5 | Die Ankunft
Ich bin stolz auf mich. Die letzten Arbeitstage habe ich dermaßen mit Besprechungen vollgestopft, dass ich kaum am Platz war und mir direkte Begegnungen mit Bryce erspart geblieben sind. Zusätzlich kam mir zugute, dass er mit seiner Einarbeitung mit Mr. Lancaster ausgelastet war. Unser ehemaliger Boss beginnt am Wochenende seine Krebsbehandlung und muss schnellstmöglich alle offenen Themen an seinen Nachfolger übergeben.
Heute ist Freitag und ich mache Mittags bereits Feierabend. Ich muss noch packen, bevor ich mit Lucy nach South Hampton aufbreche.
Der Gedanke daran, dass Dylan uns zu unserem Firmenausflug begleiten wird, fühlt sich vollkommen surreal an. Was hat sich Lucy nur dabei gedacht? Noch bessere Frage: Warum habe ich mich darauf eingelassen? Ich muss verrückt sein.
Stunden später betrete ich mit Lucy die Grand Central Station. Meine Freundin versucht herauszubekommen, wo sich unser Gleis befindet. Durch die Menschenmassen um uns herum gestaltet sich die Orientierung etwas schwierig. Wir fahren sehr selten mit dem Zug und bereuen in diesem Augenblick, dass wir Dylans Angebot, uns in seinem Auto mitzunehmen, ausgeschlagen haben.
„Hier entlang", meldet sich Lucy schließlich zu Wort und setzt sich hektisch in Bewegung. Ich komme mit meinem kleinen Rollkoffer kaum hinterher. Wir erreichen unser Gleis gerade im richtigen Moment, als der Zug einfährt. Als wir schließlich nebeneinander im Abteil sitzen, können wir uns endlich entspannen.
Lucy holt eine Wasserflasche aus ihrer Tasche, sowie ein dickes Buch und drei Klatsch-Magazine, die sie mir auf den Schoß legt. Ich werfe ihr einen irritierten Blick zu: „Was soll ich denn damit?"
„Na, was wohl?", entgegnet meine Freundin. „Du musst dich einlesen."
„Einlesen in was?"
„Du datest den Drummer aus der angesagtesten Band unserer Zeit. Hast du das etwa schon vergessen?"
Ich reiße meine Augen weit auf: „Daten? Bist du auf den Kopf gefallen? Wir tun doch bloß nur so ..."
„Ja, genau", fällt mir Lucy ins Wort. „Umso wichtiger ist es, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast. Eure Beziehung muss authentisch wirken."
Ich denke über ihre Worte kurz nach. Dann nehme ich ein Magazin in die Hand und fange an zu blättern.
„Seite acht bis neun", drängt Lucy und guckt mir zu, wie ich mich zu der entsprechenden Stelle vorarbeite. Die Schlagzeile überrascht mich:
Gerüchte über die Trennung von Sliver spitzen sich zu - Ryan Turner kündigt Soloalbum an
Ich bin kein Fan der Band. Ihre Zielgruppe sind Teenager-Mädchen, die bei ihren Konzerten haufenweise in Ohnmacht fallen. Dennoch kann sich niemand ihrer Musik entziehen. Einige Stücke finde ich sogar ganz gut. Trotzdem habe ich keine Ahnung, wer sich hinter Sliver verbirgt und bin überrascht zu lesen, dass es Trennungsgerüchte gibt. Mich packt die Neugier. Ich überfliege die zweiseitigen Artikel, während sich Lucy ihrem Buch widmet.
„Hm", sage ich im Anschluss, um die Aufmerksamkeit meiner Freundin zu erregen. Sie guckt mich fragend an und wartet, bis ich weiterspreche. „Dieser Ryan Turner ist ein egoistisches Arschloch."
„Warum?", will Lucy wissen.
„Na, weil er die Band im Stich lässt, um alleine Karriere zu machen."
„Das erklärt, warum Dylan jetzt im Fitness-Center seiner Familie aushilft", grinst Lucy. „Der Kerl ist arbeitslos."
