6 | Das Dinner

Dylans Blick schweift über meinen Körper, als wir auf den Fahrstuhl warten. Ich frage mich, was wohl gerade in ihm vorgeht. Dabei kann es mir vollkommen egal sein.

„Das überzeugt mich nicht", fängt Lucy an zu sprechen. Sie trägt eine dunkelblaue Marlene-Hose zu einer engen, weißen Bluse. Ihre Arme hat sie vor ihrer Brust verschränkt. Wir gucken sie fragend an. „Ihr strahlt Distanz aus", spricht sie weiter. „Auf diese Weise kauft euch niemand ab, dass ihr ein Paar seid."

Ich gucke Dylan an, der seine Hände lässig in die Taschen seiner Anzughose gesteckt hat. Die Ärmel seines Hemdes sind ein wenig hochgekrempelt und entblößen seine muskulösen Unterarme. Das Weglassen des Jackets und der Krawatte hat alles nur noch schlimmer gemacht. Sein breites Kreuz kommt jetzt noch mehr zur Geltung. Der geöffnete, oberste Knopf von seinem Hemd gewährt einen Einblick auf sein getrimmtes Brusthaar. Wieso in Dreiteufelsnamen muss der Kerl so gut aussehen?

„Was sollen wir deiner Meinung nach denn tun?", fragt er meine Freundin. Lucy rollt daraufhin ihre Augen: „Ich muss euch doch jetzt nicht ernsthaft die Welt erklären, oder?"

„Scheinbar doch", grummele ich.

Lucy gibt einen genervten Seufzer von sich: „Schon mal was von Händchen halten gehört?"

Dylan holt seine Hände hervor. Er sieht verunsichert aus und ich weiß auch warum. Das letzte Mal, als er mich berührt hat, habe ich meine Nerven verloren. Scheint so, als müsse ich den ersten Schritt machen. Ich komme näher und greife seine rechte Hand mit meiner Linken. Seine Haut ist angenehm warm und fühlt sich gut an. Nun ergreift er die Initiative und verschränkt seine Finger mit meinen. Im selben Augenblick zuckt mein Unterleib zusammen. Was war das bitte für eine Reaktion? Mein Körper will mich offensichtlich verarschen. Habe ich gerade meinen Eisprung?

Der Fahrstuhl kommt endlich an und holt mich zurück aus meinen Gedanken. Wir steigen ein und fahren ins Erdgeschoss. Neben der großzügigen Lobby, befindet sich ein italienisches Restaurant, das heute exklusiv für uns gebucht ist.

Vor dem Eingang wartet Richy auf uns. Er wirft mir einen verwirrten Blick zu, als wir näher kommen. Lucy nimmt schließlich unseren Kollegen in den Arm, um ihn zu begrüßen. Ich lasse Dylan los und tue es ihr nach. Sein fragendes Gesicht bleibt an meiner unerwarteten Begleitung haften. Ich finde es nicht richtig Richy hinters Licht zu führen, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Also stelle ich ihm Dylan als meinen Freund vor. Beide reichen sich die Hand.

„Seit wann seid ihr denn zusammen?", will Richy wissen. „Es ist alles noch ganz frisch", lüge ich.

„Lasst uns reingehen", mischt sich Lucy ein, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Wir folgen ihr ins Restaurant, wo sich unsere anderen Kollegen bereits verteilt haben. Einige haben an den runden Tischen Platz genommen. Andere stehen an der Bar am anderen Ende des Raumes und unterhalten sich. Im Hintergrund spielt italienische Musik. Den ein oder anderen begrüßen wir, bis wir an der Bar ankommen. Eine Servicekraft versorgt uns mit Sekt. Dann stoßen wir gemeinsam an und nehmen einen Schluck.

„Wie habt ihr euch kennen gelernt?", will Richy plötzlich von Dylan wissen. Mein Herz setzt eine Sekunde aus. Gebannt starre ich Dylan an und warte auf seine Reaktion: „Im Fitness-Center."

Gute Antwort. Und es ist noch nicht ein mal gelogen.

„Und was machst du beruflich?", fragt mein Kollege weiter.„Ich arbeite in dem Fitness-Center, das Mila besucht", entgegnet Dylan. „Hätte ich mir denken können", gibt Richy grinsend von sich und lässt seinen Blick über Dylans kernigen Körper schweifen.

