THIRTY - Es tut mir so leid - ✔️

Aria POV

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Langsam lasse ich mich neben Nicola zu Boden fallen, während Tränen über meine Wangen rinnen. Die Waffe, welche eben noch fest in meiner Hand lag, liegt jetzt neben mir am Boden, und ein lauter Schluchzer entfährt mir. Ich umgreife mit zitternden Händen Nicolas blasses Gesicht, und der Italiener schluckt hörbar schwer. Ich lasse meine Augen suchend über seinen Körper fahren, und als ich die übelkeitserregend große Ansammlung von Blut rund um die Schusswunde in seinem Bauch entdecke, wird mir fast schwarz vor Augen.

Und dann handle ich wie betäubt. Ich ziehe mir meinen Pulli über den Kopf, wissend, dass ich jetzt nur noch im Unterhemd vor Nicola sitze, und binde das Kleidungsstück so gut es in der Hektik geht um Nicolas Taille. An den Ärmeln verknote ich den Pulli, und ziehe ihn dann fest an. Nicola gibt es lautes Zischen von sich, und seine Finger graben sich in meinen Arm, den er gepackt hat, sobald er mein Vorhaben erkannt hat. Dieser Druckverband ist keinesfalls eine meiner Glanzleistungen, doch alles ist besser als nichts.

Um noch mehr Druck auf die Wunde auszuüben, drücke ich mit den Händen auf die Stelle meines Pullis, unter der die Wunde liegt, und Nicola schließt kurz die Augen vor Schmerz. „Es tut mir leid", schluchze ich, und wische mir kurz die Tränen an der Schulter ab. „Ich hätte ihn sehen sollen, Nicola, es tut mir so leid."

Meine Stimme bricht erneut, und obwohl sein schmerzverzerrtes Gesicht gerade alles andere als beruhigend aussieht, bringt Nicola trotzdem ein kleines Lächeln zu Stande. „Es ist okay", flüstert er kaum hörbar, doch ich schüttle den Kopf. „Nein", schluchze ich, doch Nicola lächelt immer noch, während er den Griff um meinen Arm etwas lockert, und sein Daumen auf meiner Haut fast unmerklich auf und ab fährt. „Es ist okay, Aria. Es ist alles gut. Hör auf zu weinen, okay? Bitte. Es ist nicht deine Schuld."

Ich will etwas erwidern, doch werde aufgehalten, als mehrere Personen in den Raum stürzen. Giftgrüne Augen heften sich zuerst auf Nicola, dann auf mich, und ich höre Gianmarco bis hierher schlucken. „Scheisse", entfährt es ihm dann, und im selben Moment kniet Amy sich neben ihren Sohn. Als sie meinen provisorischen Druckverband sieht, nickt sie mir kurz zu, und eine kleine Träne verlässt ihr Auge.

„Gianmarco, ruf den Krankenwagen", sagt sie erstaunlich ruhig, ehe sie das Gesicht ihres Sohnes in beide Hände nimmt und anfängt, mit ihm zu kommunizieren. Da die beiden auf italienisch sprechen verstehe ich nichts, weshalb ich mich wieder meiner Aufgabe zuwende, die daraus besteht, auf keinen Fall den Druck auf die Wunde zu verringern. Noch immer hält Nicola meinen Arm fest, und ich schlucke schwer bei der Vorstellung, dass er jetzt vielleicht sterben könnte. 

Ich will gar nicht wissen, wie viele Organe verletzt sind, und wie viel Blut der Italiener schon verloren hat. Es würde mir die Hoffnung nur noch mehr nehmen. Gianmarco tigert mit dem Handy am Ohr im Raum auf und ab, und rauft sich immer wieder seine pechschwarzen Haare, während er mit dem Typen der Notfallzentrale spricht. Seine Stimme ist erstaunlich ruhig, doch anhand seines sonstigen Verhaltens kann ich auch bei dem Mafiaboss deutliche Nervosität ausmachen.

Im Türrahmen erkenne ich plötzlich zwei Schatten, und als ich aufsehe, entdecke ich Raffa, der mit weit aufgerissenen Augen auf seinen Bruder starrt, der seiner Mutter immer noch Frage und Antwort steht. Ich sehe deutlich die Tränen in seinen Augen, und will mir gar nicht vorstellen wie es sein muss, seinen eigenen Bruder so zu sehen. Unsere Blicke kreuzen sich, und ich versuche so viel Hoffnung wie möglich darin zu bündeln, um Raffa irgendwie zu beruhigen.

Neben Raffael steht Liam, der mitfühlend einen Arm um den Italiener gelegt hat. Auch in seinem Blick ist der Schock deutlich zu sehen, und mitfühlend lässt er seine Augen über mich und den Druckverband um Nicolas Bauch wandern. Ich hefte meinen Blick wieder auf Nicolas Gesicht, welches mit jeder Sekunde blasser wird, und schließe kurz die Augen, um mich etwas zu sammeln.