„Denkst du, jemand aus unserer Belegschaft wird ihn erkennen?"
„Unwahrscheinlich", behauptet meine Freundin. „Wir alle sind zu alt für den Kram. Abgesehen davon, wer merkt sich schon das Gesicht des Drummers? Alles dreht sich nur um diesen Turner. Dabei singt der andere Kerl angeblich viel besser."
„Welcher andere Kerl?"
Lucy nimmt eine andere Zeitschrift in die Hand, wo ein Foto von der ganzen Musikgruppe abgebildet ist und tippt mit ihrem Finger auf ein anderes Band-Mitglied: „Das ist Jax Cole."
Ich gucke meine Freundin überrascht an: „Hast du die Artikel schon alle gelesen?"
„Na klar", sagt Lucy." Du weißt, ich bin gerne vorbereitet. Der vierte Typ heißt übrigens Collin Lewis und spielt Bassgitarre. Angeblich ist er schwul. Aber ihr Management streitet die Gerüchte ab."
„Schwul sein verkauft sich schlecht bei Teenie-Mädchen", sage ich mit zynischem Tonfall.
„So sieht es aus."
Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir unser Ziel. Als wir aus dem Zug steigen und die frische Meeresluft meine Atemwege flutet, fühle ich mich plötzlich richtig lebendig. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen und ich vergesse für einen kurzen Augenblick all meine Sorgen.
Lucy guckt mich an und lächelt zurück: „Wir werden das Bestmögliche aus diesem Wochenende rausholen, hörst du?" Ich will die gute Stimmung nicht wieder runterziehen und nicke meiner Freundin zu.
Als Nächstes schnappen wir uns ein Taxi und lassen uns zum Wellness-Resort bringen. Die Fahrt zum Hotel dauert nur wenige Minuten. Der Taxifahrer lässt uns am Haupteingang aussteigen. Ein Page eilt uns entgegen und hilft uns mit den Koffern. Im gleichen Augenblick fährt ein schwarzer Pontiac Firebird vor. Der Sportwagen beeindruckt mich durch sein stromlinienförmiges Design. Außerdem hat er diese futuristischen Klappscheinwerfer.
Der Service-Mitarbeiter vom Valet-Parking lässt nicht lange auf sich warten. Ich beobachte, wie er zur Fahrertür des Firebirds eilt und diese öffnet. Ein Mann in schwarzer Anzughose und weißem Hemd mit Krawatte steigt aus und holt ein farblich abgestimmtes Jacket aus dem Kofferraum. Als ich sein Gesicht erblicke, rutscht mir das Herz in die Hose.
„Heilige Scheiße", quiekt Lucy, die mit gleicher Neugier das Geschehen beobachtet. „Damit habe ich nicht gerechnet."
Dylans Blick trifft meinen. Er fängt an zu lächeln und kommt auf uns zu. Gleichzeitig beschleunigt mein Herz. Ich merke nicht, wie mein Unterkiefer aufklappt. Er sieht in seiner schicken Kleidung verboten gut aus. Außerdem ist irgendetwas mit seinen Haaren geschehen. Seine wilden Wellen wirken kürzer sind perfekt gestylt. Sein gepflegter Dreitagebart verpasst mir den Rest.
„Mach den Mund zu, Milly", höre ich meine Freundin flüstern. Scheiße! Ich bin so peinlich!
Dylan bleibt vor uns stehen und lächelt immer noch. Er hat es tatsächlich geschafft, mich in Verlegenheit zu bringen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Wenn ich gewusst hätte, was für einen heißen Schlitten du fährst, wäre ich im Traum nicht auf den Gedanken gekommen mit dem Zug zu fahren", quasselt Lucy drauf los. Ich bin ihr dankbar, dass sie die Initiative ergreift und von mir ablenkt.
„Naja", antwortet Dylan und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Da hätten wir zu dritt nicht reingepasst. Ich habe noch einen Landrover ..."
„Natürlich", fällt ihm meine Freundin ins Wort. „Mit schmachtenden Teenie-Herzen lässt sich gut Geld verdienen, hm?"
