TWENTY-EIGHT - Lass es zu - ✔️
Nicola POV
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Langsam lasse ich den schädlichen Qualm wieder aus meiner Lunge entweichen, während ich nachdenklich auf das Meer vor mir starre. Lange habe ich mit meinem Vater gerungen, doch schlussendlich hat er nachgegeben und mich gehen gelassen. Jetzt sitze ich hier auf dem Felsvorsprung und starre einfach nur vor mich hin.
Ich lasse mir die letzten Jahre durch den Kopf gehen, und was alles passiert ist. Bevor wir in Seattle wohnten, waren wir in New York. Dort habe ich auch meine Kindheit größtenteils verbracht, bis es uns dann dort zu gefährlich wurde. Es war alles andere als toll für Raffa und mich unsere Freunde zurückzulassen, doch mittlerweile sind mir die Leute dort egal. Die meisten meiner sogenannten Freunde haben sich nach zwei Tagen nicht mehr gemeldet, und mit dem Rest wurde es mit der Zeit auf Grund der Distanz und meiner Familie auch zu kompliziert, weshalb ich schlussendlich mit allen Leuten aus New York den Kontakt abgebrochen habe.
Der Qualm meiner Zigarette steigt langsam auf und bildet willkürliche Muster, ehe er vom leichten Wind, der gerade weht, weggetragen wird. Seit Stunden spuken genau drei Personen immer wieder in meinem Hirn herum, und ich wünschte, es wäre nicht so. Zuerst Alexa, um die ich mich wirklich sorge. Ich würde Santos alles zutrauen, also auch, dass er sie einfach umbringt.
Dann Aria, die mir ebenfalls gewisse Sorgen bereitet. Auch wenn sie bei uns soweit sicher ist, kann immer etwas Unerwartetes passieren. Niemand hätte damit gerechnet, dass Alexa ins Visier von Santos gerät, weshalb ich mich auf keinen Fall zu sehr in Sicherheit wiegen will. Ich bin seit Tagen vierundzwanzig Stunden am Tag bereit für einen Einsatz.
Und natürlich geht mir die Situation von vor paar Tagen nicht aus dem Kopf.
Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist, aber es hat sich verdammt gut angefühlt, so unbeschwert mit Aria zu reden und ihr so nah zu sein. Doch trotzdem darf das nicht passieren. Wir dürfen absolut nichts füreinander empfinden, was über Freundschaft hinaus geht. Schon eine Freundschaft ist ziemlich kritisch, lässt sich aber irgendwie nicht verhindern, wenn sie mit mir unter einem Dach lebt. Schon das wäre etwas, was Santos sofort schamlos ausnutzen würde.
Wenn Aria und ich also verliebt wären, würde das nur zu einer immensen Katastrophe führen, und das will ich um jeden Preis verhindern. Auch wenn das bedeutet, dass ich nicht immer das fühlen kann, was ich gerne fühlen würde. Denn ich kann es nicht leugnen – ich mag Aria. Sehr sogar, und das, obwohl sie wirklich großes Talent darin besitzt, mich innerhalb von Sekunden auf die Palme zu bringen. Zwar denke ich, dass das auf Gegenseitigkeit beruht, aber trotzdem – bisher hat nur Raffa das geschafft.
Ich mag Arias friedliche Seite. Diejenige, die jeglichen Konfrontationen versucht aus dem Weg zu gehen. Die immer jeden um sich rum friedlich sehen möchte. Ich mag die Aria, die so lange quengelt, bis sie bekommt, was sie will. Und das ist meistens Essen, was ich übrigens auch an ihr mag – ich liebe es, dass ich nicht der Einzige bin, der verfressen ist. Ich kann mit Aria essen, ohne mich dabei irgendwie merkwürdig zu fühlen, weil ich ruhig auch mal zwei Burger vertilgen kann.
Irgendwie verbindet Essen ja auch, finde ich jedenfalls. Die Stimmung ist sofort anders, wenn du mit jemandem wirklich essen kannst, als wenn du mit jemandem in einem Fast Food Restaurant bist, und derjenige dann gerade mal einen Salat runterwürgt, während du da mit deinen Pommes und deinem heiß geliebten Burger mit den zusätzlichen neun Nuggets sitzt. Natürlich nicht ohne reichlich Mayo und Sauce.
Doch das, was ich am meisten an Aria mag, ist, dass ich bei ihr immer irgendwie ruhig und ausgeglichen bin, egal, wie gestresst ich eigentlich sein sollte. Sobald sie bei mir ist, sind alle Sorgen irgendwie weg, oder jedenfalls so weit im Hintergrund, dass sie mich nicht mehr wirklich erreichen können. Ich kann abschalten in ihrer Gegenwart, und das kann ich sonst eigentlich nur sehr selten, und nicht ohne Zigarette.
