7 | Die Technik

~ Dylan ~

„Das war ja, wie eine Therapiestunde", lacht Richy und prostet mir mit seinem Whiskey noch mal zu. Wir haben uns mindestens eine halbe Stunde über Kurt Cobain unterhalten. Spekulationen und Gerüchte über seinen plötzlichen Tod nehmen nicht ab. Richy ist ein großer Nirvana-Fan und trauert um sein Idol. Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich Kurt persönlich kannte und sein exzessiver Drogenkonsum Böses erahnen ließ. Stattdessen sprachen wir über sein Talent als Künstler und den Einfluss von Grunge in der Musikszene.

„Wo sind die Mädels eigentlich hin?", will Richy plötzlich von mir wissen. Ich drehe mich um und stelle fest, dass wir allein sind. Als ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse, entdecke ich weder Mila, Lucy noch Bryce.

„Bitte entschuldige mich", sage ich zu Richy und stelle mein halb volles Glas auf dem Bartresen ab. Dann setze ich mich in Bewegung und steuere als Erstes die Toiletten an. Zwei Minuten bleibe ich vor den Türen stehen und warte. Als Mila und Lucy nicht auftauchen, überkommt mich ein schlechtes Gefühl. Ich beschließe hochzugehen und nachzuschauen, ob sie vielleicht zu ihren Zimmern zurückgegangen sind.

Die Fahrstühle lassen auf sich warten. Ungeduldig drücke ich noch mal auf den Knopf, obwohl ich weiß, dass es die Dinge nicht beschleunigt. Als endlich einer ankommt, steige ich schnell ein und fahre ins fünfte Stockwerk. Nervös tippe ich mit meinem Fuß auf den Fliesenboden, bis sich die Schiebetüren endlich öffnen.

Als ich aussteige, schießt augenblicklich Adrenalin in meine Adern. Ich sehe Mila, die mit ihrem Rücken an der Tür zum Treppenhaus steht. Bryce hat sich vor ihr aufgebaut und drückt sich mit beiden Armen auf ihrer Gesichtshöhe von der Tür ab. Sie sieht so winzig neben ihm aus. Er ist fast einen ganzen Kopf größer als sie.

Der Fahrstuhl hat ihre Aufmerksamkeit erregt, sodass beide in meine Richtung gucken. Milas verängstigter Gesichtsausdruck spricht Bände. Bryce hingegen wirft mir einen bitterbösen Blick zu, bevor er die Tür loslässt und sich wieder aufrecht hinstellt.

„Wo hast du dir diesen Typen angelacht?", spottet er und steckt sich dabei lässig seine Hände in die Anzughose. „Beim Escord-Service?"

„Gibt es ein Problem?", frage ich und bleibe mit kleiner Distanz vor ihm stehen. Wir sind ungefähr gleich groß und gucken uns direkt an. Die feinen Linien an seinen Augenwinkeln und um seinen Mund lassen mich darauf schließen, dass er die Dreißig schon überschritten hat.

Ich spüre, wie noch mehr Adrenalin durch meinen Körper schießt. Ein falsches Wort und ich befördere dieses dreckige Schwein direkt ins Koma. Die Vorstellung, was er diesem verängstigten Mädchen angetan haben muss, macht mich krank. Kurz wünsche ich mir sogar, dass er die Beherrschung verliert, damit ich ihm sein widerliches Grinsen aus der Fresse prügeln kann.

„Ich weiß, welchen Zweck du erfüllst", spricht Bryce weiter. „Überleg dir gut, ob du dir wegen der Kleinen die Hände schmutzig machen willst. Es wäre wirklich bitter, wenn du mich zwingst, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Glaub mir, den Ärger willst du nicht."

Ich setze ein schiefes Grinsen auf: „Jetzt hast du mir den Ärger dermaßen schmackhaft gemacht, dass ich's kaum erwarten kann."

„Dylan?", mischt sich Mila ein. Ihre Stimme klingt sehr angespannt. „Bitte lass uns gehen."

Bryce nimmt als Erster Abstand. Er wirft Mila ein süffisantes Grinsen zu, bevor er sich wegdreht, um die Ecke biegt und im langen Flur verschwindet.

Sie steht immer noch wie versteinert da. Ich werfe mir vor, dass ich nicht richtig auf sie aufgepasst habe und sie in diese Situation geraten ist. Als ich auf sie zukomme und vor ihr stehen bleibe, guckt sie mich mit ihren verängstigten Augen an. „Was ist hier passiert, Mila?"

Ich stelle fest, dass sie am ganzen Körper zittert. Wieder schießen mir Bilder in den Kopf, was ihr dieses Arschloch angetan haben muss. Ich bin immer noch mit Adrenalin geladen und würde ihm am liebsten hinterhergehen.