„Könnte nicht schaden, wenn du auch mal hingehst," neckt Lucy unseren unsportlichen Kollegen. Die beiden lassen keine Gelegenheit aus, um sich gegenseitig zu triezen. Richy zeigt ihr den Mittelfinger, worauf sie dreckig lacht.

Im nächsten Moment taucht Jen auf. Sie trägt ein enges, feuerrotes Minikleid mit farblich abgestimmten High-Heels. Ein extravagantes Abend-Makeup und eine strenge Hochsteckfrisur runden ihren Look ab.

„Wen haben wir denn da?", wagt sie meine Begleitung anzuflirten, während sie den Rest von uns einfach ignoriert. Dylan stellt sich vor und reicht ihr die Hand. In seinem Blick versuche ich zu lesen, ob ihm gefällt, was er gerade vor Augen hat. Aber ich komme zu keinem Ergebnis.

„Hi, Dylan", haucht Jen und schenkt ihm ein einladendes Lächeln. „Ich bin Jen."

„Was ist denn das?", sagt Lucy überrascht und guckt erstaunt zu Boden. „Jen! Ich glaub' dein Höschen tropft!"

Ich bin peinlich berührt, während Richy gehässig lacht. Jen versucht derweil Lucy mit ihrem Blicken zu töten.

„Möchtest du noch ein Glas Sekt, Liebling?", lenkt Dylan von der Situation ab und guckt mir dabei tief in die Augen.

„Ja, bitte", gebe ich leise von mir und sehe im Augenwinkel, wie Jen mich fassungslos anstarrt. Was hat sie denn geglaubt, wer Dylan ist? Lucys Freund? Oder ein Kellner?"

Meine Begleitung reicht mir gleich darauf ein neues Glas. Im nächsten Augenblick guckt er über meine Schulter Richtung Eingang. Ich drehe meinen Kopf und stelle fest, dass Bryce soeben das Restaurant betritt. An seinem strengen Blick mache ich fest, dass Dylan ahnt, um wen es sich handelt.

Bryce begrüßt seine Mitarbeiter, während er sich ebenfalls Richtung Bar vorarbeitet. Ich hingegen fange an zu schwitzen. Zwar hatte ich ausreichend Zeit, um mich mental auf diesen Augenblick vorzubereiten, doch ich kann nichts gegen meine körperlichen Reaktionen ausrichten. Jedes Mal, wenn er im gleichen Raum ist, gerate ich in Alarmbereitschaft.

„Was für ein Glück", sagt Jen, als sie unseren Boss entdeckt. Ein diabolisches Grinsen bildet sich dabei auf ihren Lippen. „Was meinst du damit?", will Richy von ihr wissen.

„Mr. Stewart ist ohne Begleitung erschienen", antwortet Jen. „Das macht den Ausflug gleich viel interessanter."

„Was an halt dich von ihm fern hast du eigentlich nicht verstanden?", gibt Lucy bissig von sich. Jen guckt meine Freundin herablassend an: „Malst du dir etwa selbst Chancen bei ihm aus?"

„Hört auf euch anzuzicken", mischt sich Richy ein.

Während die anderen reden, wird meine Atmung immer unruhiger. Mein Herz schlägt viel zu schnell. Es frustriert mich, dass ich nichts dagegen tun kann. Dylan kommt plötzlich näher und bleibt vor mir stehen. Ich gucke in seine grünen Augen und habe das Gefühl, er liest meine Gedanken.

„Darf ich dich küssen?", fragt er leise. Ich reiße meine Augen auf: „W... warum?"

„Ich denke, es wäre ein kluger Schachzug."

Im Augenwinkel sehe ich, dass sich Bryce bereits in unmittelbarer Nähe befindet. „Guck nicht zu ihm hin", sagt Dylan.

Mein Herz schlägt immer schneller: „Okay", antworte ich auf seine Frage. In der nächsten Sekunde legt Dylan seine rechte Handfläche um meine Wange, beugt sich zu mir runter und drückt vorsichtig seinen Mund auf meinen. Ich schließe zeitgleich meine Augen und spüre, wie meine Knie schlagartig butterweich werden. Sein herber Männerduft steigt in meine Nase und macht mich ganz benommen. Sein warmer Atem auf meiner Haut fühlt sich schön an. Genau wie der sanfte Druck seiner Lippen. Ich habe beinahe vergessen, was gerade um uns herum geschieht. Wie ist das möglich?

