Ubahnstation machten fragte ich, in welche Richtung sie denn fahren würde. „Richtung Martinstherme", sagte sie. „Also in die Gegenrichtung", stellte ich fest. „Ich muss nach Am See". Sie lachte kurz, dann war sie still und wirkte plötzlich wieder ein bisschen traurig, wie sie auf den Boden blickte und den Kopf leicht nach unten hängen ließ. Ich fand es zu aufdringlich „Alles gut? Du wirkst so abweisend" zu fragen, da ich das nur meine Mitbewohner fragte, wenn man ihnen ansah, dass sie einen richtig schlechten Tag gehabt hatten.
Bei der Station angekommen wollte ich mich schon von ihr verabschieden, jedoch bekam ich das Gefühl, ich sollte meinen Satz von vorher doch aussprechen. Ich zwang mich dazu, dieses zu ignorieren – es wird schon nichts sein, vielleicht geht sie immer so oder das ist so ihre Art – und umarmte sie kurz. Wir wandten uns voneinander ab und gerade als ich die Stiegen zur Station hinunter ging hörte ich meinen Namen. „Paul?" Ich drehte mich um und sah Martha an, wie sie am Stiegenanfang stand und mich verlegen ablickte. „Es gibt da ein Problem." – „Du hast deinen Schlüssel vergessen und es ist keiner zu Hause?", fragte ich. „Nein, das nicht. Obwohl...so ähnlich, ja. Kann ich eventuell mit dir mitfahren?" – „Ja natürlich", antwortete ich und lud sie mit einer Handbewegung zum Mitfahren ein.
„Hallo, ich bin wieder da. Zieht euch was an, wir haben Besuch." Ich streifte meine Schuhe von meinen Füßen, legte meine Jacke ab und stellte meinen Rucksack neben mein Bett in mein kleines, aber sehr bequemes Zimmer. „Hier wohne ich", rief ich in den Gang zwischen unseren einzelnen Zimmern und der Eingangstüre, wo Martha gerade ihre Schuhe verstaute. „Fühl dich wie zu Hause. Da rechts ist das Klo im Bad. Hier ist die Küche." Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die Tür gegenüber von meinem Zimmer. „Da drüben wohnt Thomas und neben mir ist Martins Zimmer. Eigentlich sollten sie da sein", sagte ich und klopfte an Martins Tür. „Ja?", kam seine Stimme von innen. „Hast du was an? Bist du allein?", fragte ich spaßhalber. „An hab ich was, ja, allein bin ich nicht, nein, aber komm ruhig rein." Er öffnete die Tür und ich erblickte seine Freundin auf seinem Bett. Ja, unser Martin war glücklich vergeben. Wenn seine Freundin da war, hing meistens ein Zettel an der Kühlschranktüre, mit der Aufschrift: „Anziehen! Nadja ist da!" Auch wenn es vielleicht so wirken sollte, wir waren keine Nudisten-WG. Ab und an ging jemand vom Bad unbekleidet in sein Zimmer, wenn er seine Kleidung dort vor dem Duschen vergessen hatte. Und im Sommer liefen wir alle in Boxershorts herum, eventuell mit Shirt. Aus wärmetechnischen Gründen.
„Habt ihr Hunger?" Thomas streckte den Kopf aus der Küche. „Nein danke, wir haben vorher gegessen", antwortete Martha. „Ich bin übrigens Martha und du musst Thomas sein, hab ich Recht?" – „Ganz genau. He, Paul, ist das deine Neue?", fragte es mit einem Zwinkern. „NEIN verdammt, man kann auch ohne dasselbe Geschlecht zu haben befreundet sein, okay?" Ich wurde ein wenig rot, da mir diese Frage höchst unangenehm war. Und ich es hasste, wenn man mich danach fragte, wo denn meine Beziehung wäre. Ich war alleinstehend und stolz darauf.
„Frag am besten nicht wie es ihr geht oder wie wir uns kennengelernt haben", warnte ich Thomas. „Hab verstanden, ich werde es vermeiden. Kommst du nachher noch Miracle testen?" Miracle war ein Spiel, das sich momentan noch in der Beta-Phase befand und für das gerade eine App entwickelt wurde. Es stammte aus den Fingern von Martin, der nicht nur eine gutaussehende und äußerst sympathische Freundin hatte, sondern auch ein begabter Informatikstudent war und in seiner Freizeit mit Feuereifer an Miracle bastelte. Momentan war die Anzahl der Nutzer überschaubar und stammte hauptsächlich aus seinem Studiengang, zusätzlich konnten wir mittels Anzeigen im Internet auch ein paar fremde Spieler gewinnen. Das Prinzip von Miracle war einfach – man musste Aufgaben erledigen und bekam dafür, je nach Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, eine gewisse Punkteanzahl. Derjenige mit den meisten Punkten gewann das Spiel. Wobei ich dazu sagen muss, dass es sich hierbei um eine Art never ending story handelte, es war momentan noch kein Ende vorgesehen. Martin wartete auf einen großen Spielerandrang, damit das Ganze zu einer Art richtigem Wettkampf wurde.
Das Besondere an Miracle waren die Aufgaben selbst. Sie wurden teilweise von einem eigens dafür geschriebenen Bot kreiert und andererseits (großteils soweit ich wusste) von den Spielern selbst. Eine Art Wahrheit oder Pflicht, nur ohne die Wahrheitsoption. Aber nicht nur die Aufgaben wurden in Echtzeit erstellt, auch die Aufgaben spielten sich im Real Life ab. Das war ein Trick von Martin, um seine Kollegen und den Rest der Welt zum Rausgehen und aktiv Sein zu bringen. Außerdem war dieses Konzept etwas komplett neues, noch niemand vor ihm hatte diese Idee, oder sie zumindest nicht umgesetzt. Wir waren somit in der Poleposition.