Von dieser nehme ich gerade einen erneuten Zug, ehe ich mich der dritten Person widme, die in meinem Kopf rumgeistert. Liam. Das heute war eine ziemliche Blamage, und ich hätte nie damit gerechnet, dass der Typ italienisch versteht und dann auch noch spricht. Akzentfrei, nebenbei bemerkt. Zwar beruhigt es mich in einer gewissen Art, dass er schwul ist und somit nichts von Aria wollen könnte, doch irgendwie ist es komisch zu sehen, wie vertraut Aria mit ihm umgeht.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich – abgesehen von Raffa natürlich – niemanden habe, mit dem ich so umgehen kann, oder daran, dass ich tatsächlich eifersüchtig sein könnte. Ich weiß es nicht.
Etwas genervt darüber, dass ich schon wieder an meine Blamage von eben denke, trete ich meine Kippe aus und seufze. Als sich dann jemand neben mich setzt, springe ich fast wie ein kleines Mädchen kreischend auf.
„War klar, dass du hier wieder mal rauchst", bemerkt Raffa nur teilnahmslos, und schaut auf den ausgetretenen Zigarettenstummel vor mir. „Wenn du mich jetzt deswegen wieder anmeckern willst, kannst du direkt wieder nach Hause gehen", erwidere ich kühl, und Raffa seufzt. „Nicola, Nicola... jetzt reagier mal nicht wie ein Mädchen, das seine Tage hat." Ich verdrehe schon jetzt von meinem Bruder genervt die Augen, und schließe sie dann kurz.
„Ich hab' gerade einfach nur echt kein Bock auf deine Meinung dazu", sage ich schlussendlich so neutral wie möglich, und starre wieder auf das Meer hinaus. „Beruhig dich mal. Deswegen bin ich ja auch gar nicht hier." Raffa scheint ebenfalls nicht in Höchstlaune zu sein, was wirklich äußerst selten passiert. Eigentlich nie.
„Sondern?"
Mit einer gehobenen Augenbraue drehe ich meinen Kopf leicht zu meinem Bruder, welcher den Blick wie ich gerade starr auf das Meer gerichtet hat. „Keine Ahnung. Kein Bock mehr auf Dad und Mom, die beide gerade völlig am Rad drehen." Ich schmunzle leicht als ich feststelle, dass wir wieder mal aus einem ähnlichen Grund hier sind.
„Was hast du gegen Liam?"
Und da haben wir's.
Ich schüttle nur den Kopf und mache den Mond mit meinen Augen aus findig. „Nichts, eigentlich. Nur kommt mir diese vertraute Beziehung zwischen Aria und ihm so... fremd vor." Eine Weile sagen wir beide nichts, ehe ich den Kopf schüttle und mir durch die Haare fahre. „Schwachsinn. Ich rede nur Schwachsinn." Raffa schmunzelt leicht und schüttelt dann ebenfalls den Kopf.
„Nein, das tust du nicht. Ich weiß, was du meinst. Aber so ist es nun mal außerhalb von... naja, unserer Welt. Wir haben keine Zeit für solche Dinge, doch Leute wie Aria oder Liam schon. Sie haben mehr als genug Zeit um sich wirkliche Freunde zu suchen, und dann so viel mit ihnen zu erleben, dass sie unzertrennlich werden." Natürlich hat Raffael mal wieder Recht. Wieso muss er immer Recht haben? Das ist unfair. Egal was los ist, er weiß die perfekte Antwort, und meistens gibt es nicht mal irgendwelche Argumente dagegen.
Früher habe ich mich regelmäßig gefragt, ob mein Bruder Psychologie-Bücher unter seinem Bett versteckt und abends heimlich darin liest. Dann habe ich realisiert, dass es mir einfach an Einfühlvermögen mangelt, und das leider nicht gerade wenig. Ich muss jemanden wirklich mögen wollen, um mich überhaupt für die Gefühle der Person zu interessieren. Wieder ein Beweis dafür, dass ich Aria mag.
Frustriert lasse ich den Kopf leicht hängen, was Raffa natürlich auf meine eher missliche Gefühlslage aufmerksam macht. „Was läuft da eigentlich bei dir und der Kleinen?"
Natürlich muss er mich darauf ansprechen. Er wäre ja nicht Raffa, wenn er dieses Thema auslassen würde.
„Nichts", grummle ich, und spüre Raffas ungläubiges Grinsen bis hierher.
„Nichts also?", wiederholt er, und ich nicke etwas zu wild.
„Ja, nichts. Gar nichts."
Ich hoffe, mein nicht überhörbarer Unterton hat meinem Bruder mehr als nur deutlich klargemacht, dass ich nicht über dieses Thema sprechen möchte, doch natürlich hat dieser das Hirn einer Amöbe und denkt nicht daran, mich damit zu verschonen.
„Komm schon Kleiner. Du kannst mir nicht sagen, dass da nichts ist!"
Ich schaue meinen Bruder warnend an.
