Ungleichgewicht

Saruhiko Pov:

Es war jetzt über ein Jahr her, seitdem Mayumi von jetzt auf gleich verschwand und nicht mehr auffindbar war. Wenn ich ganz genau sein wollte, dann war sie jetzt vierhundertsiebenundvierzig Tage verschwunden.

Mich in meinen Schreibtischstuhl zurückgelehnt, legte ich den Kopf in den Nacken und sah an meine Zimmerdecke, ehe ich über mich selbst lachte. Konnte ich auf anhieb die Tage nennen, seitdem ich sie nicht mehr gesehen hatte.

Danach hatte ich verschiedene Phase durchlaufen, inzwischen war es ein Gefühlsmischmasch aus Wut, Traurigkeit und ein erdrückendes Gefühl von Einsamkeit. Letztendlich war es egal welche Phase ich durchlief, unterm Strich kam ich nicht von ihr los. Egal war ich versuchte mir einzureden oder zu verdrängen, musste ich nur das Bild auf meinem Schreibtisch ansehen oder aus meiner Innentasche meiner blauen Jacke, die Schachtel herausnehmen, indem ihre Sonnenanhängerkette lag. Sobald meine Augen nur eines dieser Sachen erfassten, wusste ich innerlich, dass ich sie nach wie vor liebte. Meine Gefühle für sie hatten sich absolut nicht verändert und das ging mir langsam an die Substanz.

Wie sehr kann man eigentlich jemanden lieben?, fragte ich mich und setzte mich wieder aufrecht hin und schaltete meinen Laptop ein, da ich noch einen Bericht schreiben musste. Offensichtlich konnte man sein Herz wirklich an jemanden verlieren, anders konnte ich mir dies nicht mehr erklären. Das mich mal so ein Gefühlsmist erwischte, damit hatte ich niemals gerechnet.

Das Programm hochgefahren, versuchte ich meine Gedanken auf den Bericht zu lenken und ließ meine Finger über die Buchstaben der Tastatur gleiten.

Um mich weiter von Mayumi abzulenken, dachte ich an das vergangene Jahr zurück, indem mehr vorgefallen war, als dass man es glauben konnte. Man sollte meinen, dass ich mehr als ausreichend beschäftigt war, als an meine verlorene Freundin zu denken, doch dem war nicht so. Denn irgendwann kam der Moment, indem ich allein in mein Zimmer bei Scepter 4 ging, und spätestens da fluteten mich meine Emotionen, die ich den gesamten Tag unter Verschluss hielt.

Mein Blick wieder auf den Bericht gelenkt, ordnete ich meine Gedanken.

Eigentlich war alles sehr surreal und im Stillen fragte ich mich, ob das Verschwinden der Sünden einen Einfluss auf den Verlauf in der Vergangenheit hatte. Immerhin war seitdem drei Königsmord vorgefallen. Einmal war Mikoto Suoh von meinem König erschlagen worden, da sein Zustand dermaßen instabil wurde, dass sein Damoklesschwert anfing zu fallen und wenn Reisi Munakata nicht gehandelt hätte, dann hätte sich der Kagutsu-Krater-Vorfall wiederholt.

Zuvor hatte Mikoto Suoh den silbernen König ermordet, der den farblosen König in sich aufgenommen hatte. Warum? Der farblose König hatte den roten Clansman Tatara Totsuka erschossen, um den roten Clan zu provozieren und dann versucht die Tat dem silbernen König in die Schuhe zu schieben. Der silberne König opferte sich, um den farblosen König zu stoppen und Mikoto Suoh die Möglichkeit zu geben die Vergeltung für den Mord einzufordern. Am Ende waren alle drei Tod und mein Vorgesetzter hatte das Blut des roten Königs an seinen Händen kleben, da er als Einziger vernünftig geblieben war.

Nun kam hinzu, wenn ich der Gerüchteküche glauben konnte, dass der goldene Clan unruhig war, denn ihr alter König schien ebenfalls zu schwächeln. Zumindest hörte man recht wenig aus dem zeitlosen Palast.

