EIGHT - Der Schmerz wird nachlassen - ✔️

Aria POV

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„Ich habe keinen Hunger."

Alexa sieht mich aus großen Augen an. „Wie, du hast keinen Hunger?" Ich zucke mit den Schultern, und setze mich auf die Theke. „Na, ich habe keinen Hunger eben. Das kann doch auch mal passieren, oder?" Alexa zuckt ebenfalls mit den Schultern, und stellt sich vor mich hin. Obwohl wir etwa im gleichen Alter sind, ist sie einen halben Kopf grösser als ich, weshalb ich den Kopf nur leicht neigen muss, um sie anzusehen. „Bist du krank?" Ich schüttle den Kopf, und lege ihn anschließend in den Nacken. „Nein, es geht mir gut", antworte ich, und seufze.

„Sollte es auch, immerhin brauchen wir die zusätzliche Hilfe." Ich schaue wieder runter und entdecke Nicola, der die Küche gerade betreten hat. Aber wer denn auch sonst? Niemand außer Gianmarco oder Gianmarco Junior würde sowas von sich geben. Ich verdrehe gleichzeitig mit Alexa die Augen, und springe wieder von der Theke. „Sei doch einfach dankbar", murmle ich nur, und nehme wieder das Geschirrtuch in die Hand, da Nicola natürlich erst Stunden nach den anderen mit seinem dreckigen Geschirr in die Küche kommen musste.

„Sei doch einfach dankbar", äfft dieser mich gerade nach, doch ich ignoriere es. Seit unserem Streit vor ein paar Tagen haben wir kaum miteinander gesprochen, und wenn, dann haben wir uns nur doof angemacht. Es scheint ihm egal zu sein, dass ich ihn hergefahren habe, und dass ich ihn vor der Polizei gedeckt habe. Zwar bin ich immer noch der Meinung, dass er es nicht verdient hätte von der Polizei erwischt zu werden, aber wenn er sich noch lange so benimmt, überlege ich mir das vielleicht nochmal.

Gianmarco ist mit Amy für zwei Tage weg, da sie etwas in New York klären müssen. Alexa und ich sind für das Essen und den Haushalt zuständig, doch Raffa hat sich freiwillig bereiterklärt, etwas zu helfen, da das Haus hier trotzdem noch verdammt groß ist, und wir nur noch den ganzen Tag arbeiten würden, wenn er so faul wie sein Bruder wäre.

„Na, keine Antwort mehr?" Ich schaue zu Nicola auf, der mich frech mustert. Ich setze eine desinteressierte Miene auf und mustere ihn kurz. „Tut mir leid, aber dein Kommentar hat für mich nicht genug Wert gehabt, um was darauf zu erwidern." Mit diesen Worten drücke ich ihm seine Schüssel und das Abtrocknungstuch in die Hand, und verschwinde aus der Küche.

Ich hätte mich gerne nochmal umgedreht, um das Gesicht des Italieners zu sehen, doch das hätte an meinem Stolz genagt, und den wollte ich ja gerade behalten. Ich laufe so schnell es geht die Treppen hoch, während ich immer noch Alexas Gelächter hören kann. Ein Schmunzeln breitet sich auf meinen Lippen aus, und ich bereue es doch etwas, mich nicht umgedreht zu haben. Wenn Nicola sich denkt, er kann mich ohne Retourkutsche fertigmachen, dann tut es mir leid.

Aber er täuscht sich.

Wenn ich für etwas bekannt war in meinem Freundeskreis, und allgemein in meiner Stufe, dann für meine manchmal wirklich schmerzhaften, aber dafür auch genialen Konter. Je nachdem wie sehr man mich angriff, bekam man auch zurück. Und manchen, wie Nicola zum Beispiel, kann ich das eben nur lernen, in dem ich es sie direkt fühlen lasse. Zugegeben, Nicola hat auch gute Sprüche auf Lager, und ab und zu fällt es mir wirklich schwer, einen guten Konter zu finden. Doch bei seiner Persönlichkeit finden sich genug Möglichkeiten, um ein wenig an seinem Ego zu kratzen.

Das einzige Bad Boy Klischee, welches bisher noch unerfüllt blieb, ist der Drang danach, alles was nicht bei drei aufm Baum ist flachzulegen. Entweder er hat einfach keine Zeit dafür, oder es ist ihm wirklich nicht wichtig. Letzteres würde mir übrigens viel besser gefallen, da er trotz seinem beschissenen Verhalten somit nicht ganz wie alle anderen wäre. Aber es ist noch lange kein Grund, ihn sympathisch zu finden. Vorher möchte ich ein „Danke" aus seinem Mund hören, denn ich habe ihn zu Amy gebracht.

Ich hätte auch einfach ins örtliche Krankenhaus fahren können und dort jeden darüber informieren, dass er unter anderem auch zu der Familie gehört, die mich momentan festhält. Aber ich habe es nicht getan, und immer wieder frage ich mich, wieso ich so ein verdammt großes Herz haben muss. Das wäre vielleicht meine einzige Chance gewesen, die ich jemals bekommen werde.