„Leute, dafür gibt's Zimmer in diesem Hotel", spottet Richy. Dylan nimmt seinen Spruch zum Anlass, um sich wieder von mir zu lösen. Ein Lächeln schmückt sein perfektes Gesicht, während ich mich von dem innigen Moment erst kurz erholen muss.

„Wo hat Mila dieses Prachtexemplar aufgegabelt?", höre ich Jen Lucy fragen. Der Neid in ihrer Stimme ist eine Genugtuung. Ich habe kein Problem mit Jen, doch sie neigt dazu andere spüren zu lassen, dass sie sich für etwas Besseres hält.

Bevor meine Freundin auf die Frage eingehen kann, erklingt Bryce' Stimme: „Guten Abend zusammen."

Wir gucken ihn an und wünschen ihm das Gleiche. Dabei fällt mir auf, dass er mich keines Blickes würdigt. Im nächsten Moment wendet er sich dem Barkeeper zu und bestellt einen Drink.

Lucy stellt sich neben mich und beugt sich zu meinem Ohr: „Er hat's gesehen. Und es hat ihm nicht gefallen."

Ich weiß nicht, was ich denken soll. Was ist, wenn wir Bryce mit unserem Kuss zu heftig provoziert haben? Das Letzte, was ich im Sinn habe ist, mich mit ihm anzulegen. Vielleicht war es doch kein kluger Schachzug.

„Wollen wir uns setzen?", schlägt Richy vor und stellt sein leeres Sektglas auf den Tresen. Dylan greift meine Hand, als wir gemeinsam einen freien Tisch ansteuern. Dann schiebt er mir einen freien Stuhl zurecht und wartet bis ich mich hinsetze. Seine aufmerksame Art gefällt mir. Ist das nur Teil seiner Show, oder ist er immer so?

Kurze Zeit später bittet Bryce seine leitenden Angestellten nach vorne. Gemeinsam begrüßen sie die komplette Belegschaft, sprechen ein paar Worte zum bevorstehenden Rahmenprogramm und wünschen uns schließlich einen guten Appetit.

Dylan sitzt links von mir am Tisch und guckt mich an. Ich erwidere seinen Blick. „Geht es dir gut?", möchte er von mir wissen.

Ich nicke. Tatsächlich hilft es, dass er bei mir ist. Ich fühle mich sicherer. Er hat eine besondere Wirkung auf mich, die ich nicht beschreiben kann. Obwohl wir uns so gut wie garnicht kennen, gelingt es mir, ihn an mich heran zu lassen. Natürlich nur als Mittel zum Zweck, aber dennoch ist es ungewöhnlich. Nach der schrecklichen Erfahrung mit Bryce habe ich mich gänzlich zurückgezogen. An Dating war seither nicht zu denken. Allein der Gedanke, mit einem Mann allein zu sein, löste tiefes Unbehagen in mir aus. Dylan hingegen hat diese abstoßende Wirkung nicht auf mich. Vielleicht sollte ich deswegen besonders vorsichtig sein. Ich möchte mich nie wieder in einer Situation wiederfinden, wo ich einem Mann hilflos ausgeliefert bin.

Als Vorspeise wird eine Minestrone serviert. Es folgt Lasagne als Hauptgang und schließlich Panna Cotta mit frischen Beeren zum Dessert. Bryce sitzt mit seinen leitenden Angestellten am anderen Ende des Raumes und hat keinen freien Blick auf mich. Ich schaffe es, mich ein wenig zu entspannen und das leckere Essen zu genießen.


Eine Stunde später stehen wir wieder an der Bar. Die Männer gönnen sich einen Whiskey. Wir Mädels trinken Rotwein. Die Stimmung ist locker und ausgelassen. Hin und wieder gesellen sich weitere Kollegen zu unserer Gruppe und bleiben auf einen gemeinsamen Drink. Ich spüre die Wirkung des Alkohols und ermahne mich kein weiteres Glas zu trinken. Es ist wichtig, dass ich bei Sinnen bleibe.

Irgendwann kommt Lucy zu mir: „Etwas stimmt nicht ..."