Zusammengefasst ein ziemlich nerviges Chaos und mir kam es so vor, als ob ein König nach dem anderen ins Ungleichgewicht geriet und seinen Kopf verlor, besonders seitdem die Sünden verschwunden waren.

Die sieben Todsünden, die von der Schiefertafel ausgesucht wurden und das Komplementär zu einem König bildeten. Fanden die passende Sünde und der richtige König zusammen, dann bereicherten sie sich Gegenseitig. Das Damoklesschwert des jeweiligen Königs stärkte sich und erstrahlte im neuen Glanz. Fanden die Sünde und der König nicht zusammen oder ein König geriet an die falsche Sünde, dann schwächte dieser Bund die Macht des Königs. Und nun das gefährlichste an den Sünden, warum die Könige sie lieber verachteten, als dass sie sich mit ihnen einließen. Nahm man das Blut aller Sünden zusammen, dann konnte sie einen König entmachten, indem sie ihm sein Damoklesschwert raubten. Naja. und welcher machtgeile König gab schon gerne diese Kraft her? Mir war bisher keiner begegnet.

Mayumi Kawamura, meine Freundin, war eine der Sünden. Die Sünde der Habgier und nach ausreichenden Nachforschungen wusste ich nun auch, welche Fähigkeiten sie besaß. Zumindest besitzen sollte, wenn sie lernte diese zu kontrollieren. Sie war nicht nur der Empathie mächtig, sondern konnte Emotionen absaugen, als auch in einer Person erzeugen, indem sie diese wieder abgab. In der Zwischenzeit fungierte sie wie ein Energiespeicher, bei dem die Kraft der Gefühle zwischengeparkt wurden. Ob es überhaupt ein Limit gab, wie viel Energie sie speichern konnte, wusste ich nicht, war auch aus keinem Bericht herauszufinden, doch ich tippte mal darauf, dass es keines gab oder es an die Kapazität des Wirtes gebunden war.

Ich hatte aufgehört zu schreiben, als ich merkte, dass meine Gedanken wieder bei meiner verschollenen Freundin waren. Öffentlich nannte man sie meine Ex-Freundin, allerdings wehrte ich mich dagegen, denn wir hatten nie Schluss gemacht. Sie war nur verschwunden. Meine Brille abgenommen, massierte ich mir die geschlossenen Augenlider und meinen Nasenrücken.

So wurde das nichts, doch was sollte ich machen? Noch etwas, womit ich zu kämpfen hatte. Meine Konzentration ließ gerne nach, besonders dann, wenn ich mich mit nervigen Sachen beschäftigen musste. Mich kotzte die gesamte Situation einfach nur noch an, aber etwas ändern konnte ich auch nicht und das war richtig ätzend.

Die Sünden waren alle spurlos verschwunden. Nachdem man Mayumi zu Suki Endou gebracht hatte, war es, als wären alle Sünden in einem Loch im Boden untergetaucht. Es gab keine Spur von ihnen, als hätten sie nie in Shizume-City gelebt. Würde ich kein Foto von Mayumi besitzen, ebenso wissen, dass ihr Großvater hier wohnte und die Kette von ihr immer wieder zwischen die Finger nehmen, dann wäre es, als hätte sie niemals existiert. Selbst ihre Akte an der Schule war verschwunden, Geburtsurkunde, ihre Wohnung mit den Sachen, schlichtweg alles war von heute auf morgen weg. Die Person Mayumi Kawamura war aus der Gesellschaft verschwunden und nicht einmal ich konnte ihre digitalen Akten finden, dabei war Hacking, Profiling und Informatik mein Spezialgebiet.

Meinen Kopf geschüttelte und meine Brille wieder aufgesetzt versuchte ich mich wieder zu konzentrieren. Ich wollte diesen Bericht über den Strainvorfall fertigbekommen, da ich noch genug zu erledigen hatte. Musste ich noch eine Zusammenfassung und Einschätzung des angeschlagenen roten Clans schreiben und diese Analyse zu Munakata bringen. Obwohl Mikoto Suoh Tod war, behielt man den roten Clan trotzdem wachsam im Auge, denn er kam einen wie ein angeschossenes Raubtier vor. Schwer verletzt und dadurch absolut gefährlich.