Und was tue ich?

Ich habe Mitleid.

Mitleid!

Mitleid mit einem Jungen, der mich nicht viel besser als sein Vater behandelt, welcher mir zufälligerweise mein Leben weggenommen, und gegen eines einer Geisel eingetauscht hat. Ja genau, mit solchen Leuten habe ich Mitleid.

Ich schüttle schnaubend den Kopf, und verschwinde in meinem Zimmer. Dort setze ich mich auf mein Bett und fange wieder mal damit an, die Hochhäuser von Seattle zu zählen, um mich etwas abzulenken. Ich habe hier ja sonst nichts. Weder Papier noch Stifte noch ein Buch oder sonst was. Und ständig an Alexa kleben will ich ja auch nicht.

Mittlerweile weiß ich, hinter welchen Baumwipfeln ungefähr sich mein Zuhause befindet, und ich könnte Stunden in diese Richtung starren. Mir ausmalen, wie ich gerade die Adventszeit mit Liam, Malia, Jeremy und meinen Eltern genieße. Wie wir wie jedes Jahr Plätzchen backen und uns dabei gegenseitig mit Mehl einseifen. Ich stelle mir vor, wie ich – genervt von den ganzen Leuten – mit Malia Geschenke einkaufen gehe, und sie wie immer erfolglos versucht, mich ebenfalls zum Lachen zu bringen.

In Menschenmengen wünsche ich mir meistens nichts sehnlicher als ein Alarm, der irgendwo losgeht, und alle Menschen anlockt. Ich hätte freie Bahn, müsste mich nicht zum Süßigkeiten Regal durchkämpfen, und auch an der Kasse würde mich dann nicht immer eine Meilenweite Schlange erwarten. Ja, so ein Alarm wäre schön. 

Seufzend lege ich mich langsam hin, und rolle mich zu einer Kugel. Kleine Tränen entweichen meinen Augen, während ich an Liam denke. Daran, wie er immer alles getan hat, um mich glücklich zu sehen. Er wäre sofort von einem Haus gesprungen, nur um mich glücklich zu sehen. Schon als kleines Kind ist er öfters bei uns gewesen als bei sich zu Hause, und es war nie ein Problem. Malia und ich haben ihn sofort bei uns aufgenommen, und Jeremy hat sich auch sehr schnell für den Jungen mit den frechen, braunen Haaren begeistert.

So sehr, dass er sie ihm mal allesamt ausrupfen wollte.

Liam und ich hatten bisher nur ein einziges Mal Streit, und da hat es sich für mich angefühlt, als wäre mein ganzes Leben vorbei. Und genau so fühlt es sich jetzt auch an, nur mit dem Wissen, dass wir keinen Streit hatten.

Nein, ich weiss, dass Liam mich sucht.

Und es tut so unglaublich weh, dass ich ihm nicht entgegenkommen kann. Es tut weh zu wissen, dass ich auf ihn warten muss. Dass ich darauf warten muss, dass er genügend Hinweise findet, um mich ausfindig zu machen. Und was dann? Wenn er einfach so hier auftaucht, legt Gianmarco ihn sofort um. Wenn er einbricht erst recht, mal davon abgesehen, dass es schier unmöglich ist, sich hier rein- oder rauszuschleichen. Ich habe noch nie ein Haus gesehen, welches besser gesichert war als dieses hier. Es fehlt eigentlich nur noch die Überwachungskamera in der Eingangshalle.

Ich rolle mich noch etwas enger zusammen und vergrabe mein Gesicht in meinen Knien. Leise Schluchzer entkommen mir, doch ehrlich gesagt ist es mir egal. Sollen die anderen ruhig hören, wie beschissen es mir hier geht. Ein weiterer Schluchzer entfährt mir bei dem Gedanken daran, dass Liam jetzt eigentlich hier sein sollte. Er würde mich in den Arm nehmen und so fest an sich drücken, dass mir die Luft zum Weinen wegbleiben würde.

Ich weiß noch, wie wir beste Freunde geworden sind. Ich war ausnahmsweise eine Mittagspause lang alleine, weil Malia das erste Jahr an der Highschool war, während ich noch zur Grundschule ging. Liam war in meiner Stufe und hat sich einfach zu mir gesetzt. Wir haben lange geredet und viel gelacht, und uns geschworen, mehr zusammen zu unternehmen. In der Highschool wurde mir dann das erste Mal mein Herz gebrochen, und Liam war für mich da. Er hat mich genauso geliebt, wie wo ich noch glücklich war, und hat sich genauso viel Zeit für mich genommen.

Das war der Moment, in dem ich realisiert habe, was ein wahrer Freund ist. Jemand, der dich immer lieben wird – dein imperfektes Ich, dein verwirrtes Ich, dein gebrochenes Ich, aber auch dein glückliches Ich, und zwar, weil es das einzig Richtige ist, was die Leute tun sollten.

