Verwirrung

Mayumi Pov:


„Hey", hörte Mayumi eine bekannte Stimme und fühlte, wie jemand an ihrer Schulter rüttelte.
„Haben wie sie umgebracht?", vernahm sie eine weitere vertraute Stimme, die einen panischen Unterton besaß.


Erneut rüttelte jemand an ihrer Schulter. „Quatsch, so schwer ist mein Physikbuch auch wieder nicht." Die Stimme kam ihr nicht nur bekannt vor, sondern war sie auch in der Lage zuzuordnen. War das etwa Saruhiko? Aber was machte er hier?


„Naja, aber schon recht dick", erkannte sie nun auch Misaki. „Deine Regale sind aber auch vollgestopft und unordentlich."


Ein missbilligendes Schnauben kam von Saruhiko. „Mein Regal ist einfach zu klein, aber das du von Unordnung sprichst? Du hast Trittfelder in deinem Zimmer vom Bett, zum Schreibtisch und zur Tür."


Langsam verschwand die Taubheit und Trägheit aus ihrem Körper und sie öffnete blinzelnd die Augen, als sie schon in die erleichterten Gesichter ihrer beiden Freunde blickte. „Also wenn es um Ordnung geht, dann verlierst du eindeutig, Misaki", kicherte Mayumi und hielt sich zeitgleich ihre pochende Stirn. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte diesen jemand genommen und mehrfach auf den Boden geschlagen. Hinzu kam ein undefinierbarer Schmerz im Bauchraum, allerdings fühlte es sich nicht an wie herkömmliche Magenschmerzen.


Sich langsam aufgerichtet, stellte Mayumi fest, dass sie der Länge nach auf dem Fußboden lag, links und recht knieten besorgt ihre beiden Freunde neben ihr, doch irgendwas war anders...
Klarte ihre Sicht immer weiter auf, erkannte sie die beiden vollständig. „Ähm...", war das Geistreichste, was sie von sich gab. Ihr Kopf brauchte einen Augenblick, um das Gesehene zu verarbeiten, und doch machte sich immer mehr Verwirrung in ihr breit. Hier stimmt doch etwas nicht. „Ihr... wieso... hä?" Wieso trugen die beiden ihre Mittelschuluniform? Und Saruhikos schwarze Haare lagen glatt an seinem Kopf und Misaki trug sein schwarzes Kopftuch nicht.

 Generell sahen die beiden aus, wie in dem letzten Jahr unsere Zeit in der Mittelschule.

Abgesehen davon, dass die beiden deutlich jünger aussahen, als sie eigentlich sein sollten. Die Gesichtszüge deutlich weicher, als hätten sie die männliche Härte die sich in den letzten beiden Jahren in ihre Mimik hinzugewonnen hatten verloren. Und das Allerwichtigste... „Ihr seid doch zerstritten." Die beiden sprachen kein Wort mehr miteinander und wenn kein geregeltes.


Nun war nicht nur sie irritiert, sondern auch ihre beiden Freunde, die sich verwundert ansahen. „Wieso sollten Saruhiko und ich zerstritten sein?", wollte Misaki wissen.


„Misaki nervt zwar, aber das ist doch kein Grund mich mit ihm zu streiten."

„Was soll das heißen, ich nerve?"


Ein amüsiertes Lächeln legte sich auf das Gesicht von Saruhiko, aber er ließ den Rest unkommentiert und das entlockte es ihrem anderen besten Freund ein frustriertes Grummeln. Mochte Misaki es überhaupt nicht, wenn Saruhiko Unausgesprochenes in der Luft hängen ließ und ihn damit ärgerte.


Während die beiden mit sich beschäftigt waren, nutzte Mayumi die Gelegenheit, um sich zu betrachten und umzusehen. Sie trug ebenfalls ihre alte Schuluniform und an neben der Tür lagen aufgetürmt ihre alten Schultaschen.


Das Zimmer war eingerichtet wie ein ganz normales Jugendzimmer mit hellbraunen Möbelstücken. In der Ecke stand ein großes ungemachtes Bett, neben dem einem bodenlangen Fenster Licht in den Raum ließ. Direkt an das Fenster schloss eine Balkontür an, aus der man einen Holzstuhl erblickte, der sich wohl auf dem Balkon befand. Weitere Fenster reihten sich aneinander und sie hockte oder lag vor einem großen Eckschreibtisch mit mehreren Monitoren und einem hochmodernen Rechner. Zusätzlich entdeckte Mayumi einen separaten Ständer für einen Laptop, den sie als den Alten von Saruhikos erkannte. Er hatte ihn früher oftmals bei sich. Neben Stiften, Collegeblöcken gab es noch mehrere eingerahmte Bilder. Am Ende des Raumes gab es dann noch besagte vollgestopfte Bücherregal. Auf den ersten Blick entdeckte sie Sachbüchern, Mangas und diversen Sammelfiguren oder ausgestopften Käfern, die sie direkt ekelig fand. Etwas abseits von allem stand eine Tür offen, die in einen begehbaren Kleiderschrank führten, der mehr schlecht als recht als ordentlich durchging. Punktum – Mayumi kannte dieses Zimmer nicht.

Es kam ihr einige Sachen vertraut vor und alles hatte sie dies irgendwie schon einmal gesehen, allerdings nie in einem unmittelbaren Zusammenhang. Kurz bevor Saruhiko sein zu Hause verlassen hatte, schlief er nur auf einer Matratze auf dem Boden und besaß keine Möbel mehr.
Weiterhin zogen sich ihre beiden Freunde grinsend und lachend auf, während sie ihre Beine anwinkelte und den rot-orange karierten Faltenrock glattstrich, ehe Mayumi aufstand. Ihr Blick blieb auf einem aufgeschlagenen Physikbuch liegen, das sie in die Hand nahm. Nach wie vor schmerzte ihr Kopf und sie richtete ihren Blick wieder auf den Schreibtisch, der den Mittelpunkt in diesem Zimmer bildete. Kopfschmerzen ließen sich wirklich durch das Buch erklären, doch woher kamen diese stechenden Magenschmerzen?