Warum dieser Clan so viel Ärger in der Vergangenheit hatte? Anstrengend und nervig waren die Idioten schon immer, doch seit gut einem Jahr gab es wirklich viel Ärger mit ihnen. Den Grund hatten wir vom blauen Clan erst seit kurzem erfahren, nämlich dass der farblose König den sanftmütigen Clansman Tatara Totsuka ermordet hatte. Nun hatte mein König ihren König erschlagen und wir warteten immer noch auf das Echo.

Mir war schleierhaft, wer so dämlich sein konnte jemanden vom roten Clan zu ermorden, da dieser der Inbegriff von Gewaltbereitschaft und Treue war. Untereinander absolut loyal und treu, sodass man nur noch durch Blutsverwandtschaft einander näher sein konnte, allerdings kannten sie keine Gnade bei Außenstehenden, wenn man sich mit einen von ihnen anlegte. Nachdem sie ihre Trauerphase überwunden hatten, machte sie jagt auf den Mörder von Totsuka und was soll ich sagen... so ganz dumm stellten sie sich nicht an.

Ausschlaggebend für ihr Vorankommen waren Anna und Kusanagi. Anna, die ebenfalls ein Strain mit außerordentlichen Talenten war, darunter die Fähigkeit Leute, die sie einmal gesehen hatte aufzuspüren. Hinzu kam noch das Kusanagi alles andere als dumm war und die wilde Meute vom roten Clan genaustens wusste zu lenken. Darüber hinaus gab es noch Misaki Yata, meinen ehemals besten Freund, der über eine unerschöpfliche Energie verfügte, sodass sie pausenlos im Einsatz waren und gut vorankamen.

Misaki...

Früher waren wir unzertrennlich. Die besten Freunde, obwohl wir nicht unterschiedlicher sein konnten. Er war ein dummer Idiot, der das Herz am rechten Fleck hatte und absolut loyal war und ich? Naja, wie war ich eben? Ich betrachtete das Leben lieber von der pessimistischen Seite, weil das Glück eine verdammte Hure war und das Schicksal mir mehr als einmal den Mittelfinger lachend ins Gesicht gehalten hatte.

Nachdem ich den roten Clan verlassen hatte, zerbrach die Freundschaft zu Misaki und für ihn war ich nur noch ein Verräter, der ihn und den roten König, Mikoto, hintergangen hatte. Damals hatte Mayumi versucht unsere Freundschaft noch zu erhalten, leider ohne Erfolg. Obwohl sie sich stetig bemühte, hatte sie die Freundschaft zwischen mir und Misaki nicht retten können.

Misaki, Mayumi und ich. Wir drei waren, bevor wir in die Welt der Schiefertafel und Könige eintraten, unzertrennlich. Und heute... war alles in sich zusammengebrochen und jeder stand auf einer anderen Seite und dies einsam unter vielen.

Diese Einsamkeit erdrückte mich langsam und immer wieder ertappte ich mich, dass ich versuchte mir wenigstens die Aufmerksamkeit von Misaki zu holen. Wie ein dämliches Balg, das keine Lutscher bekommt, seufzte ich über mich selbst. Inzwischen war mir jeder Aufmerksamkeit recht, die ich aus der Vergangenheit bekam, doch stillte sie nicht die eigentliche Sehnsucht, die ich verspürte.

Meine Lider geschlossen, dachte ich wieder zurück an Mayumi. Presste meine Lippen zusammen, als ich an den Geschmack unseres Kusses erinnerte und wie sich ihre erhitze Haut unter meinen Fingerkuppen angefühlt hatte. Wir hatten nur eine kurze Zweisamkeit, doch jede dieser Erinnerungen hatte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt, sodass ich immer wieder davon zerren konnte.

