Teil51
Jeremy ging mit Rufus an den Küchentisch, wo sie sich einen Tee machten und die Hobnobs öffneten. Es wäre wohl an der Zeit, dass sie sich darüber klar würden, ob es noch irgendwelche Dinge gab, die zwischen ihnen stehen könnten.
„Okay, Liebster. Es wird Zeit, für die ganze Geschichte. Dann haben wir zwei keinerlei Geheimnisse mehr voreinander und alles andere ist mir egal", begann Jeremy.
„Also gut. Fängst du an?"
„Das kann ich gerne tun. Das meiste weißt du schon. Meine Familie stammt aus Philadelphia, wo sie schon seit Generationen lebt. Mein Urgroßvater hat Klaviere gebaut und Gitarren, meine Großmutter war eine begabte Geigerin, mein Großvater und mein Vater arbeiteten für einen Notenverlag. Meine Mutter spielt Harfe. Musik war, abgesehen von der Kirche, mit das Wichtigste."
„Da waren die doch bestimmt stolz, weil du so musikalisch bist", fand Rufus.
Jeremy lächelte halb bitter. „Anfangs schon. Aber meine Familie gehört auch zu den Quäkerfamilien in der Gegend. Und zwar zu den konservativeren. Weißt du was das heißt?"
„Keine Ahnung. Ihr seid religiös? Fundamentalistisch?" Rufus riet jetzt, aber im Grunde konnte das ja nur so sein, wenn sie Jeremy verstoßen hatten.
„Ja genau. Mein Vater gehört noch zu den Menschen, die die Bibel wörtlich nehmen. Du kannst dir vorstellen, was das für mich bedeutet."
„Schon klar, du wirst in der Hölle schmoren. Oh fuck."
Jeremy zog überrascht eine Augenbraue hoch. Er hatte Rufus noch nie fluchen gehört, jedenfalls nicht mit solchen Worten, aber das schien irgendwie passend.
„In der tiefsten überhaupt. Allein der Plan, nach New York zu gehen, um dort zu studieren hat eine Menge Überredungskunst von meiner Mutter gekostet. Mein Vater hielt das für reine Eitelkeit und viel zu gefährlich. Und ich hatte nichts anderes im Kopf als Musik und ich meine nicht nur Kirchenmusik und Choräle. Ich wollte mehr und einer von den Besten werden."
„Das war wohl die Eitelkeit, die dein Vater meinte." Rufus schien genau zu verstehen. Ihm war auch klar, welche Gefahren im Big Apple lauerten: „Da hast du David kennengelernt."
„Ja." Ein Lächeln huschte bei der Erinnerung an den attraktiven Blonden kurz über Jeremys Gesicht. "Dass ich schwul bin, habe ich da auch erst gemerkt. Ich war tatsächlich so naiv zu glauben, dass man Frauen erst dann begehrt, wenn man verheiratet ist. So jedenfalls hat es mir mein Vater immer erklärt."
Rufus grinste nur im ersten Moment, weil das so absurd klang, dann begriff er, welche Unsicherheiten und inneren Kämpfe Jeremy ausgestanden haben musste.
„Das nennt man wohl einen Spätzünder", fuhr Jeremy fort, „aber dann bin ich auch senkrecht gestartet."
„Wusstest du, dass deine Familie das ablehnen würde?"
„Ja und nein. Ich wusste, dass sie echte Hardliner sind, aber die Stimmung damals war insgesamt sehr im Aufbruch. Schwule und Lesben wurden nicht mehr kriminalisiert, überall waren Demos und Kundgebungen. Was mit den Hippies und Blumenkindern begonnen hatte, sollte weitergehen. Und David kam aus einer sehr liberalen Familie. Also dachte ich, vielleicht lassen sich meine Leute auch überzeugen. Aber das war nicht so. Für meinen Vater war klar, dass ich zu den Gottlosen gehöre und damit nicht mehr zu seiner Familie."
Rufus nickte verständig. Es tat ihm immer selbst etwas weh, wenn er sah, wie Jeremy von seinen schmerzhaften Erinnerungen eingeholt wurde. Also ließ er ihm Zeit und wartete, bis er etwas Tee getrunken hatte. Dann fragte er, was vielleicht die wichtigste Frage überhaupt war.