Achtsam strich sie über ihren Bauch, als würde sie durch die Berührung eine Erkenntnis erhalten, doch außer den weichen Stoff ihrer Bluse, die von zierlichen Knöpfen gehalten wurde, ertastete sie nichts.


Um sich von den Schmerzen abzulenken, betrachtete sie weiterhin das Herzstück des Raumes – der Schreibtisch. Er erinnerte sie an den Schreibtisch, den Saruhiko bei Scepter 4 besaß. Nur etwas vollgestopfter und unordentlicher und doch ... kam ihr die Maserung des Holzes vertraut vor. Selbst als sie mit den Fingern über diesen Strich – ganz glatt und minimale Unebenheiten. Als sie das erste Mal Saruhikos Zimmer bei Scepter 4 sah und genau wie jetzt über den Schreibtisch strich, verband sie diesen augenblicklich mit ihm. Warum, vermochte sie nicht einmal zu sagen.


Mit den Fingern weiter über die Oberfläche gestrichen, wanderte ihr Blick über die verschiedenen eingerahmten Aufnahmen, die am Rande des Schreibtisches standen. Sie entdeckte einige Bilder von ihren beiden besten Freunden, wie sie zusammen breit in die Kamera grinsten oder es waren lustige Schnappschüsse aus ihrem alltäglichen Leben. Oftmals war sie ebenfalls auf den Aufnahmen und dann gab es einzelne Bildern von ihnen, die sich einen großen Rahmen für mehrere Lichtbilder teilten.


Ein Bild ließ Mayumi stocken und sie ließ nicht nur das Physikbuch fallen, sondern griff direkt nach den schwarzen Bilderrahmen. „Das ist unmöglich."


„Was?", fragte Saruhiko und richtete sich selbst wieder auf, hatte er die gesamte Zeit mit Misaki auf dem Boden gehockt. Genauer gesagt auf den großen flauschigen blauen Teppich, der über dem halben Laminat lag. Bei ihr angekommen, sah er über ihre Schulter und nahm ihr das Bild ab. „Was ist damit?"


„Das bist du mit deinen Eltern", kam es vollkommen verwirrt von Mayumi. Saruhiko verabscheute seine Familie und ganz besonders seinen Vater. Irgendwann war das Verhältnis zwischen den beiden so zerrüttet, dass Saruhiko nur noch nach Hause kam, wenn sein Vater abwesend war. Selbst nachts traute er sich nicht mehr heim und schlief in einem Internet-Café, wenn er bei Misaki oder ihr nicht unterkam.


Die Verwirrung wurde erneut erwidert. „Ähm ja, wir haben es letzten Monat machen lassen." Er stellte den Bilderrahmen mit der Familienaufnahme zurück auf den Schreibtisch. „Du hast mir noch geholfen den Anzug auszusuchen und die Krawatte."


„Du hattest nie ein Familienbild von dir und deinen Eltern." Ihr Saruhiko hätte sich eher eine Kugel in den Schädel gejagt, als einmal mit seinen Eltern vor einer Kamera zu posieren.
Misaki saß weiterhin im Schneidersitz auf dem Boden und sah nur irritiert zwischen ihnen hin und her. „Was hat sie denn?"


„Keine Ahnung." Die Stirn gerunzelte, hob Saruhiko seinen Zeigefinger und hielt diesen ihr vor die Nase. „Schau mal bitte auf den Finger, Mayumi. Nicht das dein Kopf doch was abbekommen hat."


Schnaubend schlug sie den Finger weg. „Ich bin nicht verwirrt. Meinen Kopf geht es gut. Du kannst deine Eltern nicht leiden und deinen Vater verabscheust du." Dass sie fürchterliche Kopfschmerzen und Bauchschmerzen hatte, behielt sie in der seltsamen Situation für sich.
Saruhiko brauchte das >Hä?< nicht aussprechen, denn es war in seiner Mimik abzulesen.

 „Wovon sprichst du? Ja, wir hatten nie ein richtiges Familienfoto. Aus diesem Grund habe ich ihnen doch diese Fotoshooting zum Hochzeitstag geschenkt. Außerdem hasse ich meine Eltern nicht." Sich zu mir runtergebeugt sah er ihr direkt in die Augen. „Klar nerven meine Eltern, aber so sind Eltern eben, deine sind ja auch nicht besser."

„Meine Eltern sind Tod." Die konnten sie schlecht nerven.

Langsam, aber sicher kam Mayumi sich bescheuert vor, besonders als ihre beiden besten Freunde einen besorgten Blick austauschten. „Nein Mayumi deine Eltern leben", kam es langsam und gedehnt von Misaki, der sich ebenfalls aufrichtete.

„Nein", widersprach sie und ging mehrere Schritte zurück, bis sie gegen die Kante des Schreibtisches stieß. „Was ist hier los?"


Sie drehte sich hin und her und sah sich in alle Himmelsrichtungen um. Auf einmal fühlte sich der gesamte Raum falsch an. Die gesamte Situation, schlichtweg alles. Die Wände schienen sich in die Länge zu ziehen und gleichzeitig spürte sie, wie sich alles eng um sie herum anfühlte. Als Würde etwas ihren gesamten Körper zuschnüren und ihr die Luft zum Atmen nehmen.


Die Atmung von Mayumi beschleunigte sich und sie sah auf ihre Hände, die keine Tätowierung wegen der Energiespeicherung zierten. Wo zum Teufel war sie und warum trug sie ihre alte Schulkleidung und wieso waren Saruhiko und Misaki so jung? Keiner schien älter als sechzehn zu sein.