Sie sieht ganz blass aus. „Was ist denn los?", frage ich besorgt. „Mir ist kotzübel."

„Möchtest du aufs Zimmer?", frage ich und stelle zeitgleich mein Weinglas zur Seite. Lucy nickt. „Okay, dann los."

Ich befürchte, dass sich meine Freundin jeden Moment übergibt, greife um ihre Taille und begleite sie schnellen Schrittes nach draußen. Dylan habe ich vollkommen außer Acht gelassen. Er ist mit Richy in ein Gespräch vertieft und bekommt nicht mit, wie wir das Restaurant verlassen.

Der Fahrstuhl lässt nicht lange auf sich warten. Wir gehen hinein und ich betätige den Knopf für das fünfte Geschoss, wo sich unsere Zimmer befinden. Lucy hat angefangen heftig zu schwitzen. Ich mache mir wirklich Sorgen.

„Diese verdammten Nudeln", keucht sie. Ich erinnere mich, dass sie ein anderes Hauptgericht gegessen hat, da sie neuerdings auf Fleisch verzichtet.

„Glaubst du, es ist eine Lebensmittelvergiftung?", frage ich.

„Die Sahnesoße schmeckte merkwürdig ..." antwortet sie mit angestrengter Stimme.

Wir schaffen es gerade rechtzeitig in Lucys Zimmer. Sie sprintet ins Bad, reißt den Klodeckel auf und fängt an zu würgen. Es tut mir unglaublich leid, dass es ihr so schlecht geht.

Nachdem sie sich mehrfach übergeben hat, legt sie sich erschöpft auf den Fliesenboden. Es macht Sinn, dass sie sich nicht all zu weit von der Toilette entfernt. Ich gehe zu ihrem Bett, hole ein Kissen und ihre Decke und helfe ihr im Anschluss sich ein wenig bequemer hinzulegen. Außerdem hole ich eine Wasserflasche aus der Minibar und stelle sie griffbereit hin. Lucy entspannt sich ein bisschen. Ich hocke neben ihr und streiche ihr über den Kopf.

„Du musst nicht hierbleiben", flüstert meine Freundin. „Ich komme klar."

„Natürlich bleibe ich bei dir", widerspreche ich.

„Was ist denn mit Dylan?"

Ich reiße meine Augen auf. Wie konnte ich ihn bloß vergessen? Er fragt sich mit Sicherheit, wo wir abgeblieben sind.

„Ich gehe kurz runter und sage ihm Bescheid. Bei der Gelegenheit schaue ich beim Concierge vorbei. Vielleicht hat er Medikamente gegen Übelkeit auf Vorrat."

„Okay", gibt Lucy energielos von sich.

Ich stehe nach wie vor unter Strom, als ich Lucys Zimmer verlasse. Ungeduldig bleibe ich vor den Fahrstühlen stehen. Als endlich einer oben ankommt und sich die Türen öffnen, setze ich mich auf der Stelle in Bewegung und pralle mit einer männlichen Gestalt frontal zusammen.

„So stürmisch habe ich dich noch nie erlebt."

Ich spüre wie mein Körper Adrenalin freisetzt, das in Sekundenbruchteilen meine Blutbahnen flutet.

Schnell setze ich drei Schritte nach hinten, um Abstand aufzubauen. Was zum Teufel macht Bryce auf diesem Stockwerk? Sein Zimmer befindet sich ganz oben. Dafür hat Lucy persönlich gesorgt.

„Ich habe es eilig", sage ich und drehe mich gleichzeitig um meine eigene Achse. In einem Fahrstuhl zu steigen wäre jetzt eine sehr dumme Idee. Bryce könnte entscheiden mit einzusteigen. Stattdessen eile ich zur Tür, die zum Treppenhaus führt.

„Mila", sagt Bryce und läuft mir hinterher. Bevor ich die schwere Brandschutztür vollständig öffnen kann, hebt er seine rechte Hand und presst sie wieder zu. In mir steigt pure Panik hoch. Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.

„Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem, hm?", gibt er vorwurfsvoll von sich.

Ich bin nicht in der Lage zu sprechen. Ich habe einfach nur furchtbare Angst, was als Nächstes passiert. Die Erinnerungen an das, was mir dieser Mann angetan hat, lähmen mich. Ich bin ihm ausgeliefert.

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