Teil35
Jeremy war extrem erleichtert. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, dann wäre es ihm äußerst schwer gefallen, oder gar unmöglich gewesen, an diesem Abend die gleiche Höchstleistung zu bringen wie zuvor. Dass der Pförtner ihm die Solidarität der Mitarbeiter des Opernhauses versichert hatte, machte es ihm deutlich leichter. Es war eine völlig andere Sache, den Idioten von der Presse oder der Jury etwas vorzugaukeln, als sich wirklich von den Menschen, die um ihn herum arbeiteten bespitzelt oder kritisiert zu fühlen. Sicher gab es immer jemanden, der sich daran stören würde, wenn jemand nicht in den angeblich normalen Rahmen passte, doch es gab auch die vielen anderen, die sich im rechten Moment hinter ihn, auf die richtige Seite stellten. Den Gedanken, dass irgendjemand dennoch über Rufus und ihn getratscht haben musste, dass da irgendjemand seine Bedenken gegenüber dem Typen von Opera Now und seinem Manager geäußert haben musste, verdrängte er schnell wieder. Vielleicht wäre es besser, wenn er es gar nicht wüsste. Dann könnte er die Sache bald vergessen, egal ob mit oder ohne Preis.
Als er in der Maske war, kam June dazu. „Hi Jeremy, wie geht's? Hast du schon unser Interview gelesen?"
Sie schien einigermaßen begeistert zu sein.
„Hi June, nein, habe ich nicht." Er wollte auch nicht darüber reden.
„Die haben mir den ganzen Artikel und die Fotos bereits per Mail geschickt. Wenn du magst, leite ich dir das weiter."
„Ganz ehrlich? Was soll ich damit. Du glaubst doch nicht, dass mich das wirklich interessiert." Jeremy klang jetzt genervter, als er eigentlich wollte. Es war ja nicht ihre Schuld, dass man sie beide als Traumpaar vermarkten wollte.
Sie bemerkte seinen Ton natürlich und wirkte jetzt, wenn nicht ein wenig beleidigt, so doch zumindest in ihrer Begeisterung gebremst. „Wie kann dich das nicht interessieren? Das ist unsere Chance, ganz groß herauszukommen! Davon träumt doch jeder in dem Business."
Jeremy war es eigentlich unangenehm, vor den Maskenbildnern überhaupt darüber zu reden, aber er konnte das auch nicht so stehen lassen. „June, das ist es ja. Ich sehe das alles oder will das alles nicht als Business sehen. Ich liebe Musik über alles. Ich bin ein Sänger. Ich will Musik interpretieren und Menschen erreichen. Ich will nicht eine Show abziehen." Er machte eine kurze Pause, denn ihm fielen die Worte von Rufus am ersten Tag ein. „Keine Lügen, keine Schuldgefühle", setzte er hinzu.
Sie schaute ihn mit großen Augen verständnislos an. „Kann es sein, dass du dich verändert hast, Darling?"
Vielleicht traf sie damit den Nagel auf den Kopf. Vielleicht war er aber auch erst jetzt wieder er selbst, nachdem er sechs Jahre völlig neben der Spur gewesen war. Er wandte sich an die Maskenbildner. „Würden Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen?" Die beiden nickten und einer sagte, sie hätten höchstens zehn Minuten. Die Vorstellung würde bald beginnen.
„June", begann er, „es tut mir leid, wenn du mich für jemand anderen gehalten hast. Aber ich bin wer ich bin und was ich immer war. Ich mache das alles hier nur mit, damit du und der Maestro und die anderen, die hart für den Grimes gearbeitet haben, nicht meinetwegen leer ausgehen. Mir wird regelrecht körperlich schlecht bei dem Gedanken, dass meine Sexualität dabei überhaupt irgendeine Rolle spielt. Mein Grimes ist ein Außenseiter und ich spiele ihn nicht besser oder schlechter, weil ich schwul bin." Er blickte sie an und suchte nach Verständnis in ihrem Blick. Sie schien leider noch immer nicht vollständig zu begreifen.
„Warum ist das jetzt auf einmal so wichtig? Das war doch...nie... dein Thema?", fragte sie gereizt.
„Na, weil ich mich sechs Jahre lang nicht outen musste. Es war nicht wichtig, weil ich... allein war." Beinahe hätte er einsam gesagt, aber da war ja die Musik.
„Du warst nicht allein. Ich war da", bemerkte sie jetzt bestimmt.
Oh dammit. Damit hatte sie recht. Sie war für ihn da gewesen. „Das ist doch etwas völlig anderes. Wir sind Freunde und wir stehen gemeinsam auf der Bühne. Und du bist die Einzige, die weiß, wie sehr ich gelitten habe, seit David. Dass meine Karriere nach seinem Tod erst so richtig in Fahrt gekommen ist, ersetzt ihn nicht." Jeremy hatte geglaubt, dass ihr das klar war.
„Aber dieser Rufus, der kann ihn ersetzten?" Da war ein vorwurfsvoller, beinahe spöttischer Unterton in ihrer Stimme.
Jeremy gefiel das, was sie sagte, wie sie es sagte, überhaupt nicht, doch er blieb umso ruhiger und sprach mit Nachdruck. „Ja June, ich glaube, das kann er. Und mehr als das, er ist Rufus und will und soll gar nicht David sein. Ich bin verliebt." Er hoffte, sie damit erreicht zu haben, denn bessere Worte hatte er nicht für das, was er empfand und gesagt hatte.
„Er ist ein...verzogener..., eingebildeter Bengel! Und er wird deine Karriere ruinieren, sobald er seinen Spaß mit dir gehabt hat." Sie schaute schnell zu ihm, um zu sehen, wie er ihren Vorwurf aufnahm und ob er dem was entgegen zu setzten hätte.
„Du... kennst ihn nicht. Er ist... anders. Er weiß, was er will und er holt es sich. Und er will...mich. Und das vollkommen bedingungslos. Spaß ist dieses Versteckspiel und diese ... Demütigung durch völlig Fremde bestimmt nicht für ihn." Jeremy wurde sich dessen überhaupt erst jetzt bewusst. Aber das war es. Der Junge, den er liebte, der ihn liebte, ließ sich seinetwegen demütigen. Wie sollte er das nur je wieder gut machen?
„Diese reichen Jungs sind alle gleich, glaube mir", hörte er June verächtlich sagen.
„Sag das nicht. Wenn er morgen kommt, kannst du ihn besser kennenlernen." Jeremy wollte nicht mit ihr streiten, er wollte sie überzeugen.
„Das glaubst du?"
„Ja sicher doch."
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