„Lucy ...", fängt sie leise an zu sprechen.

„Was ist mit ihr?"

„Ihr geht es nicht gut. Ich habe sie auf ihr Zimmer begleitet. Ich war gerade auf dem Weg zurück nach unten, als Bryce plötzlich aus dem Fahrstuhl kam."

„Er hat dir aufgelauert?"

„Ich sehe keinen anderen Grund, weshalb er hier aufgekreuzt ist. Laut Lucy befindet sich sein Zimmer nicht auf diesem Stockwerk."

Ich möchte sie am liebsten in meine Arme schließen und ihr versprechen, dass ich sie nicht nochmal aus den Augen lassen werde. Doch ich befürchte, dass sie meine Nähe nicht zulässt.

„Was möchtest du jetzt tun?", frage ich stattdessen.

„Der Concierge hat vielleicht ein Mittel gegen Übelkeit für Lu."

Ich nicke. Wir beide setzen uns in Bewegung und bleiben vor den Fahrstühlen stehen. Ich betätige den Knopf.

Als wir auf dem Weg nach unten sind, gucke ich Mila wieder an: „Ich weiß, es geht mich nichts an ..."

Bevor ich weitersprechen kann, fällt sie mir ins Wort: „Ich werde mit dir nicht darüber reden, was er mir angetan hat."

„Das verstehe ich", antworte ich sanft. „Aber ich denke, solche Typen sollten nicht einfach davon kommen ..."

„Ich hatte keine Chance", unterbricht sie wieder meinen Satz. Sie klingt jetzt richtig aufgebracht und guckt mich böse an. „Niemand hat mir geglaubt!"

„Warum nicht?", möchte ich von ihr wissen.

„Weil ich freiwillig mitgegangen bin! Er wusste was er tat und hat keine Spuren an mir hinterlassen! Ich kann nichts beweisen, Dylan!"

Ihre Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Sie versucht sie krampfhaft zu unterdrücken, doch es gelingt ihr nicht.

„Es tut mir leid", entschuldige ich mich. Mir fällt nichts Besseres ein, was ich jetzt sagen oder tun könnte. Ich bereue, dass ich alles nur noch schlimmer für sie gemacht habe.

Der Fahrstuhl kommt im Erdgeschoss an. Mila wischt sich ihre Tränen von den Wangen, steigt aus und nähert sich schnellem Schrittes dem Concierge. Ich bleibe mit etwas Distanz zu ihr stehen und warte.

„Sie haben keine Medikamente da", erfahre ich schließlich von Mila, als sie auf mich zukommt.

„Wir könnten in die Drogerie fahren", schlage ich ihr vor.

„Du hast getrunken."

„Das bisschen Sekt und einen halbes Glas Whiskey machen mir nichts aus."

Sie überlegt kurz, bevor sie schließlich zustimmt. Tatsächlich bin ich überrascht, dass sie bereit ist, mit mir zur späten Stunde in ein Auto zu steigen. Ich hätte durchaus verstanden, wenn sie mich alleine losgeschickt hätte. Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass sie Vertrauen in mich hat. Ich möchte, dass sie sich in meiner Gesellschaft sicher fühlt. Niemals könnte ich diesem unschuldigen Mädchen etwas antun. Es frisst mich innerlich auf, zu wissen, dass sie so einem widerwärtigen Monster, wie Bryce, zum Opfer gefallen ist.

Wir müssen kurz draußen warten, bis der Mitarbeiter vom Parkservice meinen Wagen vorgefahren hat. Dann überreicht er mir den Schlüssel und erhält im Gegenzug sein Trinkgeld. Ich gehe zur Beifahrerseite und halte Mila die Tür auf. Ihr überraschter Blick verrät mir, dass sie es nicht gewohnt ist so respektvoll behandelt zu werden. Sie schlüpft auf den Sitz und schnallt sich an, während ich die Tür wieder verschließe.

Als wir schließlich gemeinsam im Auto sitzen, gucke ich sie an: „Geht es dir ein bisschen besser?"

Sie nickt, ohne meinen Blick zu erwidern.

Auf dem Weg zum Hotel bin ich an einem Walgreens vorbeigefahren, der rund um die Uhr geöffnet hat. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten den Drugstore wiederzufinden. Während der Fahrt konzentriert sich Mila auf die Straße. Beim Beschleunigen drückt sich ihr zarter Körper in den Sitz. Ich versuche möglichst vorsichtig zu fahren, doch der aggressive Motor des Firebirds lässt sich nicht so einfach zügeln.

