Teil53

Jeremy hatte sich einen Platz im Hinterhof gesucht. Das Donmar lag zur Straße hin an einer der beliebten Gassen, die zum Covent Garden führten. Es gab hier viele kleine Läden und Geschäfte, die sich neben dem ehemaligen Warenhaus, was jetzt das Theater war, aneinanderreihten. Teilweise wurden diese vom Hinterhof aus beliefert und Ladenbesitzer oder Verkäufer kamen hier vor allem zum Feierabend vorbei. Als Jeremy eintraf, waren die meisten Läden schon geschlossen und Rufus' Motorrad stand wie immer an einer Wand. Jeremy war hinter einer Feuerleiter halb versteckt, zumindest so, dass ihn vorbeilaufende Angestellte und andere Passanten gar nicht bemerkten. Etwa eine halbe Stunde bevor die Vorstellung zu Ende ging, war praktisch nichts mehr los. Der Hof war nur von einer Straßenlaterne und ein paar erleuchteten Fenstern erhellt, was nicht gerade viel war. Eine Lampe über der Stage Door ging an, was bedeutete, dass bald die ersten Angestellten des Theaters den Hinterausgang nutzen würden. Wenn es wieder so laufen würde, wie am Abend zuvor, dann würde sich Oliver erst nach allen anderen Fans zum Bühnenausgang begeben und er würde warten bis Rufus mit Autogrammen fertig war. Jeremy war inzwischen kalt geworden, aber als die ersten Fans kamen, wurde ihm wieder warm. Er war aufgeregt. Bald hatte sich eine kleine Gruppe versammelt und die meisten von ihnen hielten ihr Handy oder das Programmheft oder beides in Händen. Die Schauspielerin, die Rosalind spielte, kam als Erste und wurde jubelnd empfangen, dann kam einer der älteren Schauspieler, noch eine junge Frau und zwei Typen. Alle gaben routiniert und nett Autogramme und machten Selfies. In Rufus' Garderobe war noch Licht. Dann kam jemand durch die Toreinfahrt hinein, als die ersten Schauspieler bereits in diese Richtung verschwunden waren. Er wartete kurz an einer Ecke und schaute in die Gruppe am Bühnenausgang. Er trat nicht hinzu und blieb an der Ecke, die etwas im Dunkel lag, stehen. Jeremy versuchte mehr von ihm zu sehen, aber im Grunde konnte das nur Oliver sein. Der Wartende war etwa mittelgroß, von normaler Figur und soweit Jeremy es wegen der Dunkelheit einschätzen konnte, ein junger Mann etwa um die dreißig. Das passte. Der Typ sah auf sein Handy, dann zündete er sich eine Zigarette an. 

Jeremy wünschte sich, er hätte Rufus gefragt, wie Oliver überhaupt aussähe, aber er würde es schon herausfinden. Als in Rufus' Garderobe das Licht ausging, hob der Typ kurz den Blick zum Theater und Jeremy sah, wie er seine Zigarette austrat. Kurz darauf gab es erneut Applaus an der Stage Door und die Fans drängten sich dichter an die Tür. Jeremy erkannte Rufus' Lockenkopf in der ungefähren Mitte. Er sprach mit den Fans. Soweit Jeremy sehen konnte, schaute der Typ von der Ecke ebenfalls in die Richtung von Rufus. Jeremy nutzte jetzt die Gelegenheit und kam vorsichtig und leise die Leiter hinunter und achtete darauf, selbst im Halbdunkel zu bleiben. Inzwischen kamen auch einzelne Theaterfans, die ihr Autogramm hatten, in seine Richtung und Jeremy beschloss, nicht länger zu warten. Er trat neben den Typen. „Was gibt's denn da zu sehen?", fragte er wie zufällig. Der Typ schaute nur halbherzig zu ihm her. „Typen vom Theater", kam es nur knapp zurück. Jeremy beschloss, mutiger zu sein. „Und was treibt dich hierher, Oliver?" Jeremys Puls begann spürbar zu schlagen. Wenn es Oliver war, was würde er tun?

Der Typ schaute ihn jetzt direkt an. Es war zu dunkel, um ihn genau zu sehen, aber dafür erkannte der jetzt ihn.

„Da sieh mal einer an. Die geile Opernschwuchtel." Der Ton klang weniger überrascht als höhnisch. Jeremy fragte sich, ob es irgendwas gab, was ihm diesen Oliver noch unsympathischer machen konnte als sowieso schon. Ja, das ging. Seine Stimme war und klang ätzend. Oliver verschränkte arrogant die Arme vor der Brust.

