Teil62
Als Jeremy zurückkam, war Rufus bereits in der Küche und hatte Tee gemacht. Wenn der Junge eins war, dann effektiv, wenn es darauf ankam. Er hatte die Sache mit dem Motorrad geregelt, seinen Auftritt am Abend abgesagt, mit der Polizei telefoniert und einen Glaser und die Putzfrau organisiert. Nur das Gespräch mit Richard stand noch aus. Jem staunte nicht schlecht, obwohl er selbst auch alles andere als untätig gewesen war. Trotzdem wollte er erst mit Rufus frühstücken, bevor sie sich wieder mit Dingen beschäftigen müssten, die alles andere als schön waren. Ohne lange Vorrede packte Jeremy alles auf den Tisch, was zum Essen gedacht war und nahm sich einen Tee. Rufus freute sich, steckte den neuen Vorrat Himbeerkaugummi gleich in die Tasche und bedankte sich mit einem Kuss. Dann fiel er über den Nachschub an Schokolade und Keksen her. „Wir haben Glück gehabt, dass es letzte Nacht nicht geregnet hat", stellte er irgendwann fest, nachdem er den dritten Schokoladenmuffin regelrecht verschlungen hatte, „das Fenster oben ist totaler Schrott."
„Warst du nachsehen?"
„Ja. Und wenn ich mir vorstelle, dass Oliver einen von uns treffen wollte, dann wird mir ganz anders." Die Mischung aus Abscheu und Wut in Rufus' Stimme war nicht zu überhören.
„Er hat nicht getroffen", versuchte Jeremy zu beruhigen.
„Sie müssen ihn bald finden, bevor noch was passiert." Rufus schaute Jeremy jetzt eindringlich an. Offenbar machte er sich wirklich Sorgen. Konnte das sein? Hatte es Oliver tatsächlich darauf abgesehen, ihnen etwas anzutun? Da war dieser Moment in der letzten Nacht, wo Jeremy es sehen konnte, dass Rufus darüber nachdachte, sich mit diesem Psycho-Ex zu treffen, um wer weiß was zu tun, in der Hoffnung, dass dann der Alptraum ein Ende hätte. So ein Wahnsinn...
„Du traust ihm echt 'ne Menge zu", stellte Jeremy besorgt fest, „wie kommst du darauf?"
„Wie ich darauf komme?", Rufus wiederholte die Frage, als ob er nicht verstand, wie Jeremy sie überhaupt stellen könnte. „Als er gemerkt hat, dass du stärker bist als er, hat er ein Messer gezogen. Dann zersticht er meine Reifen, kommt hierher und wirft einen Stein durch's Fenster. Was macht er wohl als nächstes? Ich glaube, du oder ich oder wir beide haben ihn provoziert. Keine Ahnung womit. Vielleicht einfach damit, dass wir zusammen sind."
So wie er das sagte, ergab das schon einen Sinn, auch wenn Jeremy sich wünschte, es wäre nicht so. Er nahm sich mehr Tee und seufzte, als ihm noch ein anderer beunruhigender Gedanke kam. „Als ihr... zusammen wart, wie war er zu dir?" Er schaute Rufus fragend an.
„Was meinst du?"
Jeremy war sich selbst nicht ganz sicher, aber es musste doch irgendetwas zwischen Oliver und Rufus gewesen sein, was Rufus hatte glauben lassen, dass Oliver sein Freund sei. „Was ich meine ist, war er nett zu dir? Du musst doch aus irgendeinem Grund gedacht haben, dass er dich gern hat."
„Ich... weiß nicht mehr genau. Mir ging es furchtbar. Meine Eltern hatten diesen schrecklichen Unfall, mein Bruder war in Oxford und ich war plötzlich im Internat. Ich war allein und er war da. Er hat gemerkt, wie allein ich war und ich habe gemerkt, dass ich mehr von ihm wollte als Freundschaft."
„Also warst du verliebt?"
Rufus schien die Frage nicht zu überraschen, trotzdem fiel ihm die Antwort nicht leicht. „Naja, irgendwie schon. Aber ich war auch verliebt in Peter Pan und Spiderman. Nur war Oliver keiner von beiden und das ist mir nicht klar gewesen. Ich meine, ich habe bei Dingen mitgemacht, die man noch nicht machen sollte, wenn man so jung ist, nur um ihm zu gefallen oder so zu tun, als wäre ich reifer als ich war. Er als der Ältere hätte es besser wissen müssen."
„Hattest du den Eindruck, dass er in dich verliebt war?"
„Wieso fragst du das?"
„Na, weil ich versuche zu verstehen, was hier los ist. Ich glaube, dass du ein verdammt kluger Bursche bist und immer warst und dass du nie mit dem irgendwas gemacht hättest, wenn du nicht geglaubt hättest, dass er in dich verliebt war." Jeremy nahm instinktiv Rufus' Hand und da bemerkte er, dass sie kalt war, ungewöhnlich kalt. Er hasste es, sich vorzustellen, dass das von den Fragen kam, aber er musste einfach wissen, was diesen Oliver antrieb.
„Was macht das jetzt? Er hat mich manipuliert, angefixt und missbraucht. So war das."
„Ja, aber das muss er getan haben, weil er dich ...für sich wollte. Er muss das getan haben, weil er auf seine völlig kranke Art verliebt in dich war. Und vielleicht ist er das noch."
Rufus schaute Jem entsetzt an. „Ist es das, was du glaubst, dass Oliver mir all das angetan hat, weil er verliebt war?"
