2 | Der Schock

„Bewegung, Milly", hetzt mich Lucy. Ich lege einen Gang zu. Wir kommen rechtzeitig am Gleis an und erwischen die U-Bahn Richtung Park Avenue. Wie jeden Morgen ist die Subway überfüllt. Im Sommer übersteigen die Temperaturen im Big Apple sogar die hundert Fahrenheit Grenze. Bereits am frühen Morgen staut sich die Luft in den Unterführungen.

Ich lebe erst seit zwei Jahren im Herzen der Stadt, habe mich jedoch schnell an die Gegebenheiten angepasst. Weder die Hitze, noch die schlechte Luft machen mir was aus. Lucy ist deutlich empfindlicher. Während wir uns aneinander gequetscht an den Haltegriffen über unseren Köpfen festhalten, hat sie einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Sie kann es kaum erwarten, bis wir hier endlich raus sind.

Bei ihrem Anblick muss ich grinsen. Wir beide könnten nicht unterschiedlicher sein. Lucy trägt einen dunklen Pixie-Haarschnitt und hält nicht viel von Schminke. Sie bevorzugt lockere Anzughosen und würde sich nicht mal unter Androhung von Gewalt in einen Absatz-Schuh zwängen. Ich habe mittellanges, gelocktes Haar, das weder blond noch braun ist. Wie üblich bei den Temperaturen, trage ich ein luftiges Sommerkleid und farblich abgestimmte Sandalen. Äußerlichkeiten waren mir nicht so wichtig, bevor ich in die Stadt gezogen bin. Doch die modebewussten New Yorkerinnen inspirieren mich, mehr Sorgfalt in mein Erscheinungsbild aufzuwenden.


„Was ist denn hier los?", frage ich entgeistert, als wir eine Viertelstunde später im Büro ankommen. Unsere Mitarbeiter bewegen sich Richtung Konferenzraum. „Außerordentliches Team-Meeting", antwortet ein Kollege, der gerade an uns vorbei geht. Lucy und ich tauschen verwirrte Blicke aus. Dann folgen wir der Masse und ergattern zwei Plätze nebeneinander an der Stirnseite des langen Besprechungstisches.

Unser Boss betritt als Letztes den Raum und wünscht uns einen guten Morgen. Er ist ein kluger, gutmütiger Mann, den wir sehr wertschätzen. Seine hellgrauen Haare und die dicke Hornbrille unterstreichen sein Wesen.

„Ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden", spricht er, als er sich vor der Mannschaft positioniert hat. „Mein gesundheitlicher Zustand zwingt mich zu einer vorzeitigen Pensionierung."

Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Ich sehe in den Gesichtern meiner Kollegen, dass sie tief betroffen sind. Ich selbst kämpfe mit meinen Tränen. Mr. Lancaster ging mit seiner Erkrankung offen um. Sein Prostatakrebs wurde früh entdeckt und die Heilungs-Chancen standen gut. Er hatte sich einer Strahlentherapie unterzogen und kehrte nach der erfolgreichen Behandlung zurück ins Geschäftsleben. Seitdem war ein halbes Jahr vergangen. Alle glaubten, er hätte es geschafft.

„Bitte guckt mich nicht so an", spricht Mr. Lancaster weiter. „Ich will diese bemitleidenden Blicke nicht. Noch bin ich nicht tot, verstanden? Ich packe das schon. Doch unser Vorstand ist der Ansicht, die Situation sei untragbar und hat entschieden meine Stelle kurzfristig neu zu besetzen."

Der ganze Raum beginnt zu tuscheln. Eine personelle Veränderung an der Spitze unseres Teams ist eine heikle Angelegenheit. Ich gucke Lucy an, die Mr. Lancaster regungslos anstarrt. Natürlich geht ihr die Sache besonders nahe. Sie arbeiten eng zusammen und sind ein Herz und eine Seele.

„Bitte beruhigt euch wieder", ergreift unser Boss wieder das Wort. „Die Hyänen sind schon da", sagt er und deutet auf die Glaswand. Wir drehen uns um und nehmen drei männliche Gestalten wahr, die sich schnellen Schrittes unserem Konferenzraum nähern.