„Das muss von dir kommen, du mieses Stück", gab Jeremy zurück, um Zeit zu gewinnen.

„Was willst du hier? Eifersüchtig?", ätzte Oliver weiter.

„Auf einen Erpresser und Kinderschänder? Wohl kaum." Jeremy bemühte sich um einen ruhigen Ton und eine nicht aufgeregte Tonlage. Bloß keine Schwäche oder Angst zeigen!

„Ei, ei, ei. Seit wann ist seine Lordschaft denn so gesprächig? Dann weißt du ja, weshalb ich hier bin." Oliver klang noch immer höhnisch. Was für ein Mensch war das nur? Und wie widerlich war die Vorstellung, dass der und Rufus... Jeremy zwang sich, klar zu denken. „Ich bin hier, um dir zu sagen, dass du machen kannst was du willst, aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Rufus gehört zu mir und ab morgen ist das kein Geheimnis mehr. Also verzieh dich." Jeremy sprach noch immer leise, denn es kamen weitere Fans von der Stage Door an ihnen vorbei, um die Straße zu erreichen. Es waren nur noch wenige bei Rufus, der offenbar weder Oliver noch Jeremy an der dunklen Ecke bemerkt hatte. Oliver jedoch wurde jetzt lauter. „Du glaubst allen Ernstes, dass das so einfach ist? Nicht mit mir!"

„Nein, aber es kann auch nicht so schwierig sein, für dich, zu kapieren, dass du keinen Schaden anrichten kannst, der mir und ihm nicht völlig egal wäre." Jeremy blieb noch immer ruhig.

„Ach ja? Glaubst du wirklich, du könntest ihn halten, alter Mann? Rufus mit dem geilen Himbeermund, unersättlich und schneller wieder weg als er kommt!" Oliver klang jetzt beinahe triumphierend. Was machte den so siegessicher, wenn man erzwungenen Sex oder einen ruinierten Ruf überhaupt als Sieg verstehen konnte? Jeremy geriet jetzt wider besseres Vorhaben in Rage.

„Das nimmst du zurück", drohte er.

„Was?", fragte Oliver wieder höhnend, „den alten Mann oder den geilen Mund?"

„Du nimmst beides zurück, sonst passiert was." Jeremy war sich im Grunde nicht sicher, womit er da drohte, aber instinktiv ballten sich seine Fäuste.

„Ich glaube echt, ich krieg gerade tierischen Schiss. Oder 'n Ständer? Mich hat noch nie 'ne Opernschwuchtel bedr...", weiter kam er nicht. Jeremy packte ihn plötzlich mit beiden Händen am Kragen und stieß ihn hinter sich an die Hauswand. Der Schwung war so heftig, dass Oliver japste und sein Handy aus der Hosentasche fiel. Jeremy machte einen Schritt vor und trat drauf. Wenn das Foto darauf war, war es jetzt vielleicht im Arsch. Oliver aber war nur im ersten Moment überrascht und begann sich zu wehren. Er packte Jeremys Hände mit seinen und schob sie von sich. Jeremy packte wieder zu und klammerte am Kragen. Oliver verpasste ihm sogleich eine heftige Kopfnuss. Der plötzliche Schmerz am Nasenansatz ließ Jeremy loslassen und er hielt sich die Nase. Er konnte Blut schmecken, dass in seinen Mund tropfte. „Na warte, du blödes Arschlosch", stieß er aus und holte mit einem rechten Haken nach Oliver aus. Dem flog von dem Aufprall der Kopf zurück an die Wand. Er spuckte einen Zahn aus und warf sich mit beiden Fäusten auf Jeremy, der sich gerade noch ducken konnte, sodass Olivers Schwung daneben ging und er zu Boden stolperte. „Bleib unten oder ich mach dich fertig", drohte Jeremy. Aber Oliver raffte sich wieder hoch. Er holte aus und traf Jeremy mit einem Kinnhaken. Jeremy sah kurz Sterne, dann verpasste er Oliver auch einen. Der ging wieder zu Boden. „Bleib unten, Wichser", drohte Jeremy wieder. Plötzlich kamen Stimmen und eilige Schritte aus der Richtung des Bühnenausgangs. 

„Hey, was ist da los?" 

„Aufhören!" 

„Spinnt ihr?!" 

„Oh shit, da ist 'ne Prügelei!"