Dylan antwortet nicht. Stattdessen guckt er mich wieder an. Ich fühle mich in seiner Anwesenheit klein und unbedeutend. Neben ihm sehe ich meinem Hoodie und meiner Denim-Shorts vollkommen lächerlich aus. Von meiner Friseur will ich erst garnicht anfangen. Ich habe meine Locken zu einem Dutt zusammengesteckt, der an ein missglücktes Vogelnest erinnert.
„Wir gehen auf keine Gala, Dylan", reagiere ich endlich.
Seine perfekten Zähne kommen zum Vorschein und er kratzt sich erneut am Hinterkopf: „Tut mir leid. Ihr habt nichts zum Dresscode gesagt. Also dachte ich, besser zu viel, als zu wenig ..."
„Lass uns einchecken", spricht Lucy und reißt die Aufmerksamkeit wieder an sich. „Wir müssen uns vor dem Abendessen noch frisch machen."
Eins muss man meiner Freundin lassen, sie überlässt nichts dem Zufall. Als Mr. Lancasters Assistentin war sie selbstverständlich in die Organisation unseres Ausfluges involviert und hat dafür gesorgt, dass sich unsere Zimmer auf dem selben Stockwerk befinden. Das nachgebuchte Zimmer für Dylan befindet sich direkt neben meinem. Als ich in mein Zimmer hineingehe stelle ich fest, dass sich eine Verbindungstür zum Raum nebenan befindet. So etwas macht Sinn, wenn man als größere Familie verreist. Ich begutachte die Tür und stelle sicher, dass das obere Sicherheitsschloss verriegelt ist. Auf einmal höre ich ein Klopfen. Ich erschrecke mich. War das etwa Dylan? Will er etwa, dass ich die Verbindungstür aufmache? Es klopft nochmal.
„Was ist?", spreche ich durch die verschlossene Tür.
„Was soll ich anziehen?", antwortet Dylan.
Ich überlege kurz. Mein Outfit für den Abend ist ein simples, schwarzes Etuikleid. Es hat einen zurückhaltenden U-Bootauschnitt und reicht mir bis zu den Knien. Dazu wollte ich passende Pumps kombinieren.
„Lass einfach das Jacket und die Krawatte weg. Dann müsste es gehen", rufe ich ihm schließlich zu.
„Okay."
In meinem Körper kribbelt es. Ist es die Nervosität, weil wir in Kürze Bryce beim Abendessen antreffen werden? Ich frage mich, wie er auf meine Begleitung reagieren wird. Hoffentlich geht unser Plan auf und er lässt mich das ganze Wochenende in Frieden.
Eine halbe Stunde später habe ich meine widerspenstigen Haare erfolgreich geglättet. Sie sind jetzt länger und reichen mir bis zur Mitte meines Rückens. Mit dezentem Make-Up habe ich mein Gesicht aufgefrischt und gucke zufrieden in den Spiegel. Dann klingelt das Festnetztelefon.
„Lu? Bist du es? Ich bin gleich fertig", beantworte ich den Anruf.
„Ich bin auch fertig", antwortet Dylan.
Ich verdrehe meine Augen: „Warum rufst du an?"
„Weil du auf mein Klopfen nicht reagierst."
„Ich war im Bad" erkläre ich. „Außerdem ist mir nicht wohl dabei, dich in mein Zimmer zu lassen. Also bleibt die Zwischentür geschlossen." Ich entscheide mit offenen Karten zu spielen, damit er meine Grenzen kennt.
„Verstehe", antwortet er. „Es macht Sinn, dass du mir weitere Anhaltspunkte gibst, wie ich mich zu verhalten habe, bevor die Veranstaltung losgeht."
Dylan hat Recht. Bisher hat er nur die nötigsten Informationen erhalten. Er weiß, dass unser neuer Boss und ich eine Vergangenheit haben und ich mich in seiner Anwesenheit unwohl fühle. Dylan als meinen Freund auszugeben soll Bryce auf Abstand halten. Weitere Fragen hatte Dylan nicht gestellt. Doch ich bin mir sicher, dass er eine ungefähre Vorstellung hat, was sich zwischen mir und Bryce abgespielt haben muss.