Als ich nacheinander in ihre strengen Gesichter blicke, schrecke ich innerlich plötzlich auf. Es fühlt sich an, als sei mein Herz soeben stehen geblieben. Wieso befinde ich mich in dieser Situation? Warum ist er hier? Was hat es zu bedeuten?

„Das ist dann wohl der Neue", spricht Lucy, als sie meinen fassungslosen Gesichtsausdruck sieht. „Wie schade, dass ich nicht auf Kerle stehe. Der Typ hätte echtes Potenzial ..."

Ich nehme die Stimme meiner Freundin nur unterbewusst wahr. Viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, meinen Schock zu überwinden. Als die Männer schließlich den Konferenzraum betreten, greife ich hektisch nach Lucys Hand und drücke fest zu. „Was ist denn los?", möchte sie von mir wissen.

Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung. Sie stellt augenblicklich fest, dass mit mir etwas nicht stimmt und guckt mich besorgt an.

„D... das ... er ... das ...", ich schaffe es nicht in vollen Sätzen zu sprechen. Meine Stimme klingt verängstigt. Es dauert zwei Sekunden, bis Lucy begreift, was ich ihr zu vermitteln versuche. Dann reißt sie ihre Augen auf: „Nicht dein Ernst." Ich reagiere nicht.

In der Zwischenzeit haben sich unsere beiden Vorstände mit dem mutmaßlichen Nachfolger unseres Chefs vor Kopf des langen Besprechungstisches gestellt. Mr. Lancaster übergibt ihnen das Wort und nimmt auf einem freien Stuhl Platz. Ich hingegen ziehe meinen Kopf ein und wage keinen weiteren Blick nach vorne.

„Scheiße, Milly", bringt Lucy hervor, bevor der Raum vollständig verstummt und einer unserer Vorstände das Wort ergreift: „Mr. Lancaster hat Sie bereits auf den neuesten Stand gebracht. Wir möchten Ihnen nun Mr. Bryce Stewart vorstellen, der mit sofortiger Wirkung seine Nachfolge antritt."

„Mit sofortiger Wirkung?!", gibt Lucy leise von sich und richtet ihren Blick wieder zu mir hin. „Haben die den Arsch offen?!"

Währenddessen ergreift der andere Vorstand das Wort: „Sie werden verstehen, dass sich Mr. Lancaster auf seine persönliche Genesung konzentrieren muss ..."

Das Ausmaß der Katastrophe wird mir immer deutlicher bewusst. Mir wird ganz heiß und ich beginne schwer zu atmen. Ich möchte auf der Stelle aus diesem Raum verschwinden, doch das ist unmöglich. Ich darf keine Aufmerksamkeit erregen. Er darf mich nicht sehen. Ich will nicht, dass er mich sieht.

„Mr. Stewart, möchten Sie einige Worte an Ihre Belegschaft richten?", spricht der Vorstand weiter.

„Natürlich", antwortet Bryce. Als ich seine raue Stimme höre, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich versuche mich noch kleiner zu machen, doch ich weiß, dass es nicht viel nützen wird. Wenn er mich noch nicht entdeckt hat, wird er es mit Sicherheit jeden Moment tun.

Bryce stellt sich oberflächlich vor, erzählt von seiner zehnjährigen Berufserfahrung in der Literaturbranche und kündigt uns eine reibungslose Zusammenarbeit auf Augenhöhe an, die ihm sehr wichtig ist.

Als sein Monolog endlich sein Ende nimmt, steht Mr. Lancaster wieder auf und schüttelt ihm die Hand. Mir ist mittlerweile richtig schlecht geworden. Ich will mir besser nicht vorstellen, wie ich gerade aussehen muss. Meine Kollegen wissen nicht so recht, wie sie reagieren sollen. Schließlich fängt einer an zu klatschen und die anderen tun es ihm nach. Ich halte mich zurück, genau wie Lucy, die mir einen mitleidenden Blick zuwirft.