„Ich schreibe es dir wenn's sein muss sogar Buchstabe für Buchstabe auf ein Blatt", sage ich kühl, und mein Bruder sieht mich grinsend an.
„Schon nur deine Reaktion zeigt, dass da nicht nichts ist", sagt er dann nur, und scheint sich ungemein daran zu erfreuen, dass er mich mal wieder durchschaut hat.
Ich wende mich meinen Schuhen zu, doch es dauert nicht lange, bis ein schmerzhafter Schlag auf meiner Schulter landet. „Noch einer davon und du bist gleich hier unten", zische ich warnend, und zeige mit dem Finger unter den Felsvorsprung. Raffa lacht nur leise und seufzt dann. „Dass ich das erleben kann. Mein kleiner Bruder ist verknallt!" Ich drehe mich um, packe Raffa am Kragen, drücke ich auf den Boden und setze mich auf ihn, damit er nicht einfach fliehen kann.
Raffa jedoch lacht nur blöd und sieht mich herausfordernd an. „Na los, schlag mich, wenn du willst. Du weißt, dass wir beide auf einer Wellenlänge sind, dementsprechend würde das hier nicht nur für mich scheisse enden." Da hat Raffa leider ein starkes Argument gebracht, doch so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. „Ich bin nicht verliebt", knurre ich, und Raffa hebt wieder mal eine Augenbraue. „Nein, du siehst dieses Mädchen bloß so an, als wäre sie WLAN und du ein pubertierender Junge, der ohne Netz in einer Waldhütte eingesperrt ist."
Was?
Diesmal wandert meine Augenbraue hoch, und ich lache fast laut los. „Ist das dein Ernst?", schmunzle ich stattdessen, und Raffa grinst wie immer breit. „Aber klar doch. Das Mädchen hat eine Wirkung auf dich, die sonst keiner hat, und das weißt du ganz genau, ansonsten würdest du dir hier nicht den Kopf darüber zerbrechen." Mit diesen Worten stößt Raffa mich mit Leichtigkeit von sich runter, und ich lande ebenfalls auf dem harten Felsboden.
Ich rolle mich auf den Rücken, verschränke meine Arme hinter meinem Kopf und starre zu den Sternen hoch. Eine Weile sagt keiner von uns was, ehe ich leise seufze. „Okay, vielleicht mag ich Aria etwas mehr, als dass ich... naja, sollte." Meine Stimme ist kaum lauter als ein Murmeln, doch ich verwette mein bestes Stück darauf, dass Raffael jede einzelne Silbe ganz genau verstanden hat.
„Aber ich liebe sie nicht."
Ich muss mich nicht mal bewegen, um zu wissen, dass mein Bruder ein siegessicheres Grinsen auf den Lippen trägt. Sowas spürt man unter Geschwistern, denn eigentlich wäre das dann auch der richtige Moment, um ihnen eine reinzuhauen.
„Rede es dir ruhig ein", sagt besagter Bruder nur, und ich schüttle innerlich den Kopf. „Wieso willst du denn so verbittert, dass ich in Aria verliebt bin?" Diesmal sehe ich doch zu Raffa, welcher eine nachdenkliche Miene aufgesetzt hat. Seine Stirn hat er leicht in Falten gelegt, und es sieht so aus, als würde er sich ernsthafte Gedanken zu dieser Frage machen.
Ich lasse ihn also einfach und studiere weiterhin diesen nahezu perfekten Sternenhimmel, der sich über uns erstreckt. Die Nächte hier sind eigentlich immer wunderschön, und ich genieße es, Abends oder sogar Nachts einfach stundenlang hier zu liegen, um meinen Gedanken nachzuhängen.
„Weil du es verdient hättest, auch mal so richtig verliebt zu sein", erwidert Raffa irgendwann langsam, und ich schaue wieder zu ihm. „Wieso? Was bringt mir das, außer Enttäuschungen und Liebeskummer, auf den ich echt verzichten kann?" Raffa schmunzelt und sieht mich aus dem Augenwinkel raus an.
„Nicola Salvatore. Liebe ist nicht sofort mit negativen Dingen verbunden, das weißt du. Es kann dir die Dinge bringen, ja. Aber es kann dir auch Glück und viel Freude im Leben bereiten, jemanden an seiner Seit zu haben, den man wirklich aufrichtig und von ganzem Herzen liebt. Mit dem man alles durchstehen kann, und für den man auch alles durchstehen würde. Ich weiß, dass es bei dir und Aria noch nicht so ist, aber wirklich weit davon entfernt seid ihr auch nicht mehr. Lass es auch einfach mal zu, Nicola. Santos wird eure Beziehung sowieso ausnutzen, das weißt du. Dafür ist es schon lange zu spät. Also leb dich einfach aus, schließlich soll dieser Hund nicht noch darüber entscheiden dürfen, ob du nun in jemanden verliebt bist oder nicht."
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Was haltet ihr von Raffa's Worten?
- xo, Zebisthoughts
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