Teil72
Wie sich herausstellte, waren sie im Haus allein. Beide Walküren hatten bereits bei Morgengrauen wieder Stellung im Wagen oder im Garten bezogen. Es war vereinbart, dass sie ihnen später unauffällig folgen würden, sobald sie sich in die Innenstadt aufmachten. Das war zudem nicht mehr allzu lang hin, denn die Männer hatten natürlich auch wieder länger im Bad gebraucht und das Frühstück in die Länge gezogen. Man hätte meinen können, dass sie nicht wirklich Lust auf die Preisverleihung hatten und irgendwie traf das auch zu. Natürlich wollte Rufus sehen, wie Jeremy gewann und natürlich wollte Jeremy nach allen Ereignissen der letzten Tage auch endlich, dass es passierte und vorbei wäre, aber eine seltsam angespannte Stimmung überkam sie, die wohl am besten als Vorahnung oder Ruhe vor dem Sturm zu beschreiben war. Jeremy sagte während des Frühstücks kaum ein Wort mehr und schaute immer wieder zu Rufus, wenn er glaubte, dass der es nicht bemerkte. Was sollte nur aus ihm selbst werden, wenn irgendwas schiefging und Rufus etwas passierte? Zu was wäre dieser Oliver überhaupt fähig? Jem versuchte den Gedanken so gut es eben ging wieder zu verdrängen und die Traumbilder der Nacht loszuwerden. Rufus war kein Teenager mehr, er könnte auf sich selbst aufpassen, er müsste sich nicht solche Sorgen machen.... Rufus wiederum tat sein Bestes, um nicht preiszugeben, dass er Jeremys Blicke bemerkt hatte. Er aß mehr als sonst, damit Jeremy nicht glaubte, es sei irgendwas nicht in Ordnung mit ihm und er erzählte von seinem neuen Theaterstück, auch wenn das gerade nicht wirklich das wichtigste Thema war, aber es sollte Jeremy ablenken, was es vielleicht auch tat. Wenn sich ihre Hände und Finger beim Zucker- oder Muffin- weiterreichen zufällig trafen, lächelte Ru Jem an. Auch das würde vielleicht helfen. Schließlich übernahm er das Aufräumen und Abwaschen, während sich Jeremy ein paar Notizen machte, nur für den Fall, dass er wirklich eine Dankesrede halten müsste. Was würde er sagen, wenn man ihm diesen Preis tatsächlich doch geben würde, obwohl er dem Publikum was vorgemacht hatte? In Gedanken berichtigte er sich selbst: Du hast ihnen gar nichts vorgemacht. Wenn, dann waren das die Typen von der Zeitung und June. Du hast alles richtiggestellt, wenn auch spät. Du hast dich geoutet, auch wenn das längst hätte klar sein müssen und auch wenn das überhaupt nicht von Belang sein sollte, jeder in der Royal Opera wusste das mit Rufus...
„Schau nicht so ernst", hörte er Rufus plötzlich sagen und schaute ihn an. Er hängte gerade das Geschirrtuch weg und sah aus, als hätte er sich bereits wiederholt. War Jeremy so sehr in Gedanken gewesen? „Morgen ist das alles vorbei und wahrscheinlich lachen wir darüber."
„Ich hätte gern was von deinem Optimismus", fand Jem.
Rufus grinste. „Hier hast du was davon", sagte er und kam zu ihm, um ihn zu küssen. Der Kuss war liebevoll und schmeckte nach saurem Apfel und Jeremy würde nie genug davon kriegen, aber sie mussten jetzt vernünftig sein. Rufus war es, der ihn beendete. „Besser?" fragte er mit einem Augenzwinkern.