Als unsere Vorstände sich schließlich verabschieden, bleibt Bryce mit Mr. Lancaster vorne stehen. Die ersten Kollegen erheben sich von ihren Stühlen und gehen neugierig mit beiden ins Gespräch. Ich nutze die Gelegenheit und verlasse fluchtartig den Konferenzraum. Lucy ist mir dicht auf den Fersen. Wir erreichen die Toiletten, wo sich erfreulicherweise niemand Weiteres aufhält.

„Was war das bitte für eine verdammte Shitshow?!", flucht meine Freundin. Sie hat ihre Hände auf ihren Hüften abgelegt und tigert entlang der Toilettenkabinen auf und ab. Ich habe mich an den Waschtisch gelehnt und halte mich mit beiden Händen an der Steinplatte fest. „Ich kann nicht mit ihm arbeiten!", spricht sie weiter. „Ich kann doch nicht mit so einem verdammten Monster arbeiten!"

Die ganze Situation hat mich dermaßen überfordert, dass ich kein Wort heraus bekomme. „Wusstest du, dass er aus der gleichen Branche kommt?", will Lucy von mir wissen. Ich nicke gedankenverloren und erinnere mich gleichzeitig an unser erstes Date, als mir Bryce von seiner Anstellung bei Barnes & Noble erzählte. Er war dort als Vertriebsleiter tätig. Gleichzeitig fällt mir ein, dass ich ihm im Umkehrschluss auch erzählt habe, wo ich beschäftigt bin.

„Warum reißt du deine Augen so weit auf?", will Lucy von mir wissen. „Er wusste das ich hier arbeite", beantworte ich ihre Frage. „Und nun ist er mein Boss. Was ist, wenn er mich feuert, Lu?"

Meine Freundin bleibt vor mir stehen und guckt mich paar Sekunden lang an, bevor sie antwortet: „Aus welchem Grund sollte er das tun? Die Polizei hat deine Aussage nicht aufgenommen. Er kann nicht wissen, dass du versucht hast ihn ..."

„Darum geht es nicht", unterbreche ich ihren Satz. „Ich habe mich aus dem Hotelzimmer geschlichen und seine Anrufe ignoriert. Was ist, wenn sein Ego angekratzt ist und er die Chance ergreift, sich an mir zu rächen?"

Lucy starrt zu Boden und gibt einen gequälten Seufzer von sich: „Willst du unter diesen Umständen hier überhaupt noch arbeiten? Dieser Kerl hat dich ..."

„Bitte", falle ich ihr wieder ins Wort. „Ich will jetzt nicht darüber nachdenken." Lucy wirft mir einen skeptischen Blick zu: „Das tust du doch schon die ganze Zeit."

Die Tür geht plötzlich auf, sodass wir beide leicht aufschrecken. Unsere Kollegin Jen vom Empfang betritt den Raum. Sie hat schwarze, lange Haare und ist von Kopf bis Fuß perfekt durchgestylt. Als sie uns sieht, bildet sich ein schelmisches Lächeln in ihrem Gesicht: „Was sagt ihr zu unserem neuen Boss, hm? Er sieht Brad Pitt verblüffend ähnlich, findet ihr nicht? Es hätte uns wirklich schlechter treffen können."

Fassungslos starren wir Jen an. Dabei kann ich sie natürlich ein stückweit verstehen. Bryce ist sehr attraktiv und weiß genau, welche Wirkung er auf Frauen hat. 

Ich habe ihn vor etwa vier Monaten in einem Café kennen gelernt. Er hat mich bei der Getränkeausgabe von hinten angerempelt. Dabei schwappte mein Kaffee auf meine weiße Bluse. Bryce tat sein Missgeschick entsetzlich leid. Er bestand darauf, mir einen neuen Kaffee auszugeben und für die Reinigung aufzukommen. So kamen wir ins Gespräch und kaum, dass ich mich versah, war ich seinem Charme erlegen. Als er mich schließlich nach meiner Nummer fragte, konnte ich mein Glück nicht fassen.

„Wieso seid ihr denn so angespannt?", spricht Jen weiter, als wir auf ihre Frage nicht reagieren.