„Wie kam es dazu, dass David den Virus hatte, du aber nicht?" Er schaute Jeremy direkt an, um zu sehen, ob er Worte gefunden hatte, die ihn nicht noch mehr verletzten. Für Rufus war klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder David hatte noch Sex mit jemand anderem oder er hatte sich auf ganz anderem Weg infiziert. Jeremy würde es wissen und Rufus sollte es vielleicht auch erfahren, wenn sie sich schon alles erzählen wollten. Jeremy zögerte.
„Du musst nichts sagen, eigentlich macht es keinen Unterschied. Was zählt ist, dass du es nicht hast", setzte Rufus dann hinzu.
Jeremy blinzelte dann, als würde er sich zusammenreißen und begann zu erzählen. „Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich. Aber es war nicht so, wie man meinen sollte. Da waren nur wir zwei, keiner sonst. Aber da war diese Kundgebung, die aus dem Ruder gelaufen ist. David war nicht nur für die Sache engagiert, er war die Sache und wenn er der letzte auf dem Planeten gewesen wäre, hätte er noch für gleiche Rechte gekämpft und eine Regenbogenflagge gehisst. Christopher Street Day war wichtiger als Weihnachten. Und ausgerechnet da ist es passiert. Irgendein durchgeknallter Typ hat ihn am Rednerpult mit einer Spritze angegriffen, weil er Schwule für AIDS verantwortlich machte und ... sich so rächen wollte, oder was weiß ich, was in so einem Typen vorgeht. Ich war irgendwo hinter der Bühne, Luftballons mit Helium füllen und der Typ rief so'n Mist wie "AIDS- Fuckers go home" und "burn in hell". Ich hätte nicht bei diesen blöden Ballons, sondern bei David sein müssen, dann wäre das vielleicht nicht passiert."
„Das ist nicht deine Schuld. Wärst du dazwischen gegangen, hätte es dich auch und so euch beide treffen können." Rufus wollte irgendwas Tröstendes sagen, und etwas Besseres fiel ihm nicht ein. „Tut mir leid, ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie das für euch war. Wann... wie habt ihr es gemerkt?"
Jeremy lächelte, weil er merkte, dass Rufus zwar mit den Worten kämpfte, aber seine Gefühle waren absolut echt. Manchmal war er einfach so jung...
„Das war 1999. Man stirbt ja nicht gleich an dem Mist. Wir haben eben das Beste daraus gemacht. Richtig schlimm waren die letzten zwei Jahre, nachdem der Virus ausgebrochen war. Aber die schlimmste Zeit zeigt einem nur, wie viel mehr die beste Zeit wirklich wert ist. Wir hatten eine richtig tolle Zeit zusammen."
Rufus lächelte jetzt auch. „Das ist schön."
„Ja ist es. Und jetzt habe ich dich."
„Das hast du. Bin ich jetzt dran?"
„Ich denke schon, wenn es da noch etwas gibt, dass du mir lieber sagen möchtest. Ich find's jedenfalls gut, dass du jetzt meine Geschichte kennst." Jeremy war wirklich erleichtert und wuschelte Rufus erstmal zärtlich durchs Haar, einfach um ein bisschen die Anspannung gehen zu lassen.
„Das Haar färbe ich nur für den Orlando", begann Rufus, „wenn der Job vorbei ist, dann bist du mit 'nem Rotschopf zusammen. Der Regisseur fand, schwarzes Haar sehe romantischer aus."
„Da bin ich schon sehr gespannt", bemerkte Jeremy. Rufus begann, den Kopf zu schütteln.
