Teil24
Jeremy fühlte sich irgendwie betäubt, vor die Wand gehauen. Das durfte einfach alles nicht wahr sein! Die Vorstellung, dass er Rufus da mit hineingezogen hatte, war das Schlimmste. Keine Lügen, keine Schuldgefühle...
Er ging in seine Hotelsuite und war nicht sicher, was jetzt zu tun sei. Sollte er ihn anrufen? Nein, wozu? Er würde herkommen und seinen Auftritt versäumen. Auf gar keinen Fall. Jeremy müsste es ihm danach sagen, irgendwie. Wie würde er reagieren, was würde er sagen? Würde er sich mit Junes Vorschlag abfinden? Jeremy hatte keine Ahnung und er hasste es, überhaupt darüber nachdenken zu müssen. Er begann, seine Sachen einzupacken. Nur ein paar, so viel, wie er in eine Sporttasche bekam, die er auf dem Motorrad mitnehmen könnte. Er würde noch mehr im Taxi holen, wenn er erst seinen Schlüssel hatte. Mit der Tasche ging er hinaus und lief ein bisschen durch die Stadt. Als er am Trafalgar Square ankam drehte er wieder um. Er vermied es, so früh am Donmar zu sein, dass die Vorstellung noch nicht angefangen hätte. Er brauchte noch etwas Zeit zum Nachdenken, bevor er reden müsste. Die Stadt war voll mit allen möglichen, verschiedenartigen Leuten. Arbeiter, Business Men, Straßenkünstler, Touristen, Schulklassen und Pärchen. Die vor allem fielen Jeremy jetzt auf. Warum waren die so sichtbar in der Öffentlichkeit? Wieso war das für die einen völlig okay und für die anderen noch immer ein Wagnis? Wieso konnten er und Rufus nicht knutschend an der nächsten Hausecke stehen, ohne dass es irgendwen juckte? Erst als es nach halb acht war, schlenderte er endlich in die Richtung des Theaters. Dort angekommen, war alles wie zuvor. Der Mann am Bühneneingang ließ ihn hinein und Jeremy setzte sich leise zu den Technikern, die ihm zunickten. Er versuchte ein Lächeln. War das hier eigentlich Öffentlichkeit? Wer oder was ist das eigentlich? Auf der Bühne erschienen Rosalind, als Mann verkleidet und Celia. Wenn Rosalind später als Ganymed mit Orlando flirten würde, würde es niemanden hier im Publikum stören. War das, weil alle wussten, dass Ganymed eigentlich eine junge Frau war? Wäre es nicht okay, wenn sie wirklich Ganymed wäre? Jeremy versuchte, sich zu konzentrieren und dem Stück zu folgen, was jedoch nur teilweise gelang. Zu schwer lag alles, was er zu tun und zu sagen hatte auf seiner Seele. In der Pause schaute er kurz auf sein Handy. Da waren Nachrichten von Peter, seinem Manager und von June. Schon wieder, dammit. Er hatte keinen Nerv dafür...
„Rufus hat erzählt, du wärst Sänger", bemerkte jetzt einer der Jungs von der Technik.
Jeremy nickte. „Ja das stimmt."
„Was singst du denn?"
„Ich singe Oper, Tenor..."
Sie unterhielten sich jetzt ein wenig über die Opernhäuser der Stadt. Der Techniker hatte mal an der English National Opera gearbeitet, die er viel moderner fand als das Royal Opera House. Der Typ ahnte gar nicht, wie wenig „modern" das ROH wirklich war...
Als schließlich der Applaus zu Ende ging, machte sich Jeremy auf den Weg zu Rufus' Garderobe. Zuletzt waren sie hier übereinander hergefallen und er wünschte sich jetzt nur eins, irgendwie Rufus nicht mit den Neuigkeiten konfrontieren zu müssen und einfach nur mit ihm zusammen zu sein. Als er klopfte, öffnete Rufus sofort und fiel ihm um den Hals. Er war natürlich vom Auftritt und Applaus euphorisiert. „Hey, da bist du ja! Ich konnte es gar nicht erwarten", rief er und drückte ihm erst einen Kuss auf die Wange, dann einen auf die Lippen. Und wieder der Hauch von Himbeer, oh Gott!
„Ich ... hab dich auch vermisst", begann Jeremy, doch Rufus schien sofort zu bemerken, dass etwas anders war als noch am Morgen.
