Teil57

Rufus war nicht sicher, ob er an diesem Tag wirklich sein Bestes auf der Bühne geben konnte. Zweimal erwischte er sich selbst bei einem Texthänger, was normalerweise nie vorkam. Aber es war wohl auch kein Wunder. Er war kein Roboter und die Ereignisse der letzten Tage waren nicht immer einfach wegzustecken. Seine Schauspiel-Kollegin nahm es gelassen und fand, das hätte keiner gemerkt, der das Stück nicht auswendig konnte. Rufus lächelte entschuldigend, nahm es für sich selbst aber ernster als er zugeben würde. Wenn er Texthänger hatte, hieß das, er war nicht bei der Sache, wenn er nicht bei der Sache war, war er nicht so gut wie sonst und das hasste er. Natürlich lag es an dem, was gestern Abend passiert war. Und natürlich hatte sich das am Theater herumgesprochen. Darum waren alle so verständnisvoll, doch wenn Rufus eins hasste, dann war es Mitleid. „Nur, weil mein Freund sich gestern geprügelt hat, muss ich hier nicht schlapp machen", zischte er einen Kollegen an, der sich erkundigen wollte, ob es ihm gut ginge. Das war nur die halbe Wahrheit. Jeremys blutige Nase und die Tatsache, dass Oliver ein Messer gezogen hatte war das eine, dass Rufus nicht glauben konnte, dass Oliver es dabei belassen würde, war das andere. Hätte er Richards Vorschlag, einen Body Guard zu engagieren akzeptieren sollen? Er verwarf den Gedanken wieder. Mit einem Freund, der so heftig zuschlug wie Jeremy, war das wohl nicht notwendig. Und er selbst war auch nicht zu unterschätzen. Trotzdem ließ ihm das alles keine Ruhe, sodass er in der Pause zwischen der Matinee und der Abendvorstellung bei der Polizei anrief, um sich zu erkundigen, ob die Oliver inzwischen festgenommen und verhört hätten. Das hatten sie jedoch nicht. Sie hatten lediglich die Speicherkarte aus dem zertretenen Handy gesichtet und darauf das Foto aus dem Park sichergestellt. Immerhin war das jetzt nicht mehr in Olivers Besitz, aber das wäre nach dem Outing auch egal. Olivers Verschwinden war da schon eher beunruhigend. Die Polizei würde ihn finden, sobald er Bank- oder Kreditkarten benutzte. Das war...seltsam. Oliver brauchte immer Geld, viel Geld. Wenn er keine Karte benutzte, dann, weil ihm jemand Bargeld gegeben hatte. Oder weil er gestohlene Karten nutzte? Wie kriminell war sein Ex..., nein er wollte ihn nicht Ex-Freund nennen, sein Ex- Dealer, Ex- ? Rufus lief ein Schauer eiskalt den Rücken hinunter. Allein sich vorzustellen, wie naiv er damals gewesen sein musste und wie verwirrt, wenn er jemals geglaubt hatte, dass dieser Typ wirklich sein Freund sein wollte. Das hing mit dem Kokain zusammen, erklärte er sich selbst, darum hast du nicht mitbekommen, was der eigentlich wollte und dass du noch längst nicht reif dafür warst. Oh, verdammt. Er war damals kaum ein Jahr älter als Richards großes Mädchen. „Lassen sie mich wissen, wenn es was Neues gibt", murmelte er ins Telefon, drückte den roten Hörer und ging, um sich eine Zigarette zu schnorren.

Die Abendvorstellung lief insgesamt nicht wesentlich anders, auch wenn der Text wieder stimmte. Trotzdem war Rufus nicht ganz bei der Sache. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die ganze Sache noch nicht ausgestanden war. Wenn Oliver etwas wollte, dann bekam er es. Er wusste, wie er es machen musste. Stell dich nicht so an, posh boy. Rufus versuchte, sich wieder zu konzentrieren, bevor er seinen Auftritt verpasste. Er müsste dringend in der nächsten Nacht mehr Schlaf bekommen, als in der letzten... Als der letzte Vorhang fiel, war er völlig ausgepowert, aber dann doch mit seiner Leistung zufrieden. Das Publikum hatte begeistert applaudiert und jetzt wären nur noch die Autogramme am Bühnenausgang zu erledigen, dann würde er zum Royal Opera House fahren und dort auf Jem warten. Beim Abschminken und Umziehen kam ihm der Gedanke, dass er nach dem Outing vielleicht auch mit weniger Gedränge seinetwegen rechnen müsste. Zwar wusste am Theater jeder und jede, dass er auf Typen stand, aber das galt nicht für die Zuschauer und es wäre auch völlig egal. Draußen gab es den üblichen kleinen Beifall und das übliche Anreichen von allem Möglichen, wo er seinen Namen schreiben sollte. Die üblichen Selfies, viel Lob und ein paar Fragen nach seinen Plänen. Rufus erwähnte den Broadway, immerhin war das inzwischen bestätigt. Nach und nach wurde es ruhiger und Rufus schaute sich um, ob auch nicht wie am Abend zuvor irgendetwas ungewöhnlich wäre. 

Da sah er es. Das Motorrad stand seltsam schief da, denn es hatte zwei platte Reifen. Auch das noch. Rufus verabschiedete sich von den letzten Fans, schaute nach den Reifen und ging zurück ins Theater, um dem Pförtner zu sagen, dass das Motorrad stehen bleiben würde. Der Mann nickte und empfahl Rufus einen Reparaturservice, den er morgens früh anrufen könnte. Früh. Das war so nicht vorgesehen. Rufus bedankte sich und ging wieder zur Tür hinaus. Er schaute sich erst um, denn ihm war klar, dass es nur eine Erklärung für zwei gleichzeitig platte Reifen gab, die so aussahen, als hätte jemand hineingestochen. Oliver. Und er konnte sich denken, dass der den Moment eines solchen Triumphes nicht verpassen wollte. Rufus schaute ins Dunkel des Hofs, konnte aber nichts entdecken. Da waren auch dunkle Fenster zum Hof, ein paar Feuertreppen und eine Mauer. Viel, zu viel Schatten, vor allem, wenn man darin etwas vermutete. „Ich weiß, dass du da irgendwo bist", rief er. „Bilde dir bloß nicht ein, dass mich das einschüchtert, du Großmaul." Rufus lauschte, ob man irgendwas hörte, aber nein. Dann ging er zügig, in der Mitte des Hofs zur Straße. Er versuchte so zu gehen, dass man ihm weder Zögern noch Eile anmerkte. Bloß keine Angst zeigen, das wäre genau das, worauf Oliver wartete. Bei der Straße angekommen, fühlte er sich trotzdem ungeheuer erleichtert und ging dann mit großen Schritten zum Opernhaus. Er würde sich später mit Jeremy ein Taxi nehmen.

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