Gesund war dies schon lange nicht mehr, weder für mich noch für meine Psyche, allerdings kam die Alternative sie loszulassen und zu vergessen überhaupt nicht in Betracht.


Reisi Munakata Pov:

Ich saß an meinen Schreibtisch und überlegte was ich gegen mein bedenklich hohes Weißmannlevel unternehmen konnte, das nach dem Königsmord an Mikoto Suoh hochgeschossen war. Nicht nur, dass mich meine Schuldgefühle erdrückten, obwohl ich mir vollkommen bewusst war, dass ich nicht hätte, anders handeln können.

Bis zum Schluss hatte ich versucht den Tod von Mikoto Suoh abzuwenden, doch er wollte sterben, anders konnte ich mir das nicht mehr erklären. Nun merkte ich selbst, wie meine blaue Aura zunehmend instabiler wurde, trotzdem hatte ich sie noch gut im Griff.

Damals gab ich mich für einen Moment dem naiven Glauben hin, dass sich Mikoto von mir helfen lassen wollte, als er sich freiwillig von mir Inhaftieren ließ, sodass ich seine rote Aura mit meiner blauen Aura unterdrücken konnte, wenn sie drohte hochzukommen, allerdings war dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Ich war nur eine Zeitüberbrückung gewesen, die ihm einen längeren Atme verschaffte, damit sein Clan den Mörder an Tatara Totsuka aufspüren konnte und ich hatte mich missbrauchen lassen.

Sein Weißmannlevel war am Limit und es fehlte nicht mehr viel und die Katastrophe vom Kagutsu-Krater-Vorfall würde sich wiederholen, wenn ich keinen Weg von Mikoto wieder zu stabilisieren. Schon früher war dieser rothaarige Mann ein Hitzkopf gewesen, der mit der Faust schneller war als mit dem Verstand, doch traf dies auf fast alle Mitglieder von Homra, den roten Clan zu. Jedoch, seit dem Mord an Tatara Totsuka, war nichts mehr wie früher... Mikoto wollte den farblosen König töten und Vergeltung für diese abscheuliche Tat, doch dann würde sein Damoklesschwert fallen.

Und es war gefallen, sodass ich keine andere Möglichkeit mehr hatte. Noch eine Sekunde länger gezögert und es wäre auf dem Erdboden aufgeschlagen.

Seufzend strich ihr mir durch die Haare und sah aus dem Fenster, war es bereits spät am Abend und ich konnte mich in dem Fensterglas selbst erblicken. Nicht nur der rote Clan machte uns Blauen Schwierigkeiten, sondern auch Saruhiko bereitete mir zunehmen Sorgen. Während den laufenden Auseinandersetzungen mit dem roten Clan hatte ich dazu noch nichts gesagt, aber ich musste mit ihm sprechen.

Auf dem ersten Blick sah man meinem dritten Kommandanten nichts an, denn er verhielt sich wie immer, doch er veränderte sich. Der Verlust von Mayumi Kawamura entfaltete langsam seine Wirkung und zeigte den versteckten Schmerz, den er allein mit sich herumtrug. Er kapselte sich nicht nur weiter ab und unternahm noch weniger mit anderen aus unserem Clan, als er es eh schon getan hatte, nein, seine Handhabungen bei Aufträgen wurden nicht nur radikaler, sondern auch besorgniserregender.

Erneut rief ich mir den Bericht von Seri Awashima, meiner engsten Vertrauten und Stellvertreterin auf, indem sie ebenfalls in einem besorgten Blickwinkel das Verhalten von Saruhiko betrachtete. Er hatte nicht nur bei Nachforschungen über den farblosen König, der nach Vermutungen sich auf der Schulinsel befand, eine unschuldige Schülerin mit einem Betäubungsmittel betäubt, sondern diese auch achtlos liegen lassen.

Ich war heilfroh, dass dieses Mädchen keine bleiben Schäden davongetragen hatte oder ihr wer weiß was zugestoßen war.