Geistesgegenwärtig griff sie in ihre Haare und stockte erneut. Seit wann waren ihre Haare so lang? Sie hatte sie nach der Mittelschule abgeschnitten und seitdem sie bei den Sünden lebte, hatte sie diese wieder wachsen lassen, allerdings lagen sie ihr nur auf ihren Schultern. Nun glitten ihre Haare ihr bis in den mittleren Rücken.


„Was hat sie?", hörte sie Misaki wie durch Watte fragen.


Saruhiko setzte sich in Bewegung. „Ich glaube sie bekommt gerade eine Panikattacke." Seine Hände umfassten ihre Schultern. „Mayumi, Atme!", wies er sie streng an und seine blauen Augen suchten ihren Blick. „Sieh mich an und atme, ein... und aus...."


Sie reagierte nicht, denn ihr blieb weiterhin die Luft weg und ihr Herz drohte gleich stehen zu bleiben, während sich eine unfassbare Angst in ihrem Körper ausbreitete. Diese erdrückende Enge um ihr Herz, als würde diesem sämtliche Kraft zum Schlagen entzogen werden und dann dieses reizende Brennen in ihrem Bauch. Sie wollte sich am liebsten Krümmen, doch sie konnte sich nicht bewegen


„Mayumi!"

Sie öffnete den Mund und doch kam kein Sauerstoff in ihre Lungen, sondern nur ein lautes Japsen verließ ihre Lippen.


„Mayumi!"


Nicht nur ihre Lunge krampfte und ihr Magen rebellierte, sondern auch ein schwarzer Rand fraß sich in ihre Sicht und verschluckte sämtliche Farben.


Plötzlich klatschte es und ein stechender Schmerz jagte durch ihre Wange – Saruhiko hatte ihr eine Ohrfeige verpasst. Der abrupte Schmerz holte Mayumi sofort zurück und als sie Saruhiko direkt ins Gesicht sah, fühlte sie, wie ihre Atmung wieder einsetzte und Luft ihre Lungen flutete.
„Ein... und Aus-atmen", kam es langsam von Saruhiko, der wieder ihre Schultern umfasste. „Einatmen... ausatmen."


Mayumi ging der Anweisung nach. Einatmen und ausatmen. Saruhiko wiederholte die Anweisung erneut und zog sie erst zu sich, um sie dann langsam in Richtung seines ungemachten Bettes zu dirigierte. „Setz dich hin."


„Wieso hast du..." Misaki war mehr als nur verwirrt und deutlich war ihm der Schock anzusehen, dass Saruhiko ihr eine Ohrfeige verpasst hatte. „Du kannst doch nicht-..."


„Hätte ich es nicht getan, dann wäre Mayumi umgekippt", erklärte es Saruhiko und richtete seinen Blick auf sie. „Tut mir leid. Ich hoffe es tut nicht zu sehr weh. Ich wusste mir nur nicht anders zu helfen." Durch diesen kleinen Schock hatte er die aufsteigende Panikattacke durch einen unerwarteten Reiz unterbrochen. Und der andere Schmerz war verschwunden... hatte sie gerade noch Bauchschmerzen? Ja, oder? Mayumi war noch mehr verwirrt als vorher.


„Schon gut. Ich merke es kaum noch", antwortete sie ihm ehrlich. Kaum berührte der Hintern von Mayumi die Matratze, wollte sie direkt wieder aufstehen, als hätte sie sich auf etwas Spitzes gesetzt. „Nein, das hier ist alles falsch. Du und Misaki seit zerstritten. Misaki ist beim roten Clan und weil er bei Mikoto geblieben ist... und... und... und duhu... du wolltest zum blauen König, deshalb bist du ein Verräter - für ihn und... und ihr habt euch heftig gestritten." Mayumi hörte selbst, dass sich ihre Stimme überschlug. „Du hast dir deine Tätowierung auf der Brust mit den Fingernägeln verbrannt, um das Band zu Misaki zu brechen." Obwohl Saruhiko protestierte, fing Mayumi an, seine Schulweste und Hemd zu öffnen. Dieses aufgezerrte, sah sie nur seine nackte Brust ohne Narbe und Tätowierung. „Das... ist unmöglich", flüsterte sie den letzten Teil des Satzes. „Sie war genau hier." Geistesgegenwärtig strich sie über die Hautstelle, als hoffte sie, dass durch ihre Berührung das rote vernarbte Zeichen von Homra auftauchte.


Ihre Handgelenke wurden Saruhiko umfasst und aus seiner Kleidung gelöst. „Mayumi ich bin nicht tätowiert und Misaki auch nicht. Wir haben uns nicht gestritten. Alles ist in Ordnung."
„Nein", widersprach sie direkt. „Du bist ein blauer Clansman." Konnte Saruhiko mal aufhören sie anzusehen, als wären gerade sämtliche Tassen aus ihrem geistigen Schrank gefallen.


„Mayumi das war ein Spiel", mischte sich Misaki ein und holte eine Pappschachtel heran. „Hier, dass haben wir heute gespielt." Er reichte ihr den Schachteldeckel auf dem ein Damoklesschwert abgebildet war. >Clansman – welchem König wirst du dienen?<


„Ein Spiel?" Das konnte nicht sein. Das war nicht möglich. Sie hielt sich den Kopf, durch den wieder ein pochendes Ziehen jagte.


Sanft legte sich die Hand von Saruhiko an ihre Wange. „Ich hatte die Spielfigur vom blauen Clan und Misaki hatte die Spielfigur vom roten Clan, du hast einen Joker gespielt, weil du dich für keinen Clan entscheiden konntest." Achtsam schielte sie über die Schulter ihres Freundes und entdeckte in der Tat ein großes Spielbrett auf dem Boden, mehrere aufgeschlagenen Hefte, Stifte, Radiergummis, Papierbögen auf denen die Überschrift >Charakterbogen< zu lesen war. „Ich glaub der Schlag auf dem Kopf war doch etwas heftiger."