Ich zittere am ganzen Körper, und meine Brust schmerzt unglaublich. Seit ich hier bin fühle ich mich das erste Mal so sehr fehl am Platz, dass ich am liebsten schreien würde. Dass ich am liebsten etwas zerstören würde, um meinen Gefühlen irgendwie Platz zu machen. Doch stattdessen liege ich hier einfach zusammengerollt auf dem Bett, und ersticke fast an meinen Tränen. Ich wünsche mir gerade einfach nur so sehr, die letzten Tage nur geträumt zu haben. Ich wünsche mir so sehr nicht in dieser Familie zu sein, in der mich jemand tot sehen will.

Ich würde gerade alles geben dafür, mit Malia durch die vielen Menschen zu laufen, um Weihnachtsgeschenke zu finden.

Ein weiterer Heulkrampf schüttelt meinen kleinen Körper durch, und ich kralle mich in meinen eigenen Pulli, während erstickte Laute meiner Kehle entweichen. Ich kneife meine Augen fest zusammen in der Hoffnung, einfach bald einzuschlafen, und all dem hier etwas zu entwischen. Wenigstens für ein paar Stunden. Ich merke wie erschöpft ich langsam aber sicher bin vom vielen Weinen und verdrängen meiner Gefühle, wenn ich außerhalb meines Zimmers bin. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich mich bewegen sollte, und bleibe einfach still auf dem Bett liegen, während immer wieder Tränen auf mein Kissen tropfen, und ich zwischendurch von Heulkrämpfen geschüttelt werde.

Ich frage mich, was Raffa und Nicola wohl über mich denken müssen. Wie sie mich sehen, und wie sie denken, dass ich bin. Wie sie über die Situation denken, und was sie gerne tun würden. Mich behalten? Gehen lassen? Umbringen? Mich nicht beachten? So viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf, und Tag zu Tag wird mir klarer, wie groß mein Problem eigentlich ist. Wie sehr ich in der Scheisse stecke, und dass ich wohl nie wieder nach Hause gehen werde.

Dass ich jetzt hier wohne, zusammen mit einer Mafiafamilie. Zusammen mit zwei Jungs, wovon einer supernett ist, und der andere einfach nur ein Arschloch. Mit einer Mutter, die aus dem Bilderbuch stammen könnte und einer Mitbewohnerin, die mich auf den Beinen hält. Und mit einem Vater, der es nicht für nötig hält mit mir zu sprechen, und wenn doch, tut er dies in solch einem abfälligen Ton, dass ich mir wünsche, er würde lieber einfach den Mund halten. Das ist jetzt meine Familie, ob ich will oder nicht.

Ich bin so sehr damit beschäftigt, meinen Gedanken nachzuhängen, dass ich meinen Namen völlig ignoriere, bis ich Schritte höre, die sich meinem Zimmer nähern. Doch so sehr ich auch will, ich kann mich nicht aufrichten. Es geht nicht. Die Türe öffnet sich, und ich mache mich schon auf Beschimpfungen gefasst, als es eine Weile einfach ruhig bleibt, und man nur meine erstickten Laute hört.

„Aria?", höre ich dann doch jemanden Fragen, und ich schaue Raffa verletzt an. „Geh einfach wieder", flüstere ich kraftlos, und schließe die Augen wieder. Als sich meine Türe schließt, breche ich erneut in Tränen aus, und bin ziemlich überrascht, als eine Hand sich unter meinen Rücken schiebt und es schafft, mich mit einer Bewegung aufzusetzen. „Komm mal her", höre ich nur leise von Raffael, und bevor ich etwas Anderes tun kann, hat mich der Italiener ganz aufgesetzt und in seine Arme gezogen.

Zuerst bin ich perplex und traue mich nicht, den Jungen ebenfalls zu umarmen, doch als ich merke, wie sehr ich eine Umarmung brauche, lege ich dann doch zögerlich meine Arme um Raffas Hals. „Ich weiß es tut weh", sage dieser leise, und ich schlucke, um nicht sofort loszuheulen. „Und ich weiß, dass diese Familie alles andere als perfekt und wunderbar ist", fährt er fort, und atmet tief ein und aus.

„Aber vertrau mir, es wird besser. Auch mit Papá und Nicola. Sie werden dich akzeptieren und anfangen, zur Familie zu zählen. Du wirst das Band zwischen Mafiamitgliedern zu spüren bekommen, und vielleicht darfst du irgendwann raus, wie du willst. Du wirst deine Familie sehen dürfen, deine Freunde treffen können. Ich weiß, dass du sie schrecklich vermisst. Und es tut mir leid, wirklich. So unfassbar leid. Ich könnte Dad dafür schlagen, dass er einem Menschen sein Leben genommen und ersetzt hat. Aber bitte, vertrau mir. Es wird alles gut. Der Schmerz wird nachlassen. Du schaffst das."

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Aw Raffa :'(

Hier mal ein etwas emoitonaleres Kapitel von Aria, da es ja etwas komisch wäre, wenn sie nicht mal richtig weinen würde in ihrer Situation. Ich wäre am Boden zerstört xD

Was haltet ihr vom Kapitel?

- Xo, Zebisthoughts

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