„Viel besser." Jeremy versuchte ein Lächeln und bekam eines zurück. Also hatte seines gewirkt. Dann wurde es wirklich höchste Zeit. Jeremy checkte sein Handy und stellte fest, dass Peter bereits nachgefragt hatte, wo sie blieben. Er hatte einen Styling- Termin im Hotel organisiert und bestand darauf, dass beide pünktlich wären. Damit hatte sich auch die Überlegung erledigt, ob sie vielleicht lieber mit dem Taxi fahren sollten, denn um pünktlich zu sein, brauchten sie jetzt das Motorrad. Rufus ließ sich das nicht zweimal sagen und warf seinen Anzug und was dazu gehörte einfach in eine große Papiertüte und machte Tempo. Jeremy geriet kurz in Hektik, weil er seine Rede auf dem Küchentisch vergessen hatte. Als er zur Tür hinauseilte, lief das Motorrad schon warm. Jeremy fand seinen Helm nicht im Flur, dann grinste und fluchte er, weil er hinaus sah und feststellte, dass Rufus den schon mit nach draußen genommen hatte.
„Suchst du den?"
„Dammit, ja."
„Komm."
Jeremy setzte das Teil auf und schwang sich hinter Ru auf den Sitz.
„Langweilig wird es mit dir jedenfalls nie", rief er noch, dann brausten sie los.
Im Hotel wartete man bereits auf die Beiden. Die Stylisten waren längst angekommen und Peter führte gleich alle in den hoteleigenen Friseursalon. Als Rufus seinen Anzug aus der Tüte zog, rümpfte Peter nur die Nase und ließ die Sachen zum Aufbügeln an irgendein Zimmermädchen weitergeben. Jeremy musste noch zwischen einer Ausstattung von Westwood oder McQueen wählen. Beides sah für den Amerikaner nahezu identisch aus, aber Rufus behauptete sofort, Westwood wäre genau sein Ding und McQueen ginge gar nicht. Jeremy stimmte dem staunend und Kopf nickend zu, obwohl er es nicht verstand, welchen Unterschied Rufus da sah. Peter grinste, dachte sich seinen Teil über Jeremys fehlenden Sinn für Herrenmode, sagte aber nichts und die Stylisten schienen sehr zufrieden. Jeremy entschied nun, alles den Profis zu überlassen und legte sich in einem Frisiersessel ab, während Rufus in einer anderen Ecke des Salons das Gleiche tat. Auf die Frage, ob Jeremy irgendwelche speziellen Wünsche hätte, wusste er nicht recht was zu sagen. Der einzige spezielle Wunsch wäre eine Rasur von Rufus gewesen, aber das hatte er schon. Also gab er dem Stylisten völlig freie Hand, solange er die Haare nicht zu kurz schnitt, sodass man noch ordentlich hineingreifen konnte. Dem Typen reichte das als Vorgabe völlig und ihm schien auch an Jeremys Bedingung nichts ungewöhnlich. „Da sind zwei, drei erste graue Härchen", bemerkte der Typ nach dem Waschen und versprach, sie mit einer Tönung abzudecken. „Alles soll ja perfekt sein." Jeremy wusste, Rufus fand ihn auch mit den ersten grauen Härchen perfekt, ließ aber alles geschehen. Was würde der andere Stylist wohl mit Rufus machen? Schnell verdrängte er den Gedanken daran, dass sich ein anderer Mann an Rufus' Haar zu schaffen machte wieder. Wie kann man bloß eifersüchtig auf den Friseur sein? Er schaute in seinen Spiegel, um vielleicht einen Blick auf Rufus und seinen Stylisten zu erhaschen, aber der Mann stand so, dass er Rufus verdeckte. Also musste Jeremy abwarten. Halb amüsiert über sich selbst stellte er fest, dass er aufgeregter wegen des Stylings von Ru war, als wegen seines eigenen oder wegen der ganzen Gala überhaupt. Das war vielleicht gut so. Nach dem endlosen Fönen und Legen gab es noch etwas Bühnen Make-Up und der Typ deckte damit zu Jeremys Bedauern die Knutschflecke vom Morgen ab. „Es wird sowieso jeder im Saal neidisch sein", fand er grinsend.