Immer blieb das Gefühl in Mayumi, dass sich alles in der Situation falsch anfühlte. Zumal alle ihrer Erinnerungen, die wie ein Wirbelsturm durch ihren Kopf jagten, keine Einbildung sein konnte. Der Streit, die Clans, Mikoto, Mr. Munakata, der liebe Kusanagi, dann noch die ganzen Sünden und... ihr Blick flog zu Saruhiko, dem weiterhin die Sorge ins Gesicht geschrieben stand. Das waren alles echte Personen oder doch nicht? Das war doch alles keine Einbildung gewesen, besonders... erneut sah sie zu Saruhiko.


Konnte alle Gefühle eine Einbildung gewesen sein? Jede Berührung, jeder Kuss, jeder Liebesschwur? Nur ein Produkt ihrer Fantasie, aber warum fühlten sich die Erinnerungen daran so echt an?


Von jetzt auf gleich packte sie Saruhiko am Kragen und zerrte ihn zu sich heran, damit sie ihre Lippen auf seine pressen konnte. Das ließ sich doch leicht überprüfen.


Anders als sonst, drückten sich die Lippen von Saruhiko zusammen und er erstarrte vollkommen. Abrupt ließ er sie los und stieß sie von sich. Nicht grob, sondern nur so kräftig, dass er sich befreite. „W-was... was sollte das?" Mit dem Ärmel wischte er sich über den Mund. „Warum machst du sowas?"


Mayumi wusste nicht, aber diese Reaktion, wie er seine Hand auf seinen Mund presste, mit dem Ärmel über die Lippen wischte und sie geschockt ansah, tat furchtbar weh. Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen und schlagartig fühlte sie sich entsetzlich einsam. Die Arme um sich geschlungen, sah sie sich wieder in alle Himmelsrichtungen um. Das ist nicht real!, sprach sie sich selbst zu. Am liebsten wollte sie weinen, um den verschiedenen tobenden Gefühlen in sich ein Ventil zu geben, doch sie konnte nicht.


Misakis Mund stand so weit offen, dass er fast auf dem Boden lag. „Was ist denn mit dir los? Hast du gerade Saruhiko geküsst?"


Starrten sich alle Beteiligten an, flog auf einmal die Zimmertür auf und Niki Fushimi, der Saruhiko zum Verwechseln ähnlichsah und man ihn nur betrachten musste, um zu wissen wie Saruhiko als erwachsener Mann aussah, stand mit einem Tablet im Türrahmen „Ich hab Saft für euch und ein paar Knabbersachen", strahlte er freundlich in die Runde, ehe dieses auf seinen Gesichtszügen erstarb. „Was ist denn mit euch los?"


Absurder konnte die Lage nicht mehr sein. Dieser Mann war Tod und hatte Saruhiko das Leben zur Hölle gemacht und jetzt stand er mit Saft im Türrahmen? Wieder flog Mayumis Blick zu dem glücklichen Familienbild auf dem Schreibtisch ihres Freundes.


„Hey, antwortet mir mal", meldete sich der Vater von Saruhiko wieder zu Wort. „Was ist hier los. Ihr seht aus, als hättet ihr ein Geist gesehen."


„Sie...", fing Mayumi mit erhobener Stimme an, als Misakis Hand auf ihren Mund klatschte und damit den unfreundlichen Satz in ihrem Mundraum erstickte. „Mayumi hat ein Physikbuch auf den Kopf bekommen und jetzt benimmt sie sich komisch und hat Saruhiko geküsst."


„Den letzten Teil hättest du ruhig verschweigen können", zischte es in Misakis Rücken, ehe Saruhiko zu seinem blinzelnden Vater blickte, der jeden von den drei Jugendlichen genaustens ansah. Gerne wollte Mayumi etwas dazu sagen, doch die Hand von Misaki blieb auf ihrem Mund.
„O-okay", kam es erst einmal gedehnt von Niki Fushimi, der das Zimmer mit dem Tablet in der Hand betrat und sich umsah, wo er dieses abstellen konnte. „Erstens, Saruhiko. Es gibt deutlich schlimmeres, als von einer Freundin geküsst zu werden. Außerdem ist deine Reaktion nicht gerade nett. Sowas macht man einem Mädchen gegenüber nicht." Er sprach so normal mit ihnen, als würde er sie alle schon jahrelang kennen. Mayumi verstand überhaupt nichts mehr, nahm Niki Fushimi sie und ihr Verhalten gerade in Schutz? „Mach mal bitte etwas Platz auf deinem Schreibtisch, Saruhiko. Du hast den aber auch wieder vollgestellt."


Sofort kam Saruhiko der Aufforderung seines Vaters nach und schob die Tastatur, Maus, Mauspad und weiteren Technikkram zur Seite. „Geht?", fragte er im normalen Ton nach.
Während sie Vater und Sohn betrachtete, fiel Mayumi fast vom Glauben ab. Nein, das war niemals die Realität. Niki Fushimi war niemals nett zu ihnen gewesen. Er wollte ihnen Knallfrösche in den Mund stopfen und einmal hatte er versucht, eine Feuerwerksrakete an ihrem Haargummi anzubringen, doch noch nie hatte er ihr Saft eingeschenkt und Knabbergebäck gebracht.


„Ja, das sollte passen", bestätigtet ihm sein Vater und wandte sich dann wieder Mayumi zu. „Du hast also ein Buch auf dem Kopf bekommen?" Zu ihr gegangen, ging er in die Hocke und blickte ihr genau ins Gesicht. „Aus welcher Höhe denn?"


„Von ganz oben", erklärte Saruhiko und holte das dicke Physikbuch heran. „Sie hat sich beim Strecken zurückgelehnt und ist ans Regal gekommen."


„Wir waren nicht schnell genug, um das Buch abzufangen", ergänzte Misaki.


Niki Fushimi streckte behutsam seine Hände nach Mayumi aus, doch diese schlug die Finger von Saruhikos Vater direkt fort und rückte auf dem Bett von Saruhiko weiter nach hinten, bis sie die Wand im Rücken spürte. „Fass Sie mich nicht an."