Wollte ich mir gar nicht erst ausmalen, was geschehen wäre, wenn sie das Betäubungsmittel nicht vertragen hätte und dann hatte Saruhiko sie einfach in einer Ecke auf dem Stuhl in einem Raum liegen lassen. Diesem armen Mädchen hatte wer weiß was passieren können und das nur, weil er ihren Zugang am PC benötigte, um einen Bildabgleich mit den Schülern vorzunehmen. In dem Sinne nichts, was diese Vorgehensweise rechtfertigte.

Hinzu kam noch die Konfrontationen mit Misaki Yata, von denen eine ein blutiges Ende nahm, sodass Awashima eingreifen musste. Abgesehen von der Tatsache, dass er mit seinem alten besten Freund aneinandergeraten war, beruhigte mich der Fakt, dass erstmals Blut geflossen war. Sonst stritten und prügelten sich die beiden immer wieder, besonders wenn der blaue und der rote Clan sich eh miteinander auseinandersetzten. Es war schon fast eine Routine, dass die beiden die Waffen kreuzten, ebenso wie ich mich mit Mikoto Suoh immer gemessen hatte.

Nun würde ich die Waffen mit Mikoto nie wieder kreuzen... Meinen Kopf geschüttelte, lenkte ich einen Gedanken wieder zu meiner eigentlichen Sorge zurück.

Schlussendlich stritten und legten sich der rote und der blaue Clan immer wieder miteinander an, doch niemals verletzten wir jemand ernsthaft. Das war eine ungeschriebene Regel, die selbst wir Könige einhielten und Saruhiko hatte diese gebrochen, indem er ein Wurfmesser umhüllt mit der Aura in die Schulter von Misaki Yata zielsicher warf.

Alles beunruhigende Tatsache, jedoch, was mir am meisten Sorgen bereitete war, dass er für einen Augenblick den Anschein erweckte, dass er sich dem Befehl von Seri Awashima widersetzen wollte, als diese in aufforderte seinen Säbel wegzulegen und die Kampfhandlungen einzustellen. Er kam diesem Befehl nicht sofort nach. Nachdem sie ihn mehrmals ermahnte, folgte er doch, allerdings wohl mehr als widerwillig.

Meine Finger ineinander verschränkt, lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete erneut mein Spiegelbild, als würde dies eine Lösung wissen. Instinktiv wusste ich, dass ich an der Loyalität von Saruhiko Fushimi nicht zweifeln brauchte. Wenn es hart auf hart kam, dann würde er mir treu zur Seite stehen. Dies hieß nicht, dass ich mir trotzdem keine Sorgen um ihn machen musste.

Saruhiko Fushimi liebte unwiderruflich Mayumi Kawamura und seit ihrem Verschwinden an jenem Tag, war es, als hätte man ihm ein wichtiger Bestandteil seiner Selbst beraubt und zwar diesen Bestandteil der Saruhiko im Gleichgewicht hielt.

Wenn ich ihn mit diesem konfrontieren würde, dann würde er wieder dicht machen. Egal was ich unternahm, wollte er nicht über Miss Kawamura sprechen, obwohl ich ihm seinen Schmerz ansah. Er schwieg, wo jedes andere schrie, doch irgendwas musste ich langsam unternehmen. Auf die Zeit konnte ich nicht spielen. Sie heilte bekanntlich viele Wunden, doch diese Wunde würde sie nicht schließen. Der Verlust dieses Mädchens hatte so ein tiefes Loch in das Herz von meinem Kommandanten gerissen, dass ich sorge, hatte, ob er sich jemals davon erholte.

Meinen Blick von meinem Spiegelbild wieder abgewandt, lies ich langsam die Luft aus meinen Nasenflügeln und sah wieder auf den Bericht. Ich konnte ihm das nicht so durchgehen lassen, selbst wenn ich die Ursache für sein absolutes fragwürdiges Fehlverhalten kannte, denn es kamen Personen zu schaden. Vor kurzem erst hatte er nur eine ahnungslose Schülerin betäubte und liegen lassen und einen roten Clansman verletzte, was würde als nächstes kommen?