„Halt dich von ihm fern", befielt Lucy mit scharfen Tonfall.

Jen kreuzt ihre Arme: „Was wird das denn jetzt?"

Lucy setzt sich in Bewegung Richtung Ausgang. Ich folge ihr. Bevor wir rausgehen, guckt sie Jen nochmal an: „Hör einfach auf mich, verstanden?" Wir warten die Reaktion unserer Kollegin nicht ab und verlassen stattdessen den Raum.

Lucy begleitet mich zu meinem Arbeitsplatz im Großraumbüro. Es ist durch drei halbhohe Wände von den Arbeitsplätzen meiner Kollegen abgetrennt. Als Assistentin der Geschäftsführung genießt Lucy das Privileg eines eigenen, verglasten Büros, mit einem freien Blick auf die Skyline unserer Stadt. Ich habe sie immer darum beneidet, bis zum heutigen Tag. Sie wird ab sofort für Bryce Stewart arbeiten. Dem Mann, dem ich meine schlimmsten Albträume zu verdanken habe.

„Ich habe keinen Plan, wie wir mit der ganzen Sache jetzt umgehen sollen", spricht Lucy, bevor sie mich alleine lässt. „Es tut mir wirklich leid, Milly."

Ich beobachte, wie Lucy in ihr Büro geht und an ihrem Schreibtisch Platz nimmt. Gleich nebenan befindet sich das Büro von Mr. Lancaster, das er vermutlich noch heute für seinen Nachfolger räumen wird. Der Konferenzraum befindet sich auf der anderen Seite von Lucys Büro. Noch immer befinden sich darin mehrere Kollegen, die sich mit Bryce und Mr. Lancaster unterhalten.

Ich wende meinen Blick ab und starte meinen Computer. Der wuchtige Röhrenbildschirm erwacht zum Leben. „Holen wir uns einen Kaffee?", fragt mein Kollege Richard von nebenan. Er hat sich von seinem Stuhl erhoben, schiebt seine große Streberbrille hoch und guckt mich erwartungsvoll an. Richy ist für die Programmierung unserer Webseite zuständig. Ohne ihn wäre unser Team aufgeschmissen. Ich lächele ihn an und schüttele dabei meinen Kopf. „Warum nicht?", fragt er irritiert. „Die Verkündung hat mir auf den Magen geschlagen", gestehe ich. Mir ist tatsächlich immer noch kotzschlecht. Richy akzeptiert meine Ausrede und macht sich alleine auf den Weg in die Kaffeeküche.

Wie soll ich diesen Tag bloß überstehen? Wie soll es weitergehen? Die Überforderung mit der Situation macht mich fertig. Ich werfe einen Blick in meinen Tischkalender und atme erleichtert auf, dass nichts Wichtiges auf dem Plan steht. Mit Sicherheit werde ich mich heute kaum auf meine Aufgaben konzentrieren können.

Nach einigen Minuten kehrt Richy mit zwei Tassen zurück und stellt eine auf meinem Schreibtisch ab: „Kamillentee", sagt er mit einem sanften Lächeln. „Der tut deinem Magen gut." Ich lächele zurück: „Danke."

Im gleichen Augenblick verlassen Bryce und Mr. Lancaster den Konferenzraum. Von meinem Arbeitsplatz aus, habe ich freien Blick auf das Geschehen. Ich spüre, wie mir erneut ein unangenehme Schauer den Rücken runter läuft.

Obwohl ich nicht hingucken will, bleiben meine Augen an Bryce hängen. Ich beobachte, wie er mit unserem ehemaligen Boss sein Büro ansteuert. Kurz bevor sie ankommen, dreht Bryce plötzlich den Kopf in meine Richtung. Sein Blick trifft sofort auf meinen. Ich spüre, wie meine Gesichtsfarbe schlagartig entweicht. Die Übelkeit spitzt sich gleichzeitig zu. Ich kann meinen aufsteigenden Mageninhalt nicht unterdrücken. Hektisch erhebe ich mich von meinen Stuhl und eile Richtung Toiletten. Dabei spüre ich, wie Bryce' Augen weiterhin an mir haften. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top