„Ganz sicher wegen ihm, nicht wegen mir", bemerkte Jeremy und deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Rufus frisiert wurde.
„Da sind Sie zu bescheiden, Sir. Und Sie trauen mir als Stylist nichts zu." Kaum war das gesagt, ließ der Typ Jeremy in den Spiegel schauen. Und tatsächlich. Jeremy sah sich im Spiegel, wie er sich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Das Tape war weg, der Rest vom Bluterguss übergeschminkt, aber das war es nicht. Es war viel mehr das Strahlen in seinen blauen Augen, das so lange gefehlt hatte. Und jetzt, wo es zurück war, sahen die ersten Fältchen um den Mund auch aus wie Lachfältchen. Vielleicht waren sie dafür bestimmt gewesen... Und Jeremys dunkles Haar umspielte sein Gesicht in sanften Wellen, die seine hohen Wangen und das ausgeprägt männliche Kinn betonten. „Wow, dammit", konnte er nicht unterdrücken und der Stylist freute sich zusehends.
„Da habe ich wohl nicht zu viel versprochen", fand er.
„In der Tat nicht. Vielen Dank. Sie sind ein wahrer Künstler."
„Papperlapapp, ich bin nur so gut, wie das Material es hergibt," sagte er und zwinkerte Jeremy zu.
Jetzt konnte Jeremy seine Neugier wegen Rufus kaum noch unterdrücken, doch dann kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht noch spannender wäre zu warten, bis sie auch wirklich ihre Anzüge trugen. Also folgte er dem Stylisten, der ihn in eine Garderobe führte. Und tatsächlich stand ihm der Westwood- Anzug hervorragend. Das dunkle Blau des Stoffes betonte Jeremys dunkelblaue Augenfarbe und insgesamt saß alles perfekt. Jeremy drehte sich vor dem Spiegel und stellte fest, dass der körperbetonte Schnitt, den er selbst sich gar nicht zugetraut hätte, tat was er sollte und ihn extrem maskulin wirken ließ. Das musste man den englischen Schneidern wirklich lassen und Rufus hatte natürlich ein Auge dafür gehabt. Sogar am Po saß alles perfekt, wie er mit einer Drehung vor dem Spiegel feststellte.
„Was ist? Kommst du mal raus und zeigst dich?", hörte er Rufus plötzlich neugierig rufen. Dann war er also auch fertig gestylt. Jeremy holte nochmal Luft und wollte gerade wieder den nicht vorhandenen Bauch einziehen, als ihm einfiel, es endlich mal zu lassen. Im gleichen Moment schob Rufus auch schon ungeduldig den Vorhang auf und schien im ersten Moment sprachlos.
„Wow, Jem! Du siehst umwerfend aus!" Rufus ging wieder einen Schritt zurück, um Jem aus der Garderobe zu lassen.
„Jetzt komm und dreh dich mal!"
Jeremy schaute jetzt erst von seinem Spiegel zu Rufus, und völlig unvorbereitet auf seinen Anblick traf es ihn wie ein Schlag. Rufus hatte die Haare rot! Seine eigentlich natürliche Haarfarbe, wie in dem Alptraum von letzter Nacht! Jeremy blinzelte den ersten Schreck hinweg und riss sich zusammen. „D...du siehst auch aus, als wärst du ein Filmstar oder ein junger Gott", brachte er hervor und hoffte, dass Rufus nichts von seinem spontanen Entsetzen merken würde.
„Das Erste kann ich noch werden, beim Zweiten übertreibst du", sagte er amüsiert, „dabei schaust du als hättest du 'nen Geist gesehen."
Jeremy fluchte innerlich. Keine Chance, dem Jungen was vorzumachen...