„Wann kommen die Ärzte?" Raffas Stimme ist heiser, und drängend sieht er seinen Vater an. „Sind gleich hier", erwidert dieser aufgewühlt, und ich seufze erleichtert auf. Als wäre das ihr Kommando gewesen, stürmen mehrere Notärzte in den Raum, und Amy geht einige Schritte auf Abstand, während ich immer noch Druck auf die Wunde ausübe. Einer der Notärzte setzt sich neben mich und sieht mich an.

„Miss, geht es Ihnen gut?" Ich drehe meinen Kopf wie ferngesteuert zu ihm, und nicke. „Ja, mir geht's gut", presse ich zwischen zwei Schluchzern hervor, und der Arzt legt eine Hand auf meine Schulter. „Können Sie mir sagen, was passiert ist?" Ich schlucke und nicke, ehe ich einige Male tief Luft hole. „Er wollte mich beschützen vor diesen Männern, und hat nur ganz kurz nicht aufgepasst. Dann ist da dieser... Typ hinter ihm aufgetaucht, und hat auf ihn geschossen."

Bei der Erinnerung an den Moment, in dem Nicola mit geschockten Augen vor mir zusammengesackt ist, werde ich erneut heftig geschüttelt, und der Arzt nickt. „Gut, wir übernehmen ab hier. Sie haben sehr gut gehandelt, vielen Dank." Ich nicke nur leise wimmernd und nehme meine Hände langsam von meinem Pulli, der mittlerweile von Blut durchtränkt ist.

Sofort nimmt mich Raffa, der mittlerweile hinter mir steht, in den Arm, und ich drücke mich an ihn. Er fährt mir mit einer Hand durch die Haare, während er mit der anderen meinen bebenden Körber festhält, und ich spüre deutlich das schnelle Trommeln seines Herzens. „Du hast das unglaublich gut gemacht", flüstert Raffa mir immer wieder zu, und ich höre, wie seine Stimme gefährlich zittert.

„Ich hätte ihn retten müssen", flüstere ich leise, während die Notärzte Nicola verschiedene Spritzen und Zugänge verabreichen, und ich spüre, wie Raffa den Kopf schüttelt. „Nein, Aria. Keiner hat das kommen sehen, okay? Keiner. Manchmal ist das Leben unfair, so wie jetzt. Keiner außer derjenige, der die Waffe auf Nicola gerichtet hat, trägt Schuld an dem hier. Du nicht, Nicola nicht, und auch sonst niemand anderes hier. Und außerdem hast du sehr mutig gehandelt. Vielleicht hast du Nicola sogar das Leben gerettet."

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Knappe zehn Minuten später stehen wir alle draußen und schauen zu, wie Nicola in den Krankenwagen geschoben wird. „Ich fahre mit", verkündet Amy, und keiner sagt etwas dagegen. Keiner hat wirklich die Kraft oder die Nerven dazu, etwas einzuwenden, und ehrlich gesagt finde ich, dass es auch fair ist, wenn Amy mitfahren darf. Sie ist Nicolas Mutter.

„Ich fahre euch hinterher", verkündet Raffa, und schnappt sich seinen Autoschlüssel. Dann wendet er sich zu mir. „Willst du mitkommen?" Ich nicke noch immer wie betäubt, und als Gianmarco seine Zustimmung gibt, schiebt Raffa mich langsam zu seinem Auto. Dort hält er mir die Türe auf, und ich steige ein. Die Fahrt zum Krankenhaus fühlt sich wie eine Ewigkeit an, und ich werde mit jedem Meter nervöser. Mittlerweile sind meine Tränen vorerst versiegt, doch der Schock steckt mir immer noch tief in den Knochen, und ich gehe nicht davon aus, dass er da so schnell wieder rauskommen wird.

Immer wieder sehe ich diese eine Szene vor meinem inneren Auge, welche ab und zu so lange dauert, dass ich auch noch daran erinnert werde, dass ich ebenfalls einen Menschen auf dem Gewissen habe. Ich habe jemanden erschossen, das kann keiner leugnen. Ich bin nicht mehr die unschuldige Aria Davis, die jeder bisher kannte. Mein Strafregister ist nicht mehr sauber.

„Werde ich festgenommen?", frage ich leise, und schaue zu Raffa, der mich etwas geschockt mustert. „Wieso solltest du denn festgenommen werden?", erwidert er, und überholt jemanden. „Ich habe den Mann erschossen, nachdem er Nicola angeschossen hat", gestehe ich leise, und Raffa reißt die Augen auf. „Du warst das?" Ich nicke, und meine Hände zittern.

„Als jemand in den Raum kam, und mich erschießen wollte, hat Nicola ihn erschossen. Daraufhin hat er mir die Waffe des Mannes in die Hand gedrückt, und direkt darauf wurde er dann angeschossen. Als ich dieses scheußliche Grinsen des Mannes sah, der Nicola angeschossen hat, konnte ich irgendwie nicht anders... es war wie ein Reflex."