„Warum hast du so ein Auto?", will sie plötzlich von mir wissen und guckt mich endlich wieder an. Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu und merke, wie sich automatisch ein Lächeln auf meinen Lippen bildet: „Ich habe schon als kleiner Junge davon geträumt. Damals glaubte ich allerdings, dass ich niemals imstande sein würde, mir so ein Auto zu leisten. Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen, weißt du."

Mila runzelt ihre Stirn: „Deiner Familie gehört das Fitness-Center, hast du gesagt."

„Es gehört meiner Schwester", kläre ich sie auf. „Sie wollte sich nach ihrem Sportstudium ein eigenes Business aufbauen. Ich habe sie in ihrem Vorhaben finanziell unterstützt. Unsere Eltern sind mit eingestiegen und kümmern sich um die Verwaltungstätigkeiten."

„Das ist echt groß von dir, Dylan."

„Es ist selbstverständlich", korrigiere ich sie.


Wir erreichen die Drogerie. Ich parke den Wagen direkt am Eingang und begleite Mila rein. Sie findet schnell das passende Medikament, sodass wir uns kurze Zeit später auf dem Rückweg befinden.

„Danke", sagt Mila, als wir das Hotel erreichen und uns gemeinsam auf den Weg nach oben machen. „Du hast was bei mir gut." Ich gucke sie überrascht an. „Lass mich das ja nicht bereuen", schiebt sie grinsend hinterher. Offensichtlich geht es ihr wirklich besser.

„Es gibt da tatsächlich etwas, was mir auf dem Herzen liegt", antworte ich.

„Ach, ja? Und was?"

Ich mache eine Sprechpause, als wir in den Fahrstuhl steigen. Dann gucke ich sie wieder an: „Ich bitte dich, dass du wieder zum Selbstverteidigungskurs kommst."

Mila gibt einen gequälten Seufzer von sich: „Mir ist oberpeinlich, was beim letzten Mal passiert ist. Ich will mich den Blicken der anderen Teilnehmerinnen nicht aussetzen."

„Na schön", entgegne ich. „Dann gebe ich dir Privatstunden."

Sie reißt die Augen auf. Bevor sie reagieren kann, spreche ich weiter und reiche ihr die Hand: „Haben wir einen Deal?"

„Warum ist dir das so wichtig?", will sie von mir wissen.

„Wenn du mit diesem Arschloch zusammen arbeiten musst, ist es dringend notwendig, dass du lernst dich zu verteidigen, Mila."

Sie guckt mich einen Moment an. Dann greift sie meine Hand: „Deal."

Nachdem wir den Fahrstuhl verlassen haben, gehen wir zu Lucys Zimmer. Mila hat den Schlüssel mitgenommen und öffnet damit ihre Tür.

„Lu?", sagt sie, bevor sie das Bad betritt. Ich bleibe im Flur stehen und warte ab, ob meine Hilfe benötigt wird. Tatsachlich meldet sich Mila kurz darauf zu Wort: „Sie ist eingeschlafen. Könntest du sie bitte ins Bett tragen?"

Ich betrete ebenfalls den kleinen, engen Raum und sehe Lucy auf dem Boden liegen. Mila macht mir Platz, sodass ich ihre Freundin auf meine Arme heben kann. Ihr Gewicht bereitet mir keine Probleme. Sie fängt leise an zu murmeln, als ich sie zu ihren Bett trage. Ihre Augen blieben dabei geschlossen. Vorsichtig lege ich sie auf der Matratze ab.

Mila zieht daraufhin ihre Schuhe aus und bittet mich die Decke und das Kissen aus dem Bad zu holen. Als ich zurück bin und ihr die Bettsachen überreiche, fordert sie mich auf raus zu gehen. Sie möchte ihre Freundin von ihrer unbequemen Kleidung befreien. Daraufhin verlasse ich das Zimmer.

Ich beschließe im Flur zu warten, bis Mila fertig ist. Auch wenn sich ihr Zimmer in direkter Nähe befindet, will ich heute nichts mehr dem Zufall überlassen und sicherstellen, dass sie dort unversehrt ankommt.

Wenige Minuten vergehen, bis sich die Tür gegenüber von Milas Zimmer öffnet. Überrascht blickt Bryce in mein Gesicht. Mit seinem rechten Zeigefinger reibt er sich unter der Nase. Seine Pupillen sind geweitet. Ich kenne diesen verdächtigen Blick zu gut. Das Arschloch hat gerade eine Line gezogen. Viel beunruhigender ist jedoch, dass sich sein Zimmer sehr wohl auf diesem Stockwerk befindet. Es ist mit Sicherheit kein unglücklicher Buchungsfehler gewesen.

