TWENTY-NINE - Fuck - ✔️
Aria POV
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„Weißt du irgendwas?" Liam schüttelt den Kopf und schaut auf seine Beine, die er an die Wand gelehnt hat, während er mit dem Oberkörper neben mir rücklings auf dem Bett liegt. „Dad hat kein Sterbenswörtchen darüber verloren, was geplant ist", fügt er zu seinem Kopfschütteln noch hinzu, und ich seufze. Seit Stunden sind Gianmarco und Jamie in Gianmarco's Büro und besprechen, was sie tun wollen. Ehrlich gesagt verwundert es mich nicht, dass weder Liam noch ich darüber informiert werden, wie die Mafia vorgehen wird, um sich Santos endlich vom Hals zu schaffen, doch trotzdem bin ich unheimlich neugierig.
Und Liam auch, denn das ist eines der vielen Dinge, die wir gemeinsam haben.
„Ich hasse es, nichts wissen zu dürfen", murrt mein bester Freund, und ich nicke bestätigend. „Ich auch. Aber so läuft das hier. Ich habe meine Informationen bisher immer durch Nicola und Raffa bekommen, aber die sind ja auch im Büro." Liam zieht eine Schnute und erinnert mich somit an ein kleines Kind, was er ja eigentlich auch ist, mal abgesehen von seinem Geburtsdatum.
Eine Weile liegen wir schweigend nebeneinander und starren auf unsere Füße hoch, bis ich mich auf den Bauch rolle und Liam mustere. „Wie geht's Malia und Jeremy?", frage ich leise, und Liam sieht langsam zu mir. „Beschissen", seufzt er dann, und nimmt seine Beine ebenfalls runter. Er legt sich wie ich auf den Bauch und spielt dann kurz mit den Händen, während er nach den richtigen Worten zu suchen scheint. „Malia ist unter Tränen zusammengebrochen, als sie die Nachricht erreicht hat. Deine Mutter übrigens auch. Jeremy hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen, und dein Vater ist arbeiten gegangen."
Bei der Vorstellung davon, wie meine Familie alles aufgenommen hat, steigen mir selbst fast die Tränen in die Augen. Sie wissen nicht, dass es mir gut geht, dass ich noch lebe, und dass ich sie schrecklich vermisse. Wahrscheinlich sind sie dabei, ihr Leben neu zu ordnen und versuchen, sich damit abzufinden, dass ich nicht mehr da bin. Immerhin bin ich bald drei Wochen hier, und übermorgen ist Weihnachten. Das erste Weihnachten, an dem ich nicht bei meiner Familie bin.
„Aber sie geben die Hoffnung nicht auf, dass man dich findet. Dass du zurückkehren wirst. Vor allem Malia ist felsenfest davon überzeugt, dass du wieder zurückkommen wirst, und ich war es übrigens auch. Jeder war es." Ich lächle über Liams Worte, und mein Herz erwärmt sich etwas. Zu wissen, dass ich nicht einfach aufgegeben, verdrängt oder gar vergessen werde, gibt mir ein gutes Gefühl, und es zeigt mir, dass ich den Menschen tatsächlich so wichtig bin, wie sie es mir immer gesagt haben.
„Ich glaube, vor allem Malia spürt, dass es dir gut geht", murmelt Liam irgendwann, und ich schaue zu ihm. „Meinst du?" Liam nickt und lächelt versonnen. „Ja. Sie hat zwar ordentlich geweint und war wirklich am Boden zerstört, doch dann hat sie plötzlich gesagt, dass sie irgendwie spüren kann, dass du lebst, und dass es dir gut geht. Dass du nicht für immer weg sein wirst. Sie war ruhig und hat immer ein kleines Lächeln auf den Lippen getragen, als Leute davon gesprochen haben, dass du schon lange tot sein könntest. Ich bin davon überzeugt, dass es an eurem Geschwisterband liegt."