Oliver kam wieder hoch und schlug erst mit rechts, dann mit links nach Jeremy, dem es jetzt reichte, sodass er ihm direkt in den Magen trat. Oliver schrie auf, ging erneut zu Boden und hielt sich die Magengrube. 

„Reicht das jetzt?!", rief Jeremy und drohte mit der Faust. Oliver prustete. Er blutete aus dem Mund.

„Durchlassen, lasst mich durch!", hörte man plötzlich Rufus' Stimme.

„Bleib weg, ich regle das hier", rief Jeremy ihm zu.

Rufus blieb einen Augenblick wie versteinert. Offenbar konnte er nicht sofort glauben, was er da sah. Oliver lag blutend auf dem Asphalt und Jeremy, mit Blut im Gesicht, rief, er solle unten bleiben. „Aufhören", stieß er hervor.

„Du sollst unten bleiben, du Miststück!"

Oliver versuchte wieder, sich aufzurappeln. Kaum war er halbwegs oben, da sah man, dass er ein Messer aus der Tasche gezogen hatte. Rufus schrie entsetzt auf, wich aber nicht zurück. „Jem, pass auf!"

Irgendjemand rief, man müsse die Polizei holen. Jeremy begann, Oliver langsam zu umkreisen. „Wirf das Ding weg, denk nicht mal dran...", sagte er beinahe beschwörend. Aber Oliver schien sich seiner Sache sicher. Er schnellte plötzlich vor und versuchte, einen Treffer zu landen. Mit dem Messer verfehlte er Jeremys Schulter nur knapp und geriet dabei ins Straucheln. Jeremy nutzte den Moment und trat blitzschnell nach Olivers Hand mit dem Messer, das jetzt im hohen Bogen auf dem Boden landete. Oliver wollte ihm gerade nachhechten, da war Rufus schneller und trat so dahinter, dass das Messer irgendwohin, quer über den Hof schlidderte. In dem Augenblick kamen zwei von den Theater- Leuten zu Hilfe und hielten Oliver fest. Rufus war sofort bei Jeremy und musste ihn im ersten Moment davon abhalten, nochmal auf Oliver loszugehen. Er hielt ihm die Arme fest. „Beruhig dich, Jem, ganz ruhig, die haben ihn..."

Jeremy sah um sich und erkannte, dass Rufus recht hatte.

„So ein Mistkerl, der wollte nicht unten bleiben..."

„Schhhht, ist gut. Ist gut", versuchte Rufus ihn zu beruhigen. Er selbst begriff gar nicht, wie er in dieser Situation so ruhig bleiben konnte. Oliver hatte gerade versucht, Jeremy mit einem Messer anzugreifen! Aber es war nichts passiert. Wie es aussah, war Jeremy ein besserer Kämpfer, als man meinen sollte. Langsam beruhigte er sich wieder. Rufus hielt Jeremy jetzt im Arm und schlug vor, dass jemand die Polizei rufen sollte. Eine junge Frau übernahm das mit ihrem Handy. Die Lage schien schon unter Kontrolle, als sich Oliver plötzlich wand und losriss. Die zwei Typen vom Theater waren so überrumpelt, dass sie nichts tun konnten und die Umstehenden schrien entsetzt und wichen ängstlich zur Seite, als Oliver die Toreinfahrt entlang rannte und in Richtung Straße türmte. Einer der Männer versuchte noch hinter ihm herzulaufen, gab dann aber auf. „Und weg ist er", sagte Jeremy enttäuscht. 

„Egal, jetzt wird die Polizei ihn suchen", stellte Rufus fest, „Was ist mit dir? Hast du was abgekriegt?"

Jeremy hatte daran noch gar nicht gedacht. „Ich glaube nicht. Vielleicht die Nase."

„Leg den Kopf nach hinten", schlug Rufus vor. Dann fragte er, ob jemand ein Taschentuch hätte und irgendjemand reichte Jeremy eines. Gleich darauf sah man am Ende der Toreinfahrt einen Streifenwagen mit Blaulicht erscheinen und zwei Polizisten stiegen aus. So wie es schien, würde es am Ende ganz andere Schlagzeilen geben, als sie noch am Nachmittag angenommen hatten. Jeremy sprach es direkt aus. „Das werden tolle Schlagzeilen. Operntenor attackiert Ex-Freund seines Liebhabers."

„Das sehe ich anders", fand Rufus, „Tenor schlägt gewalttätigen Erpresser in die Flucht."

Jeremy versuchte ein Lächeln, trotz gebrochener Nase. 

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