„Romantisch ist eigentlich das, was ich wohl überhaupt nicht bin." Rufus fiel es nicht leicht, was er jetzt sagen wollte, aber wenn er es nicht tat, dann würde er seine eigenen Regeln nicht befolgen und das wollte er auf keinen Fall. „Das solltest du wissen, finde ich. Ich bin ... eher rastlos und ich bin ein ... Ex-Junkie. Was ich meine ist, ich bin seit Jahren clean, aber die Gefahr eines Rückfalls wird zeitlebens bleiben. So haben die es mir in der Therapie erklärt und so fühlt es sich auch an, manchmal. Wenn ich Langeweile krieg, ist es am schlimmsten. Was dagegen hilft ist... Sex. Bis du gekommen bist, war mein Leben sowas wie ein Tanz auf dem Vulkan. Ich konnte nicht lange ohne Typen sein, aber auch nicht gerade lange mit. Normalerweise mache ich 'nen Rückzieher, bevor ... es zu eng wird. Das einzige, was ich je richtig gemacht habe, ist wohl, dass ich nie wieder so einen echt miesen Typen wie Oliver an Land gezogen habe. Ein paar waren richtig klasse Jungs und ich hab trotzdem 'nen Rückzieher gemacht. Du kennst doch Eric?"
Jeremy runzelte fragend die Stirn. „Wen?"
„Er ist Beleuchter im Donmar. Wir waren etwa sechs Wochen zusammen. Erst war's toll, weil ich ihn sexy fand und dann habe ich mich beobachtet gefühlt, weil er immer da war. Das war Schwachsinn, aber ich hab's nicht ausgehalten. Einmal war ich mit 'nem Tänzer zusammen. Aber beim nächsten Engagement bin ich weg von ihm. Ein anderer war Stuntman bei 'nem Film, wo ich dabei war. Ich habe gleich die Biege gemacht, nachdem er mir seinen zweijährigen Sohn gezeigt hat. Und so weiter und so weiter. Ich bin wirklich nicht stolz drauf, ich konnte nicht anders. One-Night-Stands waren meist die bessere Lösung. Keine Fragen, keine Verpflichtung, keine emotionalen Anstrengungen, keine Enttäuschungen."
„Rufus, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", sagte Jeremy ganz ruhig.
„Am besten gar nichts. Ich kann dazu auch nichts weiter sagen. Einige von ihnen haben mir etwas bedeutet und mir das Gefühl gegeben, dass ich ihnen was bedeute, bei anderen war's egal. Und bevor du fragst: Nein, das waren meist Typen ungefähr in meinem Alter. Ich steh nicht automatisch auf Ältere, auch wenn Oliver das behauptet."
Jeremy war nicht wirklich überrascht von dem, was Rufus erzählte. Ganz am Anfang war es genau das, was er sich gedacht hatte. So direkt und schnell, wie Rufus bei der Sache war, konnte das nur etwas sein, worin er Übung hatte. Aber das war Jeremy egal gewesen. Er wollte sich aufreißen lassen und warum nicht von einem heißen, jüngeren Typen und wenn es genauso schnell vorbei gewesen wäre, wie es angefangen hatte, dann wäre es ihm damals auch egal gewesen. Dachte er.
"... Und du bist der erste, seit ... Oliver, mit dem ich... der mich, du weißt schon..."
Jem nickte zögerlich. Was hatte er eigentlich gedacht? Dass Rufus bisher zu jung und unerfahren gewesen war, um sich a tergo hinzugeben? Er empfand jetzt Wut über diesen Oliver und Schmerz und Traurigkeit zu gleich. Was hatte der so einem jungen Menschen bloß angetan?! Rufus hatte inzwischen weiter geredet...
"...und ich glaube, dass ich so ein guter Schauspieler bin, weil ich es kaum aushalte, ich selbst zu sein. Außer... bei dir. Du hältst dich an die Regeln und deshalb krieg' ich das auch hin. Zum ersten Mal, wenn ich ehrlich bin."
Jem wollte jetzt unbedingt irgendetwas Schönes sagen, weil Rufus das ja auch getan hatte.„Rufus, selbst wenn ich könnte, würde ich nichts anders machen in meinem Leben, denn es hat mich hierher geführt. Zu dir und genau jetzt. Und ich werde nie wieder irgendwem erklären müssen, warum ich so bin wie ich bin, denn du hast mich so ausgewählt. Und das ist es, was ich sagen werde, wenn es zu diesem Outing kommt. Der einzige Preis, den ich will, bist du. Und du bist auch der beste Preis."
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