„Was ist? Du hast doch was." Er schaute Jeremy prüfend an. „Du bist ganz blass. Ist das wegen dem Test? Ist erstmal alles gut, mach dir keine Sorgen..."
Ach ja, der Test. Daran hatte Jeremy nicht mehr gedacht. Aber gut. Wenn der erste Test negativ war, dann müsste man später den Test wiederholen, um ganz sicher zu sein.
„Hey, das ist eine richtig gute Nachricht!", freute er sich jetzt. Wie konnte er das verdrängen?
„Yip. Wenn du magst, kannst du morgen hingehen. Die Ärztin ist gut, professionell, stellt keine blöden Fragen..." Rufus küsste ihn nochmal und Jeremy wünschte sich nichts mehr, als mehr davon, doch jetzt gerade wollte es nicht wirklich passen und Rufus bemerkte auch das. Er würde ihm nichts vormachen können, selbst wenn er selbst dazu imstande wäre. „Lass uns abhauen und dann erzählst du mir, was wirklich los ist", sagte er und blickte Jeremy fragend an.
„Ja, lass uns", sagte Jeremy jetzt fast erleichtert, weil er nochmal etwas Zeit gewann.
„Hier, zieh das an", strahlte Rufus jetzt plötzlich, „du wolltest doch was verändern... und da habe ich dir schon mal was besorgt!" Jetzt gab es einen Schmatzer auf die Wange und dann eine Tüte vor den Bauch gehalten. Jeremy holte eine Motorradjacke daraus hervor. Wow!
Rufus schnappte ihm das Teil direkt weg, um ihm hineinzuhelfen. „Sitzt wie angegossen", fand er.
„Du hast gutes Augenmaß, die ist... echt toll. Danke dir!" Wieso war der Junge so perfekt?
„Jetzt komm!"
Auf dem Motorrad hielt Jeremy sich noch fester an Rufus als sonst, er konnte nicht anders. Rufus sagte irgendwas zu ihm, als er in Camden kurz bei diesem Laden anhielt, den Jeremy schon kannte. Dann zuckte er mit den Achseln und ging hinein, reichte kurz darauf die Tüte nach hinten und Jeremy hielt jetzt auch die Tüte fester als sonst. Rufus musste inzwischen etwas ahnen, so wie Jeremy sich benahm. Aber Jeremy wusste sich so auch nicht zu helfen. Vor Rufus' Semi nahm er Jeremy die Tüte ab und ging vorweg ins Haus. Jeremy nahm all seinen Mut zusammen und folgte ihm direkt bis in die Küche. „Pack du schon mal aus, ich geh' schnell duschen," sagte Rufus dann und lächelte einmal kurz, als ob nichts wäre. Vielleicht wollte er jetzt auch etwas Zeit gewinnen? Jeremy nahm es jedenfalls an und packte aus. In dem Laden schien es alles zu geben, was Rufus brauchte. Sandwiches, Muffins, Hobnobs, auch die mit Karamel, Kondome und dieses Mal Kaugummi mit saurem Apfelgeschmack. Jeremy kannte ihn inzwischen so gut: Dann gab es kein Himbeer. Er machte Tee in zwei Bechern, dann war Rufus auch schon zurück. In Jeans und T-Shirt und das Haar noch feucht. Er setzte sich Jeremy gegenüber an den Tresen und griff nach einem Tee. „Was immer es ist, es ändert nichts an uns", sagte er dann schlicht, bevor Jeremy zu Wort kam. Jeremy schaute ihm in die hellen Augen. Das musste er sich inzwischen überlegt haben und es war ihm ernst. Jeremy nickte, weil er ihm betätigen wollte, dass es auch für ihn so wäre.
„Dann sag endlich, was los ist", bat Rufus jetzt.
Jeremy hatte sich auch alles gut überlegt, trotzdem fiel es ihm schwer. „Ru, das was ich tue, das Singen, ist mir das Wichtigste gewesen, bis du kamst. Und alles, was ich von jetzt an tue, will ich mit dir oder gar nicht tun. Aber in dieser einen Sache geht es nicht nur um mich, sondern auch um den Grimes und alle, die dabei sind." Jeremys Stimme gab jetzt nach, denn jetzt käme der schwierige Teil. Rufus sah aus, als würde er sich für sowas wie das Schlimmste bereitmachen und Jeremy brauchte einen Moment, bevor er weiterreden konnte. „Es gibt da einen Preis, den wir gewinnen können, also die Produktion, der Maestro, June und ich. Das würde für unsere Karrieren und für das Stück wirklich etwas bedeuten. Allein die Nominierung ist schon eine ...große Ehre", hörte er sich sagen, obwohl es wohl nicht wirklich eine Ehre für ihn war, wenn er sich dafür verbiegen müsste.