Ich musste ihn wieder wachrütteln, sodass er selbst merkte, dass er zu weit ging, denn nur so konnte man zu Saruhiko durchdringen, indem er es selbst realisierte. Strafpredigten oder Sanktionen zeigten bei ihm keine Wirkung, denn er saß diese ab und machte am Ende genauso weiter, wie er es für richtig hielt. Ein Umdenkprozess musste bei ihm eingeleitet werden und ich kannte nur eine Person, die dazu imstande war. Sie würde vermutlich nicht einmal viele Worte benötigen, aber Saruhiko war wichtig, wie Mayumi von ihm dachte und wie er auf sie wirkte und deshalb hörte er ihr zu. Er ließ sich von ihr einen Spiegel vorhalten, allerdings war Mayumi nicht greifbar.

Ich fuhr meinen PC herunter, nahm meine Säbel und schloss meine blaue Jacke, als ich mich auf den Weg machte. Es war verdammt spät und auch als König sollte ich etwas zur Ruhe kommen, besonders, wenn ich innerlich merkte, dass mein Körper absolut erschöpft war und die blaue Macht instabil wurde.

Niemals wollte ich einen König erschlagen und doch hatte ich es tun müssen. Meine Pflicht als blauer König hatte mich zum Handeln gezwungen und damit hatte ich vermutlich unfassbar viele Leben gerettet, dennoch war ich auch nur ein Mensch. Mit Gefühlen und Bedürfnissen wie jeder andere auch, denn so eine Handlung ging an mir ebenso nicht spurlos vorbei. Immer wieder schreckte ich aus dem Schlaf hoch und sah das Leben aus den Augen von Mikoto Suoh weichen, hörte seinen letzten röchelnden Atemzug, ehe das warme Blut auf meinen Fingern erkaltete, dann das >Pitsch<. Ein absolut fürchterliches Geräusch, dass sich so laut in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Der erste Blutstropfen, der von meiner Schwertspitze, auf dem Boden aufschlug. Tropfende Wasserhähne konnte ich nicht hören, ohne sofort wieder in dem Augenblick meiner Tat zu stehen.

Und doch war ich ein König und musste meinem Clan Halt und Stabilität geben. Das Gleichgewicht der Könige zerbrach zusehends und die ersten Folgen machten sich in der Gesellschaft bemerkbar. Gleichzeitig schien der grüne Clan aktiver zu werden und Anhänger um sich zu Scharren wie ein Rattenfänger. Was Nagare Hisui wohl vor hatte? Bisher hatte ich nur einmal das Vergnügen mit dem grünen König erhalten, und zwar als er es auf Saruhiko abgesehen hatte.

Damals war Saruhiko noch ein roter Clansman, als der grüne König ihn ins Auge fasste. Vermutlich aus den gleichen Beweggründen wie ich, denn Saruhiko war außerordentlich talentiert. Ein absolut wacher Verstand, geschult in dem Umgang mit versteckten Waffen und darüber hinaus noch Computeraffin, welcher König hätte nicht gerne so einen Clansman?

Ich hatte es Saruhiko niemals gesagt, denn ich glaubte, dass er es irgendwie selbst wusste, aber Nagare Hisui war verantwortlich an der Spaltung von ihm und den roten Clan. Wäre diese Geschichte nicht vorgefallen, dann hätte Saruhiko niemals zu mir gewechselt.

Woher der grüne König von Saruhikos schrecklichen Vergangenheit wusste, erschloss sich mir nicht, doch Nagare kannte diese. Immer wieder hatte er Saruhiko Wahnvorstellungen von den Misshandlungen seines bereits verstorbenen Vaters ausgesetzt, sodass der Brillenträger kurz vorm Durchdrehen war. Alles so geschickt angestellt, dass man wirklich glaubte, dass Saruhiko geistig gestört war. Man empfand ihn als komisch und seltsam, sodass man ihn lieber mied und leider war Saruhiko kein zugänglicher Charakter.