„Mila?"
Ich kehre aus meinen Gedanken zurück und räuspere mich: „Bitte bleib in meiner Nähe." Meine Stimme klingt irgendwie flehend, dabei habe ich das garnicht beabsichtigt.
„Natürlich", antwortet er sanft. „Kannst du mir noch ein paar Dinge über dich erzählen, damit ich das Gefühl habe, dich ansatzweise zu kennen?"
„Welche Dinge?"
Ich höre, wie er schmunzelt: „Zum Beispiel wo du herkommst und wie alt du bist."
„Achso", gebe ich von mir und komme mir blöd vor, dass ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin, die wichtigsten Eckdaten über mich preis zu geben.
„Ich bin dreiundzwanzig und komme ursprünglich aus New Jersey. Lucy habe ich auf dem College kennen gelernt, als ich BWL mit Schwerpunkt Marketing studiert habe. Wir teilen uns seit zwei Jahren eine Wohnung in Hell's Kitchen."
„Wie kommt es, dass ihr in einem Unternehmen arbeitet?", will Dylan als Nächstes wissen.
„Lucy war mit ihrem Studium früher fertig als ich und hat im Anschluss bei unserem Verlag einen Job gefunden. Auf ihre Empfehlung hin habe ich mich ein Jahr später dort beworben."
„Und was tust du, wenn du nicht gerade arbeitest?", fragt er weiter.
„Lesen."
„Was ließt du denn so?"
„Das was unsere Autoren so schreiben. Ich bevorzuge kein besonderes Genre."
Es bleibt kurz ruhig in der Leitung. Dann ergreift Dylan wieder das Wort: „Möchtest du auch etwas über mich wissen?"
„Ich habe paar Klatschmagazine im Zug gelesen", gebe ich vollkommen unüberlegt von mir. Im gleichen Augenblick bereue ich diese sinnfreie Information. Dylan hat angefangen zu lachen: „Soll das bedeuten, du fühlst dich über mein Leben ausreichend informiert?"
„Stimmt es, dass eure Band vor dem Aus steht, weil euer Lead-Sänger eine Solokarriere anstrebt?" Ich weiß nicht, was mich dazu treibt, diese Frage zu stellen, aber ich kann mich nicht zurückhalten.
„Die Dinge sind kompliziert", antwortet er. „Du darfst nicht alles glauben, was die Presse von sich gibt."
„Bedeutet es, dieser Ryan ist kein egoistisches Arschloch, das seine Bandkollegen hängen lässt?"
„Nein, das ist er nicht."
Am liebsten möchte ich noch mehr über die Band erfahren, aber ich halte mich zurück. Mit Sicherheit hat Dylan keine Lust über Dinge zu sprechen, die die Außenwelt nichts angehen.
„Kommst du ursprünglich aus New York?", frage ich stattdessen.
„Ja, meine Familie kommt aus Brooklyn. Ich besitze dort ein Apartment. Die letzten Jahre habe ich allerdings hauptsächlich in Los Angeles verbracht, wo unser Platten-Label angesiedelt ist."
„Hast du Pläne, was du machen willst, wenn es mit der Band nicht weitergeht?" Ich kann einfach nicht anders und kehre zum ursprünglichen Thema zurück. Warum interessiert mich das so sehr? Lucy hat mich mit ihren Klatschmagazinen scheinbar einer Gehirnwäsche unterzogen.
„Keine Ahnung", antwortet Dylan. „Ich habe nur einen Highschool-Abschluss. Vielleicht gehe ich tatsächlich noch mal aufs College und lerne was Vernünftiges."
„Wie alt bist du denn?"
„Vierundzwanzig. Ich bin paar Jahre älter als meine Band-Kollegen."
Es klopft an meiner Zimmertür. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: „Wir müssen los."
„Okay", antwortet Dylan. An seinem Tonfall kann ich hören, dass er lächelt. „Ich bin gleich bei dir, Liebling."
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