Beide Hände in die Höhe gehoben, schien Niki sich ihr nicht weiter zu nähern, dafür kassierte Mayumi einen tadelnden Blick von Saruhiko. „Was ist denn los mit dir? Und wie gehst du mit meinem Vater um?"


„Saruhiko", mischte sich Niki ein und zeigte mit einem verstehenden Lächeln, dass alles in Ordnung war. „Also sie erzählt so komische Sachen, seitdem sie das Buch auf dem Kopf bekommen hat? War sie ohnmächtig?"


Mayumi konnte ihren Blick nicht von diesem skurrilen Bild abwenden, wie Saruhiko vollkommen normal mit seinem Vater sprach, als wäre dieser niemals ein sadistisches Arschloch, dass ihm so zugesetzt hatte, sodass dieser heute noch von Angstzuständen geplagt wurde.


„Ja, aber nur kurz", kam es besorgt von diesem.


Der Blick von Niki Fushimi ging zu dem Spiel. „Worum handelte dieses Spiel?"


„Clans, Kriege, Verschwörungen, Intrigen", erklärte Misaki und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Man schlüpft in die Rolle einer Figur und spielt dann die Storyline. Wir spielen es schon seit ein paar Tagen."


Wieder dieses Spiel... erneut lag Mayumis Blick auf dem aufgeschlagenen Spielbrett. Alles in ihr weigerte sich das zu akzeptieren, was ihr Auge erfasste. Sie wollte es nicht hören.


„Vielleicht hat der Schlag auf den Kopf, sie etwas durcheinandergebracht", sagte Niki und stand wieder auf. „Ihr Kopf war wohl zu sehr mit der Geschichte beschäftigt und mit dem Schlag auf den Kopf, hat er alles etwas durcheinandergeworfen, aber um sicher zu gehen, sollte sich das mal ein Arzt anschauen. Ich geh nach unten und rufe ihre Eltern an."


„Meine..." Mayumi wollte sagen, dass ihre Eltern Tod waren, doch keiner schien auf das zu reagieren, was sie von sich gab. Jeder in diesem Raum erklärte sie für bescheuert oder geistig verwirrt, um es freundlich auszudrücken. Auf der anderen Seite war Niki Fushimi ebenfalls Tod und stand direkt vor ihr, darüber hinaus hatte er ihnen Saft und Knabbersachen gebracht – sie kniff sich – nichts passierte.


„Ja?", fragte der Vater von Saruhiko freundlich nach und ging in die Hocke. Schien geduldig zu warten, dass sie weitersprach, doch Mayumi wollte nichts mehr von ihren verwirrten Gedanken, die sich so richtig anfühlten, preisgeben.


Auf einmal fühlte sie eine Hand auf ihrem Kopf und merkte, wie Niki ihr behutsam über den Kopf streichelte. „Mach dir keinen Gedanken, Mayumi. Sowas kann immer mal passieren. Lass lieber mal einen Arzt draufschauen." Unfähig sich zu bewegen, sah Mayumi den Mann an, den sie jahrelang als Monster kennengelernt hatte. Dieser wandte sich seinem Sohn zu und sah zu dem Regal. „Du solltest auch mal ein paar Bücher ausmisten. Ich bring dir morgen eine Kiste hoch, dann legen wir sie auf den Dachboden."


„Okay", stimmte Saruhiko zu und sah wieder besorgt zu Mayumi. „Rufst du jetzt ihre Eltern an?"


„Ja, ich denke, dass ein Arzt sich das Ganze einmal anschauen sollte, zumal sie ziemlich mitgenommen aussieht." Dessen Hand legte sich auf die Schulter von Saruhiko. „Das wird schon wieder, nimm das was sie sagt nicht so ernst. Sie ist durcheinander, aber morgen oder übermorgen ist sie wieder die Alte."


Die beiden wussten schon, dass sie hier saß und alles mithörte?


„Ich hätte nie gedacht, dass sowas ein Schlag auf den Kopf auflösen kann", meinte Misaki und sah von ihr zu dem Vater von Saruhiko. „Sie scheint, dass alles zu glauben."
Ja, weil das auch die Wahrheit war! Oder?


„Unser Gehirn ist mit das Komplexeste an unserem Körper, aber ja, so ein Schlag auf den Kopf, kann einem so durcheinanderbringen, dass man die Verwirrung glaubt, ebenso kann ein Schlag auf den Kopf auch Gedanken löschen, als auch wieder Klarheit bringen." ihre beiden besten Freunde sahen sie an und nur das Lachen von Niki Fushimi ließ sie in ihren Gedankengängen stocken. „Gebt ihr etwas Ruhe und haut ihr kein weiteres Buch auf den Kopf, ja?" Zu ihr gesehen, lächelte er sie aufmunternd an. „Ich rufe jetzt deine Mutter an."


Nachdem Saruhikos Vater den Raum verlassen hatte, starrten sie sich alle an, als würde der Erste der zuckt verlieren. Keiner sagte etwas.


Passiert das gerade wirklich? Mayumi kam nicht damit zurecht, sie fühlte sich wie eine Person, die einen falschen Film ihres Lebens sah.


Sich unschlüssig am Hinterkopf gekratzte, sah Misaki zwischen Saruhiko und Mayumi hin und her. Scheinbar fühlte sich nicht nur Mayumi fehl am Platz, besonders dieser starrende und bohrende Blick von Saruhiko ließ Mayumi nicht mehr los.


„Ich räume das Spiel mal ein." Misaki zeigte mit dem Daumen nach hinten. „Ich bezweifle, dass wir heute noch weiter machen."


„Tu das", meinte Saruhiko fast geistesabwesend, während er und Mayumi sich weiter anstarrten. Bisher hatte keiner von ihnen geblinzelt. Sie konnte nichts dagegen tun, doch ihr Herz schlug immer nervöser und hektischer in ihrer Brust. Diese blauen Augen, in die sie schon so oft verlor und nun schien nichts davon wahr zu sein. Nein! Das war alles wahr, oder? Das aktuelle Geschehen passte nicht, doch je weiter die Zeit voranschritt, desto unsicherer wurde Mayumi.