Mein Lächeln wird noch eine Spur breiter, und wehmütig denke ich an meine besten Momente mit meiner Schwester zurück. Da wir uns zum Glück schon immer sehr gut verstanden haben, gibt es davon mehr als genug, und trotzdem liebe ich es, mir jede einzelne Erinnerung mindestens fünfmal nacheinander ins Gedächtnis zu rufen. Vor allem, seit ich hier bin, da mein Gedächtnis das Einzige ist, was mich an Malia erinnern kann. Ich kann sie nicht sehen, und ich kann sie nicht hören, aber wenigstens kann ich sie spüren. Und sie mich ja anscheinend auch.
„Es freut mich, sowas zu hören", sage ich immer noch lächelnd, und schwöre mir, Malia als erstes um den Hals zu fallen, sollte ich jemals wieder nach Hause gehen können. „Die Medien berichten übrigens immer noch über dich", bemerkt Liam plötzlich, und ich hebe überrascht eine Augenbraue. „Ich bin in den Medien?"
Als wäre ich ein Alien starrt Liam mich verdutzt an, und wirft dann regelrecht empört die Hände in die Luft.
„Girl! Natürlich bist du in den Medien! Du bist entführt worden, und das nicht gerade vor wenigen Leuten, und leider auch nicht gerade von einer unbedeutenden Familie. Die Journalisten schlugen sich die ersten Tage vor eurer Haustüre förmlich die Köpfe darüber ein, wer denn jetzt als erstes welche Frage stellen dürfe. Da es nie geklärt wurde, haben alle gleichzeitig angefangen, Fragen zu stellen, weshalb zwei Polizisten vor eure Haustüre gestellt wurden und dortbleiben werden, bis die Journalisten sich endlich verpissen."
Okay, damit hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Fühlt es sich so an, wenn man irgendwie über Nacht berühmt geworden ist?
„Jede Tagesschau und jeder Radiosender hat über dein Verschwinden berichtet, und die ersten Tage war die Story ganz groß auf jeder Titelseite zu sehen. Am Kiosk hat man gefühlte hundert Male dein Gesicht gesehen." Sogar im Fernsehen bin ich mehrmals vorgekommen? Ich habe wirklich viel verpasst. Wahrscheinlich ist „Aria Davis" wohl kein unbekannter Name mehr in Seattle, und ich frage mich, was mich erwarten wird, wenn ich wirklich wieder zurückkommen sollte. Ich will gar nicht wissen, wie viele Journalisten ich am Hals haben werde, und hoffe inständig, dass die Polizei diesmal schon im Voraus Leute organisieren wird, die sie von mir fernhalten.
„Die ersten Tage war alles tot bei euch. Fernseher, Radio, nicht mal die Zeitung hat jemand aus dem Briefkasten geholt. Es war, als wäre euer Haus plötzlich völlig von der Außenwelt abgeschnitten gewesen." Liam berichtet das alles mit herumfuchtelnden Händen, während ich nur völlig überrumpelt nicke. Ich hätte niemals mit so einem Aufruhr um mein Verschwinden gerechnet. Ich meine, es werden doch jeden Tag aufs Neue Leute vermisst, oder nicht?
Gerade will ich etwas dazu sagen, als es an meiner Türe klopft, und sie dann ohne eine Antwort meinerseits geöffnet wird. Zuerst will ich protestieren, doch als Gianmarco den Kopf in mein Zimmer streckt, erklärt das auch die fehlenden Manieren, und ich schlucke mir die sowieso unnötigen Worte wieder runter. Es bringt nichts, Gianmarco auf etwas hinzuweisen. Er tut eh, was er will.
„Es tut mir leid euch so stressen zu müssen, aber Nicola wird ab hier übernehmen. Wir werden angegriffen, und nein, das hier ist keine dieser lächerlichen Übungen. Ihr hört auf alles, was Nicola euch sagt, verstanden?"
Ich stehe völlig unter Schock, während ich versuche zu verstehen, was Gianmarco da gerade von sich gegeben hat. Wir werden angegriffen? Die Mafia wird angegriffen? Wer ist denn bitte so unglaublich lebensmüde?