„Stehst du jetzt ernsthaft draußen Wache?", lacht Bryce und kommt paar Schritte auf mich zu. „Was zahlt sie dir die Stunde, hm? Ich gebe dir das Doppelte, wenn du verschwindest."

Mich überkommt die blanke Wut. Ich packe das Arschloch am Kragen und presse ihn unsanft an die gegenüberliegende Wand. Das Koks wirkt bereits, sodass er seine Kräfte überschätzt und versucht mich von sich wegzuschubsen. Doch es gelingt ihm nicht.

„Wenn du ihr noch ein mal zu nahe kommst, wirst du dein eigenes Spiegelbild nicht wieder erkennen", zische ich in sein Gesicht. „Haben wir uns verstanden?"

„Nimm den Mund besser nicht zu voll, Rambo", droht mir Bryce. „Es wäre eine Schande, wenn das Mäuschen plötzlich ohne Job dasteht, weil ihr testosterongesteuerter Leibwächter seine Nerven nicht im Griff hat."

Ich ziehe ihn von der Wand weg und schubse ihn in Richtung Fahrstühle. Bryce findet seine Balance und richtet seine Kleidung. Im nächsten Moment dreht er sich um und verlässt die Situation.

Gleich darauf öffnet sich Lucys Zimmertür. Mila kommt raus und guckt mich überrascht an: „Du hast gewartet?"

„Ja."

Ich beschließe für mich zu behalten, was soeben passiert ist. Die Arme hat für heute genug Stress gehabt.

Sie lächelt mich an und bleibt vor mir stehen: „Ich danke dir für alles."

„Gern geschehen, Mila."

Ich beobachte, wie sie ihren Schlüssel aus ihrer kleinen Umhängetasche holt und ihre Zimmertür öffnet. Dann guckt sie mich wieder an.

„Dylan?"

„Ja?"

„Könntest du mir vielleicht zeigen, wie ich mich aus der Situation hätte befreien können?"

Überrascht hebe ich meine Augenbrauen: „Du meinst, die Sache mit Bryce?"

Sie nickt. Ich denke kurz darüber nach. Dann komme ich auf sie zu, greife ihre Schultern und schiebe sie vorsichtig gegen die verschlossene Tür. Dabei gucke ich ihr in die Augen, um sicherzustellen, dass sie nicht in Panik verfällt. Sie sieht gefasst aus, sodass ich beschließe weiter zu machen.

Als Nächstes hebe ich meine Arme und drücke beide Hände auf ihrer Gesichtshöhe gegen die Tür, sodass sie keine Fluchtmöglichkeit mehr hat. Sie sieht immer noch vollkommen ruhig aus.

„Du musst dir die Gravitation zu nutze machen", erkläre ich.

„Und wie?"

„Lege beide Hände um meinen Kopf, lass dich mit vollem Körpergewicht nach in die Knie fallen und weiche gleichzeitig zur rechten Seite aus."

Mila hebt ihre zierlichen Arme und legt ihre Hände dermaßen sanft um meinen Nacken, dass sie mir eine Gänsehaut verpasst.

„Warum grinst du so?", fragt sie mich irritiert.

Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Sie macht mich vollkommen verlegen.

„Habe ich was falsch gemacht?", möchte sie von mir wissen.

Ich versuche mich wieder zusammen zu reißen: „Lass dich fallen, ohne loszulassen. Und denk daran, auf die rechte Seite auszuweichen."

Sie denkt kurz darüber nach, bevor sie meine Anweisung in die Tat umsetzt. Obwohl ich weiß, was mich erwartet, kann ich nicht verhindern, dass mein Kopf gegen die Tür schlägt. Gleichzeitig nutzt sie die Gelegenheit, um sich schnell wieder aufzurichten und Abstand von mir zu gewinnen.

Mit weit aufgerissenen Augen guckt sie zu mir, während ich mich wieder aufrecht hinstelle und dabei meine Stirn reibe.

„D... das war unglaublich", stottert sie.

„Wie ich schon sagte", antworte ich. „Es kommt auf die richtige Technik an."

„Habe ich dir weh getan?", fragt sie plötzlich ganz besorgt und kommt wieder auf mich zu.

Ich muss wieder lächeln: „Mach dir darüber keine Gedanken."

Unsere Augen treffen sich und lassen sich nicht wieder los. In meiner Magengegend fängt es fürchterlich an zu kribbeln. Ich hatte es bereits befürchtet. Die ganze Zeit habe ich versucht das Gefühl zu unterdrücken, doch ich komme nicht länger dagegen an. Ich verliebe mich in dieses Mädchen.

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