„Alles okay, alles fantastisch! Ich war nur nicht vorbereitet auf das", sagte er, deutete auf Rus Haar und gab ihm schnell, vielleicht zu schnell, einen Kuss auf die Wange.
„Sollte ja auch 'ne Überraschung sein, aber irgendwas stimmt nicht, sonst wärst du nicht so... schnell mit dem Küssen fertig."
Rufus schaute Jem jetzt ernsthaft fragend an, sodass der schließlich aufgab und beschloss, ihm einfach von dem Traum zu erzählen. Es war schließlich nur ein blödes Nachtgespinnst und bedeutete bestimmt rein gar nichts. Rufus hörte zu und schien zu verstehen, was Jeremy beunruhigt hatte.
„Du glaubst, dass mir etwas passieren könnte, weil du mich im Traum als Kind gesehen hast, mit rotem Haar?"
„Ich habe dich mit rotem Haar gesehen, ja. Und ich dachte, es wäre ein Traum über deine Vergangenheit, aber was ist, wenn es eine Vorahnung war?" Jeremy war wirklich besorgt, das konnte Rufus deutlich merken. Er legte ihm beruhigend eine Hand an die Wange und sah ihm in die Augen.
„Jem, das ist nur die Aufregung und eine Nachwirkung der letzten Tage. Oder hattest du jemals irgendwelche Vorahnungen?"
Jem brauchte nicht zu überlegen. Nein, er hatte nie irgendwelche Vorahnungen gehabt. Sicherlich hatte Rufus recht und es war nur ein Traum, in dem er eine diffuse Angst um Rufus mit ihrer beider Vergangenheit vermischt hatte. Trotzdem blieb da so ein ungutes Gefühl.
„Sorry, ich bin wohl wirklich neben der Spur", sagte er zaghaft.
„Macht nichts, ist kein Wunder", gab Rufus zurück, „außerdem sehe ich in rot echt zum Fürchten aus", ergänzte er mit einem Lächeln.
„Spinner."
„Selber."
Jeremy konnte nicht anders, als jetzt über sich selbst zu lachen und wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich nochmal wieder in Rufus verliebt. Er schaute ihn an und Rufus schien beinahe Gedanken lesen zu können. „Wenn das heute Abend vorbei ist, werde ich den sexy Preisträger ganz langsam und nur mit den Zähnen ausziehen", flüsterte er Jem ins Ohr, sodass ihm die Vorstellung davon einen kleinen Schauer über den Rücken laufen ließ.
„Nichts da, ich bin dran", gab Jem gespielt protestierend zurück.
„Eben. Du bist sowas von dran..." Mit diesen Worten trat Rufus dichter an ihn heran, legte einen Arm um seine Hüfte und eine Hand in sein Haar und zog ihn für einen innigen Kuss zu sich. Jeremy stieg voll darauf ein und öffnete seine Lippen und überließ sich der Initiative von Ru. Seine Hände wanderten um ihn herum und an seinen perfekten Po und Jeremy war kurz davor, alles sonst um sich herum zu vergessen. Rufus küsste und Jeremy küsste und plötzlich musste Rufus glucksend lachen. „Was?", beschwerte sich Jem neugierig, weil der Kuss unterbrochen war. „Gleich muss das Zimmermädchen nochmal bügeln", bemerkte Ru mit einem Augenzwinkern. Jeremy musste jetzt auch lachen. Das ginge nun wirklich nicht.
„Wo bleib ihr denn?", hörte man plötzlich Peters Stimme vom Salon her.
„Wir kommen schon", gab Jeremy zurück und zwinkerte zu Rufus. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wir müssen jetzt los", fügte er flüsternd hinzu.
„Dann nimm doch mal deine Hände da weg", lachte Ru.
„Oh, dammit." Jeremy riss sich zusammen und los, dann gingen beide nach draußen.
>>>> zum Video: den Wagner musste ich einfach einfügen;) Es zeigt auch die Location der nächsten Kapitel, Royal Albert Hall
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