„Verstanden", erwidert Liam für uns beide, und steht auf. Dann schnappt er sich meinen gesunden Unterarm und zieht mich ebenfalls auf die Beine. Nicola betritt mein Zimmer, und ich beschließe, dass ich jetzt nicht über die Situation nachdenken kann. Das würde zu lange dauern. „Hier, nimm die", sagt Nicola nur monoton, und streckt meinem besten Freund ernsthaft eine Pistole entgegen. Als Liam diese auch noch annimmt, als wäre es das normalste der Welt, springen mir fast die Augen aus dem Kopf.
„Ich brauche deine Hilfe, um Aria zu beschützen." Liam nickt und steckt sich die Waffe in seine Hosentasche. „Geht klar", sagt er dann nur, und Nicola nickt zufrieden. Währenddessen macht sich die Angst in mir breit, und ich schlucke heftig, um jetzt nicht in Panik auszubrechen. Der Ernst der Lage wird mir mit jedem meiner Atemzüge bewusster, und so langsam sickert die Information, dass das hier wirklich gefährlich werden wird, zu mir durch.
„Wer ist es?", frage ich leise, und Nicola sieht mich das erste Mal richtig an, seit er mein Zimmer betreten hat. „Santos", erwidert er einsilbig, und ich nicke leicht. War klar, wer denn auch sonst?
„Kommt, wir müssen uns in Sicherheit bringen." Nicola schnappt sich wie Liam zuvor meinen Arm und zieht mich mit sich, während Liam sofort neben ihm her läuft. Ich lasse mich einmal durch das ganze Haus zerren, und ziehe mir nicht mal meine Schuhe an, als wir die Villa verlassen, um auf die Trainingshalle zuzusteuern. Dort öffnet Nicola dann eine unscheinbare Türe, die in einen kleinen Raum führt, der von einer einzigen Neonröhre erhellt wird.
„Hier sind wir sicherer als im Haus", sagt er schliesslich, und schließt die Türe hinter sich, als alle im Raum sind. Seine Stimme ist abgeklärt und emotionslos, und erinnert mich wieder an den Nicola, den ich die ersten Tage kennengelernt habe. Dass ich inzwischen weiß, wie der Italiener auch sein kann, beruhigt mich etwas. Ich mag diese kalte Seite überhaupt nicht an ihm.
Etwas fängt an zu vibrieren, und als Nicola sein Handy hervorzieht, runzelt er die Stirn. „Liam, du musst zu deinem Vater, er braucht deine Hilfe. Er ist im Büro mit Amy." Liam nickt nur, und auch seine Miene hat sich verändert. Sie ist ernst, und ich kann keine Spur von der sonst so präsenten Belustigung finden. Ich habe Liam noch nie so gesehen, nicht mal, als er jemanden für mich verprügelt hat. Eigentlich ist dann die Belustigung erst recht präsent.
Er drückt mich kurz an sich, ehe mein bester Freund schnell und vor allem leise aus dem Raum verschwindet. Meine Angst wird immer wie grösser, und als Nicola in mein Gesicht sieht, werden seine Gesichtszüge tatsächlich etwas weicher. Er kommt zu mir und stellt sich dann direkt vor mich, sodass ich dazu gezwungen bin, zu ihm aufzusehen.
„Vertraust du mir?", fragt der Italiener leise, und ich schlucke. Natürlich vertraue ich ihm. „Ja", murmle ich leise, und fixiere mich auf diese unglaublichen Augen, die mich auch jetzt wieder völlig vom Hocker hauen. Ich meine, wie ist es bitte möglich, so leuchtende Augen zu haben? „Dann glaub mir bitte, wenn ich dir sage, dass alles gut werden wird. Du bist hier sicher, okay? Ich mag zwar der Jüngste meiner Familie sein, aber ich weiß sehr wohl, wie ich mit dem Teil hier umzugehen habe." Er hebt ernst seine Pistole, und ihn mit so einem Ding in der Hand zu sehen, lässt mich etwas fühlen, von dem ich nicht genau weiß, was es ist.