Ein Teil in ihre wehrte sich vehement gegen diese Erkenntnis, dass alles offenbar eine Einbildung war. Dieses Gefühle konnte doch keine Einbildung sein. Es war fast so als könnte sie seine Lippen auf ihren fühlen und seine Finger auf ihrer Haut spüren.


„So ich habe alles zusammengepackt", sagte Misaki und lächelte sie beide an. „Komm wir gehen schon einmal runter."


Die Anspannung zwischen dem Blickkontakt von Saruhiko und ihr löste sich, als sich Saruhiko Misaki zuwandte. „Ja, du hast recht", pflichtete er ihm bei und ging zu ihren Sachen neben der Tür. Dort sammelte er ihre Jacke und Tasche ein. „Brauchst du Hilfe, Mayumi?"


Sich aufgerichtet, brauchte sie einen Moment, denn leichter Schwindel ergriff ihrer Körper und ihre Sicht schwankte. „Nein, geht schon." Doch von jetzt auf gleich ging wieder ein seltsames Gefühl durch ihren Körper und als sie zu Saruhiko sah, schien dieser kurzfristig keine Konturen zu haben und leicht verzerrt zu sein.


„Sieht jetzt nicht danach aus", meinte Misaki, der sie skeptisch betrachtete und sie aus ihrer Beobachtung riss. Als Mayumi wieder zu Saruhiko sah, wirkte dieser wieder vollkommen normal.


„Geh schon mal vor Misaki", entschied Saruhiko seufzend und trat an sie heran. „Ich helfe Mayumi eben."


„Alles klar", widersprach Misaki nicht und lief direkt aus der Tür, als würde er hier regelmäßig ein und aus gehen. „Ich warte unten auf euch."


Saruhiko machte keinen Anstalten sie anzufassen, sondern schien zu warten, bis sich ihr gemeinsamer bester Freund weit genug entfernte und schloss seine Zimmertür. „Ich kann mir die Geschichte mit den Clans erklären und den Zusammenhang mit dem Buch, aber nicht den Kuss." Sein blauer Blick hielt Mayumi gefangen, wie er schon oftmals getan hatte. Sie konnte nicht fortsehen. Woher auf einmal die Wirkung? Diese war vorhin nicht spürbar, denn sie hielt seinem Blick locker stand und jetzt, bekam sie erstmals das Gefühl, als würden seine blauen Augen eine gewisse Macht ausstrahlen, die sie immer wieder aufs Neue in seinen Bann zog. „Alles was du davor gesagt hast, lässt sich für mich in einen Zusammenhang bringen, doch deine letzte Handlung nicht."


Was sollte sie ihm jetzt antworten? Wenn sie selbst anfing an ihren Erinnerungen zu zweifeln, ob alles was sie glaubte zu wissen, sich als Hirngespinst darstellte. „Ich...", fing sie an und beendete gleich wieder ihren Satz. „Ich wollte nur etwas austesten." Irgendwie wollte sie ihm nicht erklären, dass sie in ihren Erinnerungen ein liebendes Paar waren, das mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, als glückliche Augenblicke verbrachte, dennoch sich ihre Liebe so unbeugsam anfühlte. Sie nicht einmal nur eine Sekunde an jemand anderes mehr dachte, seitdem es nur noch ihn für sie gab.


Bei ihr angekommen, suchte Saruhiko erneut ihren Blickkontakt, doch Mayumi wandte sich immer wieder ab. Sie wollte nicht wieder in diesen blauen Augen versinken, wenn darin keine Liebe für sie war. Schon allein seine letzte Reaktion, hatte immer noch einen bitteren Beigeschmack. „Du erzählst mir nicht alles."


Freudlos lachte Mayumi auf. „Ich weiß gerade weder was wahr ist noch was nicht. Also tut mir leid, dass ich dir nicht alles sage oder erklären kann." Sie würde dieses Schauspiel erst einmal über sich ergehen lassen und dann weiterschauen. Sie musste dringend herausfinden, was hier gespielt wurde, denn dieser Saruhiko war nicht ihr Saruhiko.


Aus den Augenwinkeln bekam Mayumi wieder den Eindruck, dass die Gesichtskonturen von Saruhiko flackerten, als wäre er ein Bild. Ruckartig wandte sie sich ihm vollständig zu und sah ihm in die Augen, die für den Bruchteil einer Sekunde grau und nicht blau waren. „Du bist nicht echt. Du bist nicht mein Saruhiko", kam es instinktiv von ihr.


Als sie an ihm vorbeigehen wollte, hielt er sie am Oberarm fest. „Ich versteh dich nicht. Du redest totalen Mist und auf einmal bin ich unecht? Mayumi, wenn ich nicht echt bin, wieso kann ich dich dann anfassen? Und was meinst du mit dein Saruhiko? Erkläre es mir. Gibt es mich doppelt? Ich mach mir langsam echt Sorgen um dich."


„Brauchst du nicht, aber danke", sagte sie gefasst zu der jungen Ausgabe von Saruhiko. Er sah ihm zum Verwechseln ähnlich und doch sah er aus wie seine jüngeres Mittelschulzeiten selbst. Mayumi suchte den starken blauen Clansman in diesem Abbild und konnte bis auf die wachsamen Blicke, nichts finden.


Ihr Blick lag auf den festen Griff um ihren Oberarm, aber wieso konnte er sie anfassen? Und sie hatte den Eindruck, dass sein Blick intensiver wurde, als würde er sich immer mehr an den echten Saruhiko anpassen.


Noch immer löste sich der Griff von Saruhiko nicht. „Hör zu, meine Reaktion war vielleicht nicht die beste, aber du hast mich überrumpelt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass du auf mich stehst. Wir sind doch Freunde."