„Ich habe nicht gesagt, dass es echte Liebe war, wohl eher eine Art Besitzanspruch und Eitelkeit."
Rufus schien zu überlegen. Besitzanspruch, Eitelkeit, keine echte Liebe. Vielleicht hatte Jeremy recht, aber was machte das für einen Unterschied? „Was willst du damit andeuten?", fragte er zaghaft nach, so als fürchtete er die Antwort.
Jeremy suchte nach Worten, die Rufus nicht verletzten würden, nicht mehr als unbedingt notwendig.
„Was ist, wenn der immer noch glaubt, dass du ihm gehörst, einfach weil... er der erste war, der..."
„Hör auf", bat Rufus und schüttelte den Kopf, so als könnte er den Gedanken abschütteln, „das ist doch Wahnsinn. Er kann nicht nach all den Jahren glauben, dass er und ich zusammengehören. Wenn ich einen Menschen auf der Welt hasse, dann Oliver Jarvis-Milford!"
„Du ihn, ganz sicherlich. Aber er? Überleg doch mal. Du bist jetzt alles andere als der verängstigte, unreife Junge von damals. Du bist ein erwachsener, selbstbewusster, sexuell aktiver, höchst attraktiver junger Mann. Oliver sieht dich nach all der Zeit wieder, er erkennt dich trotz der anderen Haarfarbe sofort wieder und er macht seinen Besitzanspruch geltend."
„Wenn der ganze Irrsinn stimmt, dann... ist da jemand im Weg und zwar du." Rufus wurde schon bei der Vorstellung blass. Was, wenn Oliver es darauf abgesehen hätte, Jeremy etwas anzutun? Bevor der Stein durchs Fenster krachte war Jeremy derjenige, der über Rufus war. Rufus war unter ihm. Was immer geflogen kam, kam um Jeremy zu treffen. Jeremy nickte langsam. Das war genau die Idee, die ihm jetzt auch kam.
„Das ist wohl wahrscheinlicher, als dass er versuchen würde dir etwas anzutun."
„Du meinst Schlimmeres als Sex..."
Jeremy nickte wieder. Ja, es gäbe wohl auch noch Schlimmeres, mit dem vor allem er rechnen müsste. Zu was wäre dieser Oliver wohl fähig, wenn er die Gelegenheit bekäme? Jem versuchte jetzt ruhig und besonnen zu klingen, um Rufus Sicherheit zu geben.
„Er kriegt dich nicht, weil du mir gehörst und ich dir. Und die Polizei wird ihn finden", sagte er dann, „ich werde die gleich anrufen und ihnen sagen, dass er einen blauen Jaguar fährt. Die sind nicht so ganz häufig, nicht mal hier in London."
Rufus schaute überrascht. „Woher weißt du das?"
„Vom Inder am Park. Der hat was beobachtet und mir den Hinweis gegeben."
„Die können nicht jeden blauen Jaguar überprüfen..."
„Ach nein? Ruf deinen Bruder an und der macht denen mit Sicherheit genug Dampf."
Rufus grinste nachdenklich. Das könnte funktionieren. Richard war gut mit sowas. „Das könnte tatsächlich hinhauen", fand er.
„Gut. Dann mach es gleich. Je eher, desto besser."
Rufus nickte und nahm sein Handy, während Jeremy die Gelegenheit nutzte, die Polizei anzurufen. Die hatten inzwischen mit Olivers Eltern geredet und herausgefunden, dass die kaum noch Kontakt zu ihm hatten, oder zumindest behaupteten sie das. Ein Ex-Freund von Oliver hatte ausgesagt, dass Oliver selten in seiner Wohnung in Belgravia sei, sondern häufig für One-Night-Stands in die Wohnung des anderen oder in Hotels ging. Ein anderer Ex- Freund konnte noch eine zweite Adresse nennen, aber auch da war Oliver nicht. Beide Männer hatten Oliver als leicht reizbar und potentiell gewalttätig bestätigt. Auch wusste die Polizei von zwei abgebrochenen Therapien in den letzten Jahren. Jeremy gab den Tipp mit dem Jaguar und bedankte sich für die Bemühungen, auch wenn er sie noch längst nicht zufriedenstellend fand. Gleich darauf klingelte es an der Tür und er ließ die Putzfrau herein. Er war Mrs. Robins noch nicht begegnet und stellte sich ihr als Rufus' Freund vor. Mrs. Robins war eine stämmige, schon etwas ältere Dame, die in einem breiten Cockney Akzent sprach, den Jeremy nur mit Mühe verstand. Sie schien das zu merken, störte sich aber nicht daran und lächelte. „How luvvy, du bist also der Amerikaner", stellte sie einfach fest. Dann ging er mit ihr nach oben, wo das Chaos von letzter Nacht noch unberührt lag. Mrs. Robins wollte gleich erstmal den Staubsauger holen und Jeremy nutzte den Augenblick, um zumindest ein paar verstreut herumliegende Sachen wegzuräumen. Er hatte keine Ahnung, wie sehr die Frau an den Lifestyle von Rufus gewöhnt war und hielt es für besser, zumindest die Gleitcreme und Kondom wieder in die Nachttischschublade zu stecken und diese zu verschließen. Sein Hemd und noch ein paar Sachen, die voller Glassplitter waren, nahm er vorsichtig auf und entschied, sie besser in den Müll zu bringen. „Passen sie auf, das Glas ist überall", warnte er und ging wieder nach unten, während Mrs. Robins loslegte.
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