„Das ist doch...wunderbar?" fiel Rufus ein. Er käme nicht darauf. Wie auch, wo gab's das denn noch? Er schaute Jeremy jetzt halb irritiert, halb fragend an.
„Die Sache ist die", Jeremy riss sich zusammen, „wenn die Jury oder die Öffentlichkeit mitkriegt, dass ich mit einem Mann zusammen bin, dann verringert es unsere Chance..."
„Wie kann das eure Chance verringern? Wieso?", Rufus war jetzt nicht weniger entsetzt als Jeremy selbst am Nachmittag, das sah man in seinem Blick, aber er blieb beinahe gespenstisch ruhig und gefasst.
„...Weil die wohl sehr konservativ und altmodisch sind."
„Du sprichst davon, dass du keinen Preis kriegst, wenn du schwul bist?", formulierte Rufus das alles, was er gehört hatte um.
„Jeremy nickte langsam. „Ja. Und ich will ihn auch genau deswegen gar nicht mehr. Aber die anderen... die haben ihn genauso verdient wie ich, eigentlich, und wenn wir es bis zu der Preisverleihung durchhalten und uns nicht zusammen zeigen, dann könnte es noch klappen. Vorausgesetzt..."
„Vorausgesetzt?"
„Vorausgesetzt, dass June und ich so tun, als wären wir ein Paar. Es darf keiner was merken." Jeremy sah jetzt auf den Boden. Er traute sich nicht, Rufus anzusehen. Aus Scham.
„Du und June."
„Ja, sie und ich." Jetzt wagte Jeremy einen Blick zu Rufus. Der sah ihn mit diesen hellen und doch so geheimnisvollen Augen an. Du und June. Keine Lügen... Rufus blinzelte nicht einmal, aber er sagte auch nichts.
„Es tut mir so leid, so leid... wenn du es sagst, dann mache ich es nicht. Ich will, ich brauche diesen verschissenen Preis nicht, ich sage denen, dass die mich mal kreuzweise können, es gibt rein gar nichts, was ich von denen will..." Jeremy steigerte sich nun so richtig hinein in das, was er eigentlich über die ganze Sache dachte, als Rufus plötzlich erst eine, dann seine beiden Hände nahm. „Jeremy!", begann er eindringlich, „Liebster, hör doch...", er suchte Jeremys Blick, „es ändert nichts, gar nichts, zwischen uns." Jeremy konnte es kaum glauben, doch das war es, was er sagte, Liebster... Und er fuhr fort: „Diese Leute sind zwar unglaublich dumm, aber sie können uns nichts anhaben, okay?"
Jeremy nickte. „Also was werden wir tun?"
„Wir machen was uns gefällt, aber eben nicht da, wo man uns sieht. Und du und June, ihr bringt die Sache für diese Idioten ins Lot. Ich will nicht, dass du deinen Freunden und Kollegen so eine Chance vermasselst, meinetwegen. Das sind zwei Wochen, na und? Und wenn die vorbei sind, dann sorge ich dafür, dass Richard denen nie wieder ein einziges Pfund in ihren Rachen schiebt. Die werden sich wundern!"
Was er da sagte, hatte Jeremy nie für möglich gehalten, schon gar nicht das Letzte. Umso mehr war er jetzt erleichtert und stieß ein glucksendes Lachen aus. „Ist das wirklich wahr?", fragte er nach, weil er es nochmal hören wollte.
„Oh ja. Die kriegen ihre Show, ihr den Preis und dann tritt Richard ihnen richtig auf die Füße." Jetzt musste auch Rufus erleichtert lachen. „Wir sehen einfach das Positive. Wenn wir nicht in die Öffentlichkeit können, dann müssen wir ganz viel Zeit im Bett verbringen oder in der Badewanne oder auf dem Land." Er war wirklich unglaublich.
„Was war mit Lügen?", fragte Jeremy.
„Na, was schon. Wir belügen uns nicht. Die wollen doch belogen werden!" Unglaublich.
Jeremy lachte jetzt richtig. Dann zog er Rufus für einen innigen Kuss über den Tresen und schlug vor, mit der Zeit im Bett zu beginnen.
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