Mayumi lachte laut auf. Das war so bescheuert, aber so richtig. Ihr Lachen blieb und hörte sich selbst in ihren Ohren verzweifelt an. „Ich steh nicht auf den echten Saruhiko. Ich liebe ihn. Es gibt nur ihn für mich und ich habe keine Ahnung, was hier los ist, aber du bist nicht mein Saruhiko. Den echten Saruhiko hätte ich nie überrumpeln können." Sie lächelte traurig. Er wurde überrumpelt? Sie hätte ihren Saruhiko nicht so schockieren können. Zudem meinte er selbst einmal zu ihr, dass er sie schon lange, bevor sie zusammengekommen war, liebte.


Sie nach wie vor nicht losgelassen, sah dieser junge Saruhiko fast verzweifelt aus, als würde sie ihm gerade eine mentale Ohrfeige verpassen. Wieso wirkte er jetzt auf einmal verletzt? Warum bekam sie den Eindruck, dass sie ihn fürchterlich verletzte. „Mayumi...", offenbar suchte er nach Worten. „Ich war nur überrumpelt und..."


„Kommt im Leben öfters vor." An ihren Arm gezogen, lockerten sich seine Finger und sie konnte das Zimmer verlassen. Sie wollte nichts mehr hören, besonders dann, wenn ihr Herz anfing zu schlagen und sie anfing sich schlecht wegen ihrer Worte zu fühlen. Was war, wenn der Schlag auf den Kopf doch real war und alle ihre Gedanken Einbildung? Hatte sie vielleicht ihrem Saruhiko verbal wehgetan und ihm vorgeworfen nicht echt zu sein?


Der Flur, das Treppenhaus, die Eingangshalle, der gigantischem Anwesen der Familie Fushimi erinnerte Mayumi an das reale zu Hause von Saruhiko und doch kam es ihr wie ein Trugbild vor, doch sie fand nicht den Fehler im Pinselstrich. Sie fasste jedes Gemälde, jedes Möbelstück, Vase, Blumen und weitere Dekorationen an. Ihre Finger glitten über die gemusterte Raufasertapete und prüfend hopste sie auf dem Boden herum. Alles sah real aus, doch eine innere Stimme wollte es nicht als echt akzeptieren.


Langsam kam Mayumi sich bescheuert vor, weil sie sich wie eine Irre verhielt und alles prüfend anfasste, in der Hoffnung etwas Farbe an den Fingerkuppen zu haben oder dass ihre Hand durch den Gegenstand glitt, wie bei einer optischen Täuschung. Fürs Erste gab sie nach und ging über die große Treppe in den Eingangsbereich.


„Ah, da bist du ja Mayumi", hörte sie Niko Fushimi, bevor sie ihm entdeckte. Er legte seinen PDA auf eine Kommode im Eingangsbereich und kam ihr entgegen. An der großen doppelflügeligen Eingangstür stand Misaki mit seinem Skateboard. „Deine Mutter wird gleich hier sein."


Die Lippen zusammengepresst, fühlte sich Mayumis Herz an, als würde man es in einem Schraubstock stecken und zudrehen. Ihre Eltern waren Tod und lebten nicht mehr. Wer bitte sollte denn gleich zur Tür hereinkommen?


„Geht es dir wieder schlechter?", fragte Misaki sie und stand auf einmal vor ihr. „Du siehst ganz bleich aus." Die Besorgnis in seinem Gesicht war aufrichtig und ehrlich.


Hinter ihr tauchte Saruhiko mit ihren Sachen auf, doch war seine Mimik nicht mehr zu deuten. Sein Gesichtsausdruck konnte wieder alles und nichts bedeuten. Er tauschte nur einen Blick mit seinem Vater und legte ihren Sachen neben der dunklen Treppe ab, in deren Oberfläche man sich fast spiegelte.


„Geht schon", sagte sie zu Misaki und versuchte sich für ihn ein Lächeln abzuringen. Genau wie bei Saruhiko suchte sie die Merkmale in ihrem Freund, die ihn als einen roten Clansman auszeichneten, doch vor ihr stand ihr lieber Freund aus Mittelschultagen. Wenn sie sein Lächeln so sah, dann hatte sie dieses schon fast vergessen, denn mit dem roten Clan und den ganzen Tragödien und Streitereien war dieses auf dessen Gesicht erloschen.


Die Macht der Clans hatten ihre beiden Freunde verändert, sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften in ihnen erweckt, sodass sie sich vollkommen veränderten. Ihr Blick flog zu Saruhiko und wieder zurück zu Misaki. Erstmals empfand Mayumi es als schön sie so zu sehen, wie die Jungen, die sie so gern hatte.


„Du schreibst mir, was der Arzt gesagt hat, ja?", forderte Misaki ein und lächelte sie an, legte ihr klopfend beide Hände auf die Schultern. „Und übermorgen bleibt es bei zwölf Uhr?", hackte er nach.


„Hatten wir doch so ausgemacht", sagte Saruhiko und kam zu ihnen. „Und bei mir meldest du dich bitte auch. Ich möchte auch wissen, was der Arzt gesagt hat."


Sie nickte. „Ich melde mich bei euch beiden. Was ist denn übermorgen?"


„Wir wollten doch in dem neuen Pool von Saruhiko schwimmen und bleiben über Nacht, damit wir Clansman fertigbekommen", klärte Misaki sie auf und sah sie beiden an. „Oder jetzt nach dem Buch eine blöde Idee?"


Sofort schüttelte Mayumi ihren Kopf. „Nein... ich habe es nur etwas durcheinandergeworfen."
„Wie so einiges", kam ein Seitenhieb von Saruhiko, der nicht mitfühlend gemeint war. Sie fühlte seinen bohrenden Blick in ihrem Nacken. „Aber ja, das war der ursprüngliche Plan. Der Hitze entkommen und das Spiel fertig machen."