Raffa nickt langsam und seufzt dann. „Du wirst nicht verhaftet. Es wird niemand davon erfahren, genauso wenig wie jemand von dem erfahren wird, was heute passiert ist."

Jetzt bin ich verwirrt. „Raffa, die Ärzte haben alles gesehen, und außerdem sind wir gerade auf dem Weg in ein Krankenhaus. Wie soll das keiner erfahren?"

Raffa schmunzelt leicht. „Weil das nicht nur normale Ärzte sind, Kleine. Wir haben schon seit mehreren Generationen einen speziellen Deal mit einigen Krankenhäusern in unserer Umgebung. Sie verpfeifen uns nicht, dafür bekommen sie einen gehörigen Zuschuss zu ihrem Gehalt, wenn sie jemanden von uns behandeln müssen. Wenn sie uns verpfeifen, haben sie unsere Verwandten aus Sizilien am Hals, und glaub mir – die kennen keine Gnade. Dagegen ist Dad die Definition von gutmütig und freundlich."

Ungläubig starre ich Raffael an. Es geht noch schlimmer als Gianmarco? Echt jetzt? Mit einem lautlosen „Wow" setze ich mich wieder gerade hin und bin erleichtert, als wir endlich auf den Parkplatz des Krankenhauses gelangen.

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Sechs Stunden.

Seit sechs Stunden sitzen wir hier, und keiner kann uns sagen, wie es Nicola geht.

Jetzt gerade sollte er im OP sein, da die Kugel zu tief saß, um sie einfach so rauszunehmen. Außerdem meinte der Arzt, dass seine Milz beschädigt wurde, und somit entfernt werden muss. Mehr Informationen haben wir nicht bekommen. Obwohl es schlimm ist, dass Nicola im OP ist, bin ich trotzdem dankbar dafür, dass nicht noch mehr Organe verletzt wurden.

Und außerdem scheint er nicht in akuter Lebensgefahr zu schweben, was wir laut dem Arzt größtenteils mir zu verdanken haben, da ich die Blutung ziemlich aufhalten konnte. Raffa hat mich daraufhin fest in den Arm genommen, und sich tausende Male bei mir bedankt. Als die Information, dass ich Nicolas Leben gerettet habe, auch endlich zu mir durchgedrungen ist, habe ich erneut angefangen zu weinen, was Amy mit einem Lächeln beobachtet hat, ehe sie mich auch in den Arm genommen hat.

Und jetzt sitzen wir hier und warten.

Immer wieder huschen Ärzte und Krankenschwestern an uns vorbei, und jedes Mal hoffe ich, dass sie zu uns kommen möchten. Doch das war bisher noch nicht der Fall. Als dann doch endlich ein Arzt auf uns zu kommt, springe ich ihn fast an, da ich endlich wissen möchte, wie es Nicola geht.

„Gehören Sie alle zu Nicola Salvatore?" Wir nicken synchron, und ich trete nervös von einem Bein aufs andere. Raffa hält meine Hand fest umklammert, und Amy sieht den Arzt quasi bettelnd an.

„Also, Nicola hat den Eingriff so weit gut überstanden. Wir möchten ihn noch einige Zeit zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, immerhin wurde ihm die Milz entfernt. Er schläft gerade." Mir fällt nicht nur ein einzelner Stein vom Herzen, sondern ein ganzer Berg. Nicola lebt, und es geht ihm gut. „Kann ich zu ihm?", höre ich mich fragen, und der Arzt schmunzelt leicht. „Ja, folgen Sie mir."

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, und sofort hefte ich mich an die Fersen des Arztes. Dieser lotst mich durch die endlosen Gänge des Krankenhauses, und als ich dann endlich die Türe von Nicolas Krankenzimmer hinter mir schließen kann, schlucke ich heftig. Tatsächlich schläft Nicola, und sein immer noch blasses Gesicht wird von seinen pechschwarzen Haaren perfekt umrahmt. Seine Lippen sind leicht geteilt, und seine dunklen Wimpern berühren fast seine Wangen.

Sein Brustkorb hebt und senkt sich regelmäßig, und bevor ich mich selbst stoppen kann, habe ich mich neben Nicola gesetzt, und meine Finger vorsichtig um seine große Hand geschlungen. Obwohl Nicola so blass ist, kann seine südländische Haut meine weiße Haut noch lange übertrumpfen, und vorsichtig zeichne ich seine Tattoos nach, die auf seinem Unterarm sind.

„Es tut mir so leid", flüstere ich, und schlucke. Eine stille Träne rollt über meine Wange, und wenig später sitze ich stumm weinend an Nicolas Krankenbett, während ich seine Hand fest in meiner halte, und mir wünsche, den vergangenen Tag einfach vergessen zu können.

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Nicola hat überlebt :)

Denkt ihr, dass er lange im Krankenhaus bleiben muss?

- Xo, Zebisthoughts

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