Teil3
Jeremy überlegte sich im Taxi, ob er etwas sagen könnte, das nicht zu peinlich wäre. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, als die schlichte Wahrheit. Filmriss. Als er ankam, war in dem Pub noch nicht allzu viel los. Nur ein paar Gäste an kleinen Tischen hier und da. Es brannten bereits die Kerzen, so wie gestern Abend. Er scannte kurz den Raum. Vielleicht würde er ihn ja erkennen, wenn er dabei wäre. Aber nein: Pärchen, drei Studentinnen, ein älterer Typ mit Mütze ... Das wäre wohl zu einfach gewesen. Also ging er zur Bar und ließ sich einen Cider geben. An den Barkeeper konnte er sich definitiv erinnern. Nach einem halben Pint nahm Jeremy seinen Mut zusammen und gab dem Mann ein Zeichen.
„Kann ich noch was für dich tun?"
Jeremy nickte. „Ja, ich war gestern Abend hier."
„Stimmt. Du warst bei den Typen von der Oper. Ihr habt es ganz schön krachen lassen."
„Ach, echt?"
„Kann man so sagen. Hier wird zwar viel gefeiert, aber selten so laut mitgesungen."
„Und warum erinnerst du dich so genau an mich?"
„Du warst der beste Sänger."
„Und das war alles?"
„Weshalb genau bist du hier? Hast du was verloren?"
Jeremy fand das beinahe komisch.
„Ja, meine Erinnerung an gestern Abend. Und ich wüsste zu gern, mit wem ich da zusammen war."
„Zusammen? Oh, verstehe. Tut mir leid, aber so genau beobachte ich unsere Gäste nicht."
Jeremy musste wohl enttäuscht aussehen, denn der Typ zögerte jetzt und schien zu überlegen.
„Hast du irgendeinen Anhaltspunkt? Wie hat sie ausgesehen?" Der Typ grinste.
„Es war keine Sie. Da sollen irgendwelche Schauspieler hier gewesen sein. Einer mit dunklen Locken vielleicht?"
„Ach der. Ist mir auch aufgefallen. So ein großer Typ, dunkles lila Hemd?"
Die Farbe kam mit Jeremys Erinnerung hin. Er nickte. Ja definitiv.
„Keine Ahnung wer das war, sorry."
„Weißt du, von welchem Theater die kamen?"
Es musste doch irgendeinen Hinweis geben, dem er nachgehen konnte.
„Sorry, die hatten nicht reserviert, so wie ihr. Und es gibt 'ne Menge Theater im Westend."
Jeremy wusste jetzt nicht weiter. Was könnte er noch tun? Gab es eine Möglichkeit, dass er die Besetzungslisten oder die Produktionsfotos der Theater einsehen könnte? Wie viele Theater oder Schauspieler wären das? Er konnte nicht selbst in jedes einzelne Theater gehen. Er müsste ja bald wieder auf die Bühne und proben.
„Macht es was, wenn ich hier sitze und warte? Vielleicht kommt er hierher. Kann doch sein."
Der Barkeeper nickte. „Nein, mach nur. Kann echt sein."
Aber es war nicht.
Jeremy wartete bis zum späten Abend, bis zu der Zeit, wo jede Theatervorstellung zu Ende sein musste. Er versuchte, sich an irgendetwas Sinnvolles zu erinnern, aber da kam nichts. Dann machte er sich auf, zurück ins Hotel. Erst im Taxi merkte er, dass er unzählige WhatsApp- Nachrichten von June auf dem Handy hatte. Sie war so gar nicht neugierig! Er schickte nur eine einzige zurück:
Nichts. Keine Spur.
Dann versuchte er sich einzureden, dass es nicht der Weltuntergang sei. Er würde es einfach vergessen und weitermachen wie bisher. Wenn es hätte sein sollen, dann wäre es auch anders gekommen. Und wenn der Typ wirklich an ihm interessiert gewesen wäre, dann hätte er wohl auch in dem Pub angefragt. Also Schwamm drüber. Morgen müsste er sich auf die Vorstellung konzentrieren. Aber der gute Vorsatz half nicht viel. Kaum war Jeremy allein in seinem Zimmer, da zog er den Rolli aus und schaute nach, wie sich die Male am Hals bereits verfärbt hatten.
„Wer bist du?"
Die Frage war gleichermaßen an den geheimnisvollen Unbekannten wie an sich selbst im Spiegel gerichtet. Es gab keine Antwort, nur seine eigenen, sturmblauen Augen schauten ihn fragend an. Er machte sich was vor, wenn er so tun wollte, als könne er es vergessen. Er brauchte nur die Augen zu schließen und schon hörte er die dunkle Stimme, fühlte, wie sich Finger in seinem Haar verfingen und schmeckte Küsse von Himbeer. Er nahm eine kalte Dusche, starrte auf sein Handy, schaltete es aus, an, aus, trank ein Fläschchen Whiskey aus der Minibar und versuchte zu schlafen. Aber mit dem Schlaf kämen seine Träume. Das war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Erst ein zweites Fläschchen aus der Bar verschaffte die ersehnte Wirkung. Dieses Mal war der Schlaf traumlos.
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