Einerseits schockiert es mich, und am liebsten würde ich ihm die Pistole aus der Hand reißen und sie an die nächste Wand knallen. Ich will nicht, dass er kriminell ist. Andererseits beruhigt es mich zu wissen, dass er mich – und auch sich selbst – beschützen kann. Er hat eine Waffe und weiß sehr genau, wie er sie verwenden muss, was er mir ja bewiesen hat, als ich von Santos höchstpersönlich fast verschleppt worden wäre.
Und irgendwie macht es Nicola interessant. Er ist nicht einfach irgendein Junge. Das Image eines Jungen, der mit Waffen umgehen kann und bald illegale Geschäfte übernehmen und dann führen wird, passt fast unheimlich gut zu diesem Jungen, und ich könnte mir nichts Anderes an ihm vorstellen.
Ich nicke langsam. „Ich vertraue dir", sage ich, und Nicola nimmt mich wortlos in den Arm, als er die deutliche Angst in meinen Augen sieht. Ich schließe die diese und schlinge meine Arme um seinen Torso, während ich langsam seinen Duft in mir aufnehme, der so eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Nicola bei mir zu haben beruhigt mich schon, doch ihm so nah zu sein verstärkt den Effekt nochmal immens.
„Ich will einfach nicht, dass jemandem was passiert", sage ich leise, und unterdrücke mit Gewalt die in mir aufkommenden Tränen. Jetzt zu weinen, würde keinem was bringen. Ausserdem habe ich definitiv genug geweint für den Rest meines Lebens.
Nicola löst sich von mir und nimmt mein Gesicht vorsichtig in beide Hände. Er ist mir so nah, dass unsere Nasenspitzen sich fast berühren, und ich spüre seinen Atem auf meinen Lippen. Unschlüssig wandern meine Augen immer wieder zwischen seinen Lippen und seinen Augen hin und her, und trotz der Situation muss ich mich wirklich zusammenreißen, um Nicola nicht einfach zu küssen.
Diese Entscheidung wird mir jedoch sofort abgenommen, als mehrere Männer laut polternd die Halle betreten, und somit nur noch eine Tür von uns entfernt sind. Augenblicklich spanne ich mich wieder an, und Nicola dreht sich sofort wieder zur Türe und zückt seine Waffe. Mit rasendem Puls lauschen wir dem Schusswechsel, der in der Halle stattfindet, und ich reiße die Augen mit einem erstickten Schrei auf, als die Türe eingetreten wird, und erstarre, als ich deutlich den Lauf einer Waffe auf mich gerichtet sehe.
Doch bevor der Mann abdrücken kann, jagt Nicola einen Schuss durch seinen Kopf, und der Mann fällt zu Boden. Zitternd und schwer atmend versuche ich, meinen Blick von dem Mann zu reißen, und ich höre Nicola deutlich schlucken. Er geht langsam auf die Leiche vor uns zu und entnimmt ihr die Waffe, welche er mir dann einfach so in die Hand drückt.
Ich will ihn gerade fragen, was ich damit anstellen soll, als ein weiterer Schuss die mittlerweile eingekehrte Stille durchreißt, und Nicola mit geschocktem Gesichtsausdruck vor meinen Augen langsam in sich zusammensackt.
Hinter ihm steht ein Mann, der mich sicher um einen halben Kopf überragt, und grinst mich an.
Bevor irgendjemand in diesem Raum nachdenkt, hebe ich die Waffe in meiner rechten Hand an, drücke ohne zu zögern ab und sinke dann, synchron zu dem Mann, ebenfalls unter Tränen zu Boden als mich die Erkenntnis wie ein Schlag trifft: Ich habe gerade jemanden getötet, und Nicola liegt angeschossen vor mir.
Fuck.
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Ich liebe Cliffhanger... ^.^
- Xo, zebisthoughts
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