An einer Kreuzung stehen geblieben, besah ich mir die fahrenden Autos und dachte an den Tag zurück, als Saruhiko den roten Clan verließ und sich mir anschloss:

„Hast du alles?", fragte ich den jungen schwarzhaarigen Mann vor mir, der absolut durch den Wind war und sich mehrmals nach allem umsah. Immer noch steckte ihm das Gespräch mit dem grünen und den roten König in den Knochen.

Ich wollte mir nicht ausmalen, was Saruhiko Fushimi für Bilder in seinem Kopf gesehen hatte, eingepflanzt von der Aura des grünen Königs. Als ich ihn fand, war er aschfahl und klatschnass geschwitzt, die Augen weiter aufgerissen und nicht mehr Herr über seine Atmung.

Mir erst still die Anwerbung des grünen Clans angehört, der Saruhiko damals mit reiner Machtdemonstration zu sich holen wollte. Sie wollten ihm zeigen, wie aggressiv und beängstigend die grüne Aura sein konnte. Mit dem Versprechen, dass dieser psychische Missbrauch ein Ende haben würde, boten sie ihm den Clanzugang an und da schritt ich ein.

Saruhiko war zu jenem Zeitpunkt alles gewesen, aber nicht mehr zurechnungsfähig. Nagare hatte ihn an sein damaliges Limit gebracht.

Mikoto Suoh war kurz nach mir bei Saruhiko eingetroffen, da ich eine Aussage von Saruhiko zu einer ehemaligen Ermittlung benötigte und Mikoto mir den Kontakt gewährte. Die Lage erklärte sich schnell und als Mikoto fragte, wohin Saruhiko denn lieber wolle, warf ich für diesen jungen Mann ebenfalls meine Hut in den Ring. So ein Talent wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Seltsamerweise war die erste Reaktion von Saruhiko mich anzusehen und dabei machte er unbewusst einen Schritt in meine Richtung.

Wieso er sich instinktiv für mich entschied und damit gegen seinen alten Clan und besten Freund. Diese Frage hatte er mir bis heute nicht beantwortet und würde er mir sicherlich auch nie beantworten.

Die Entscheidung des damaligen Jungen akzeptiert, ließ Mikoto ihn gehen und ich half ihm seine Sachen zusammenzusuchen. Ich wollte ihn nicht dort lassen, nicht wenn der grüne Clan sein Interesse so stark bekundete. Im Hauptquartier des blauen Clans konnte Saruhiko zur Ruhe kommen.

Saruhiko zog sich ein frisches T-Shirt übrig und nickte, warf noch einen Blick durch die Wohnung, die er mit seinem besten Freund Misaki Yata bewohnte. Seine Hand streckte sich nach einem Bild aus, dass ihn zusammen mit Misaki und noch einem Mädchen zeigte. Alle drei lächelten in die Kamera.

„Kennt man diese junge Dame?", fragte ich ihn und besah mir die Drei, die zu diesem Zeitpunkt noch die Mittelschule besuchten.

Saruhiko lächelte. „Nein und das ist auch gut so." Das Foto zurückgestellt, nahm er seine Tasche und folgte mir.

Eigentlich hätte ich schon viel eher den Gedankenschluss erhalten müssen, dass Saruhiko ein einsamer Mensch war. Nicht nur, weil er kaum jemanden an sich heranließ und viele Personen auf unhöfliche Art und Weise abblockte, sondern...

„Du kannst jemanden anrufen", sagte ich zu ihm und schloss sein Zimmer im Hauptquartier auf. Den Raum betreten, war das Zimmer schlicht wie alle anderen Wohnräume in Scepter 4 eingerichtet.

Ein Schreibtisch vor dem Fenster, daneben ein recht großes Bett, mit Nachtschrank. In der anderen Ecke ein Kleiderschrank mit Spiegel. Im Flur, der über eine Wandgarderobe verfügte, führte direkt eine Tür zu einem kleinen Badezimmer, mit Dusche, WC und Waschbecken ab. Alles im allen nicht beengt und ausreichend für einen persönlichen Stil, ebenso einer Ergänzung von individuellen Vorlieben.