„Es läuft immer besser", begann Martin seinen Bericht, während er seine Hose anziehend in die Küche – und im Übrigen unser Wohnzimmer – humpelte. „Ich habe gestern bei der U-Bahn einen Haufen Flyer verteilt. Dein Design scheint bei den Leuten super anzukommen." Nachdem Martin zwar gut im Programmieren, aber schlecht in sämtlichen künstlerischen Sachen war, hatte er die Aufgabe das Logo von Miracle und die dazu passenden Flyer zu designen an Thomas und mich abgegeben. Nach ein paar Tagen harter Arbeit hatten wir es dann endlich geschafft und das Ergebnis war anscheinend ein Volltreffer.
„Ist das nicht irgendwie illegal so ganz allein vor einer Station Flyer zu verteilen?", fragte ich, doch Martin schüttelte nur lachend den Kopf. „Jetzt beruhige dich. Ich würde es eher eine Grauzonenaktion nennen. Nicht ganz legal, aber trotzdem im Rahmen des Gesetzes." – „Seit wann bist du denn so ängstlich, Paul?", fragte Thomas. „Ich bin nicht ängstlich", sagte ich trotzig, „bloß ein bisschen vorsichtiger als ihr. Was kochst du da eigentlich? Das riecht schon sehr gut." Mein Themenwechsel fruchtete. „Spaghetti in feiner Zitronensauce. Gans fransösische Güche", ahmte er einen Franzosen nach und zwirbelte seinen imaginären Schnurrbart. Martin sah ihn an und schüttelte nur den Kopf. „Warum machst du eigentlich keine Lehre als Koch, wenn du schon so tust als ob?" Thomas zuckte mit den Schultern. „Weil Koch echt einer der schlimmsten Berufe ist. Du stehst 10 Stunden am Tag in einem fensterlosen, feuchten und gefühlt 40 Grad warmem Raum und bist Dauergestresst, weil ständig wer was von dir will. Außerdem wirst du als Kochlehrling vermutlich kaum ein Gericht kochen dürfen, weil das kannst du ja noch nicht." Er schnaubte. „Wie auch immer du dann was lernen sollst, wenn dich keiner was machen lässt. Naja. Gastronomie halt."
„Stimmt, davon habe ich auch schon gehört", schaltete sich Martha ein. „Ein Freund von mir wollte mal eine Lehre zum Küchengehilfen machen, aber nach einem vorzeitigen Probetag hat er sich dann ganz schnell anders entschieden." – „Wieviel ist eigentlich da, Thomas?", fragte Martin. „Können ich und Nadja mitessen?" – „Du meinst Nadja und du? Ja sicher, es ist genug für alle da." Thomas war nicht nur ein hervorragender Koch, sondern auch ein Fanatiker der korrekten Grammatik. Er korrigierte immer alle. Ausnahmslos alle. Wenn jemand während er schlief einen Satz grammatikalisch verhauen würde, würde ich darauf wetten, dass er sich aufsetzt, ihn korrigiert und sich dann umdreht und weiterschläft. Ein jeder hat so seine Eigenheiten.
„Geht ihr heute auf das Fest?", fragte ich in die Runde. „Nein, ich nicht. Ich muss noch Miracle promoten. Und da noch einen kleinen Bug fixen, das ist nicht so flüssig wie ich es gerne hätte." Damit waren Martin und seine Freundin schon mal raus. Ich glaube kaum, dass sie ohne ihm mitkommen würde.
„Naja, ich muss jedenfalls noch schnell was für's Wochenende einkaufen. Bin gleich wieder da", sagte ich, nahm meinen Schlüssel und ging. Martha würde sich schon gut mit den anderen unterhalten und so lange war ich schließlich auch wieder nicht weg.
„Hey, was machst du denn da? Ist ja toll dass ich dich treffe!", brüllte mir ein Mitstudent in betrunkener Aussprache ins Ohr, um die laute Umgebung und Musik zu übertönen. „Und wer ist das? Deine Flamme?" – „NEIN, verdammt noch mal! Ist sie nicht, wir sind bloß Freunde!", erwiderte ich aufgebracht. Warum verstand das denn keiner? Warum nahmen sie alle, ausnahmslos alle, an, dass da etwas zwischen mir und Martha lief? Ich konnte und wollte es zugegebenermaßen nicht verstehen. Da zupfte sie mich am Ärmel. „Gehen wir mal eine Runde und schauen uns alles an?" Ich nickte und verabschiedete mich von meinem Bekannten. Damit wir uns nicht so leicht verloren nahmen wir unsere Hände und machten uns auf den Weg durch das Gedränge. Und ich schwöre, dass ich keine geheimen Absichten hatte, auch händchenhaltend nicht.
Die Party war riesig. Es gab stolze vier Floors mit einer Live-Bühne, einem Rave-Floor, einen Drum-and-Bass-Floor (was mich persönlich sehr freute, ich wusste schon wo ich mich nachher aufhalten würde) und eine Art Remix-Stage, auf der gar nicht so schlechte Musik gespielt wurde. Teilweise war sie sehr ungewöhnlich aber hatte ein gewisses Etwas. Die Live-Bühne wurde gerade nicht bespielt, daher gingen wir einfach an ihr vorbei und nahmen die Stiegen runter zum abgetrennten Rave-Floor. Sobald die Tür aufging, hämmerten einem Goabeats entgegen. War nicht jedermanns Sache
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