„Ich kann euch Drei aber allein lassen, oder?", kam es amüsiert von Saruhikos Vater, der ihre Unterhaltung mithörte. „Oder erschlagt ihr euch mit noch weiteren Büchern?"


„Nicht lustig", kam es von Saruhiko, doch seinen Vater störte dieser Kommentar herzlich wenig. Dieser legte nur locker seine Hand an die Hüfte und neigte seinen Kopf. „Du gehst doch eh meistens zum Lachen in den Keller, Sa-ru-hi-ko."


Die Augen verdrehend, wandte sich Saruhiko von seinem erwachsenen Ebenbild ab, als die Türglocke ging. „Ich mach schon auf." Saruhikos Vater ging zur Tür und unterhielt sich mit einer Frau.


Allein der Klang dieser Stimme, weckte eine alte und tiefe Erinnerung in Mayumi, die ihr direkt den Atem raubte und das Herz stillstehen ließ, bevor dieses anfing nervös zu pochen. Diese Stimme...sie kannte diese Stimme. Diese hatte ihr früher so viele Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, getadelt und liebevolle Worte zugeflüstert, ehe sich beschützende Arme um sie schlossen.


„Mama", kam es flüsternd über die zitternden Lippen von Mayumi, als sie Misaki schon an die Seite schob und in Richtung der großen Eingangstür ging. Mehr als nur nervös schluckte sie ihren Speichel herunter und fühlte den wachsenden Kloß in ihrem Hals.


Erst erblickte sie nur den Rücken von Saruhikos Vater, der sich mit einer Frau unterhielt und ihr scheinbar die Geschehnisse erklärte. „-...auf jeden Fall scheint ihr Kopf ein bisschen was abbekommen zu haben. Laut den Jungs hat sie etwas virr gesprochen und ich denke, dass es sich doch einmal ein Arzt anschauen sollte."


„Ich verstehe", sagte die Frau freundlich und ging an Niki Fushimi vorbei. Die Absätze ihrer Pumps halten auf den grauen Fliesen in der Halle wieder. Ihre langen blonden Haare, waren zu einem Dutt hochgebunden und sie trug eine dreiviertel Jeans mit weißem Shirt. Deutlich erkannte man die Familienähnlichkeit in den Gesichtszügen zu Mayumi, bis auf ihre Augenfarbe. Die klaren grünen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt. „Da bist du ja, Schätzchen", kam ihre Mutter auf sie zu. „Zeig mal."


Mayumi stand, wie zur Salzsäule erstarrt an Ort und Stelle, die Augen weit aufgerissen und den Mund einen spaltbreit geöffnet, damit sie in der Lage war keuchend zu atmen. Die schlanken und beringten Hände nach ihr ausgestreckt, ließ Mayumi zu, dass ihre Mutter sie anfasste. „Schätzchen, du siehst gar nicht gut aus", hörte sie die Sorge ebenfalls aus der Stimme heraus, die den Kloß in ihrem Hals anschwellen ließ und ihr Herz drückte sich zusammen. Behutsam strich ihre Mutter durch ihre blonden Haare. „Uh, die Beule sieht aber nicht gut aus. Du hast recht, Niki, das sollte sich wirklich ein Arzt einmal ansehen."


„Mama", kam es nur über Mayumis Lippen, als sie das Brennen in ihren Augen fühlte und wie die ersten Tränen an ihren Wangen entlangliefen. „Mama du bist hier..."


„Ja natürlich bin ich hier." Sie in ihre Umarmung gezogen, drückte ihre Mutter ihre weichen Lippen gegen ihre Schläfe. „Wieso sollte ich denn nicht hier sein?"


Von jetzt auf gleich brach etwas in Mayumi und sie umklammerte ihre Mutter schluchzend und drückte sie weinend an sich. „Du lebst...", kam es nur keuchend über ihre Lippen. „Mama."


Niemand sagte etwas, sondern alle starrten sie nur an, wie sie heulend das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter vergrub, die selbst überrascht über die Reaktion schien. „Ja natürlich lebe ich, Mayumi." Ihr Gesicht in ihre Hände genommen, betrachtete ihre Mutter sie, während ihre Daumen immer wieder die Tränen fortwischten. „Ach, Schätzchen, was ist denn los?"


„Sie redet die ganze Zeit schon so verwirrte Sachen vor sich her", mischte sich Saruhiko nach einer gewissen Zeit ein. „Ich glaube sie hat dich und ihren Vater für Tod gehalten."


„Was?" Vollkommen perplex blinzelte ihre Mutter und sah Mayumi wieder ins Gesicht. „Ach nein, Mayumi. Deinem Papa und mir geht es gut", lächelte sie ihre Tochter liebevoll an. „Uns geht es gut und jetzt hör mal auf zu weinen. Schau mal deine Freunde machen sich schon richtig sorgen um dich."


Weiterhin sich an ihre Mutter festgehalten drehte Mayumi nur ihr Gesicht in die Richtung der anderen. Jeder schien besorgt zu sein und verwirrt über das was sie von sich gab. Und jetzt da sie in den Armen ihrer Mutter lag, mischten sich die ersten Zweifel ein. Ihre Mutter fühlte sich real an, sie konnte sie umarmen, spürte die geborgenen Wärme, die von ihren Armen ausging und fühlte die Beruhigung durch das zärtliche Streicheln ihrer Hand auf ihrem Rücken.


„Ich glaube wir fahren jetzt zum Krankenhaus und dann etwas Ruhe", entschied ihre Mutter, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich. „Danke Niki für den Anruf."


„Keine Ursache", sagte dieser und winkte ihnen zum Abschied zu. „Mach dir keinen Kopf Mayumi und du wirst sehen, bald ist alles wieder in Ordnung."

Es fühlte sich gerade nach allem an, doch nichts davon hatte etwas mit Ordnung zu tun. So lief sie wie ein kleines Mädchen in dem Arm ihrer Mutter mit und stieg in das grüne Auto.

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