Saruhiko ging an mir vorbei und sah sich um. „Nein, danke."

Die Tür hinter mir geschlossen, folgte ich dem Neuzugang in meinem Clan und betrachtete ihn von der Seite. „Sicher? Du hast gerade einiges durchgemacht." Prüfend richtete sich mein Blick auf das frische T-Shirt, dass bereits wieder an seinem Rücken klebte. Nach wie vor steckte ihm die Angst und der Schrecken in den Knochen. „Es wäre nur verständlich, wenn du dich jemand anvertrauen möchtest. Vater, Mutter oder Geschwister? Ein Freund oder Freundin?"

Von jetzt auf gleich lachte Saruhiko los, sodass seine Schultern zuckten. „Mein Vater ist Tod, meine Mutter jettet durch die Welt und Geschwister habe ich keine, außer meine Erzeugerin hat sich einen neunen Kerl gesucht, aber dann hat man mich wohl vergessen."

Meine Lippen presste sich zusammen, bei dieser Aussage. Mit anderen Worten Saruhiko verfügte über kein Elternhaus oder schien Kontakt zu seiner Familie zu haben. Für mich undenkbar, denn ich war ein absoluter Familienmensch und besuchte meine Eltern und meinen Bruder, der inzwischen selbst verheiratet war und Kinder hatte, regelmäßig.

„Den Freund, den ich hatte, habe ich gerade verraten und die Freundin wird mich fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel, weil sie Misaki mehr mag als mich, also nein, ich will niemanden anrufen."

„Verstehe", kam es nur von mir, denn was sollte ich auf so harte und kalte Worte erwidern. Dieser junge Mann schien nicht viel Glück in seinem Leben gehabt zu haben. Umso erstaunlicher fand ich seinen Werdegang und das er nicht auf die schiefe Bahn geraten war.

Wenn ich Saruhiko seine Aussage noch einmal hören ließ, dann würde er vermutlich selbst merken, wie falsch seine Annahme damals war. Denn Mayumi Kawamura war zwar mit Misaki Yata befreundet und kurzweilig mit ihm zusammen gewesen, doch hatte sie immer ihn geliebt. Es war nur zu diesem Chaos gekommen, weil Saruhiko so verrannt in seiner Sichtweise war und Mayumi zu Misaki stieß, während Misaki der unkontrollierten Macht der Habgier verfiel und Mayumi nicht mehr gehen lassen wollte.

Alles aufgelöst, wie ein Schleier, den man fortzog, stellte sowohl Saruhiko als auch Mayumi fest, dass sie sich liebten und viel Zeit verschenkt hatten, als einmal ehrlich zueinander und sich selbst zu sein.

Damals wusste ich nicht, dass dieses Mädchen Mayumi Kawamura war und schon gar nicht hegte ich den Verdacht, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt das Herz von Saruhiko besaß. Heute wusste ich es besser.

Heute erklärte sich mir auch, wieso Saruhiko sich so schnell von den psychischen Misshandlungen des grünen Clans erholte. Mayumi musste ihn von diesen Ängsten befreit haben, bis diese nicht mehr vorhanden waren. Die Schrecken, die sein Vater ihm angetan hatte, davon hatte sich Saruhiko nie erholt und dies würde immer eine Angriffsfläche sein.

Die Straße überquert, senkte sich mein Blick.

Eine weitere Angriffsfläche war hinzugekommen, nämlich der Verlust von Mayumi und der anhaltende Streit mit Misaki. Bis auf unseren blauen Clan besaß Saruhiko kaum noch etwas.

Wie konnte ich ihm nur helfen? Ich brauchte jemand, dem er vertraute und vor allen zuhörte. In Gang stehen geblieben, drehte ich mich um und schlug einen anderen Weg ein, erhielt ich einen Geistesblitz wer meinem Clansman vielleicht noch helfen konnte.

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