Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, du trägst einen grünen Zweig - OS
Das wird kein Tag wie jeder andere. Das hier wird unschlagbar. Weihnachten. Das allererste Weihnachten, dass ich lieben werde, weil Luk bei mir ist und weil ich Luk liebe. Der Baum, den er vor ein paar Tagen mit Müh und Not in unserer kuscheligen Zwölf-Quadratmeter-Wohnung aufgestellt hat, funkelt im Silberschein des Mondes. Als wir schlafen gegangen sind, bat ich meinen Freund die Lichterkette anzulassen, sodass die kleinen LED-Leuchten die Kugeln in einen besonderen Schimmerschein tauchen. Ich fühle mich ausgeruht und erholt, dabei weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt geschlafen oder bisher nur die Tanne angeschaut habe. Vielleicht habe ich auch geträumt, wie ich den Baum bewundere und bin deshalb von tiefster innerer Harmonie und glückseligem Frieden erfüllt. Träume ich immer noch?
Die Matratze ist weich, die Felldecke schmiegt sich an meine Wange. Bis zur Nasenspitze habe ich sie hochgezogen; manchmal fällt bei uns die Heizung aus. Wir schlafen in unseren dicksten Pullovern und pressen unsere Körper aneinander wie Verzweifelte, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, das uns nichts und niemand je wegnehmen könnte.
Es ist klein, ein bisschen eng, in unseren vier Wänden, aber sie sind tatsächlich unser Zuhause. Alles Nötige ist längst vorhanden und was brauchen wir mehr als nur uns, um Leben an diesem winzigen Ort anzusiedeln?
Die Wärme ist selbst jetzt, bei Minusgraden draußen spürbar. Hin und wieder heult der Wind draußen, als wäre er ein hungriger Wolf. Apropos hungrig: Leise taste ich nach dem Kochbuch, das uns Luks Großmutter Inge zum Einzug geschenkt hat. Es ist noch in Sütterli verfasst worden und eigentlich kann bloß Luk es lesen, aber er bringt es mir bei und ich lerne schnell. Er ist ein guter Lehrer ist. Luk sagt, es ginge so rapide voran, weil ich sprachlich begabt wäre. Seit ein paar Wochen versuche ich intensivst, seine Komplimente für voll zu nehmen.
Was kochen wir morgen? Da gibt es jedes erdenkliche Rezept, Fisch, Fleisch, Vegetarisches, süß oder herzhaft. An einem Festtag will ich königlich speisen. Liebe geht schließlich durch den Magen. Mein Blick streift meinen Freund und bleibt an ihm hängen. An seinen geschwungenen Wimpern, der Linie seines Kiefers, seinen blonden Haaren, auf die unser Weihnachtsbaum einen mystischen Schimmer wirft. Fast wirkt es, als wäre er die Leinwand des Mondes am Himmel und dieser würde mit Licht und Schatten auf ihm malen. Der Mond und ich, wir kennen wohl beide keine bessere Vorlage für die Kunst als ihn.
Ich gebe dem unwiderstehlichen Drang nach und streiche mit dem Daumen über seine zart gerötete Wange. Luks Mundwinkel wandern nach oben und er blinzelt vorsichtig.
"Du bist noch wach?"
"Das ist aufregend", flüstere ich.
Er setzt sich auf und ich rutsche zwischen seine Beine. Seine umschlingen meinen Bauch. Er sieht er den Weihnachtsbaum an und küsst mich auf den Hinterkopf. "Ein wirklich hübsches Exemplar. Ich bin froh, dass wir einen geholt haben."
"Die Investition hat sich gelohnt", stimme ich zu.
Schon entdeckt mein wundervoller Freund das Kochbuch in meinem Schoß. "Was willst du denn damit?", fragt er verwundert.
"Na, was macht man für gewöhnlich mit Kochbüchern?", kichere ich.
"Wolltest du kochen?"
"Doch nicht mitten in der Nacht, du Spinner", lache ich.
"Bei dir weiß man nie", zuckt er die Schultern, wofür er einen sanften Klaps auf den Oberschenkel einsteckt, mich allerdings mit einem darauffolgenden Kuss vollendst besänftigt.
"Deine Bilder sind übrigens wunderschön", nickt er in Richtung derer, die über dem alten Fernseher hängen. Winterimpressionen, die er passend zur Jahreszeit aus meiner Mappe ausgewählt hat. Ein glänzender Wald, in den man förmlich hineingesogen wird; ein Eisvogel, besonders realistisch dargestellt, auf schwarzem Grund; eine Buntstiftzeichnung, die uns zeigt, wie wir über den Weihnachtsmarkt schlendern, ihn mit gebrannten Mandeln, mich mit einem kandierten Apfel, uns beide mit leuchtenden Augen. Da hängen Etliche, aber diese drei sind zentral angeordnet.
"Danke. Du wiederholst dich", antworte ich.
"Anscheinend werde ich langsam senil", geht er nicht darauf ein.
Wir schweigen eine Weile, staunen über die prächtige Tanne, die wir zusammen geschmückt haben. Nie sah ein Baum schöner aus.
"Möchtest du Kakao oder Tee?"
"Du hast Kakao gekauft?" Freudig drehe ich mich zu ihm um.
"Klar, was wäre Weihnachten ohne Kakao?", tippt er gegen meine Nase und ich drücke ihn plötzlich ganz fest. "Bis Heiligabend sind es aber noch einige Stunden", seufze ich an seinem Hals.
"Vonwegen", löst er sich von mir und präsentiert mir den Digitalwecker. 0:12 Uhr, steht da in roten Ziffern.
"Oh!", hüpfe ich auf Knien. "Luk, es ist Weihnachten, wir haben Weihnachten! Fröhliche Weihnachten!" Und gleich umarme ich ihn ein zweites Mal.
"Frohe Weihnachten, Aleks", erwidert er.
Einen Weihnachtskuss später hocken wir in unsere Decke gewickelt vor dem Herd und erhitzen Milch im Topf.
In Geborgenheit versunken, schiebe ich die Teile der Collage, an der ich momentan arbeite, hin und her. Die Stille ist mein Helfer dabei. Luk beobachtet mich gespannt. Seltsam, dass es mir bei ihm nichts ausmacht, wenn er mein Schaffen genauer unter die Lupe nimmt.
"Spiel mir doch was auf der Gitarre vor", verlange ich dennoch.
"Pass auf, dass die Milch nicht überkocht", schält er sich aus dem Knäuel, das wir bilden.
Mit dem Instrument kehrt er zurück und stimmt ein Lied an, dass ich noch nie gehört habe. Er singt dazu über tausend Sterne.
"Kaum jemand kennt es", meint er, als er fertig ist und ich ihn danach frage. "Eigentlich ist es für eine Sopranfrauenstimme gedacht. Meine Mutter hat es meiner Schwester und mir vorgesungen an Weihnachten."
"Ein bezaubernder Song."
"Ja, er ist fantastisch."
Natürlich passt Luk genau den richtigen Moment ab, um die Milch in zwei Tassen mit Kakaopulver zu gießen. Wir lassen die Keramikwaren gegeneinander klirren. Er öffnet die Vorhänge und vereinzelt rieseln echte Schneeflocken vom Himmel. Es wird nicht lange dauern, dann sind sie geschmolzen und es wird wirken, als hätte es einfach geregnet über Nacht, die Straßen benetzt von den zerplatzten Tropfen. Wir werden wissen, dass es detaillierte, regelmäßige Eiskristalle waren, die aus den Wolken fielen. Und hinter uns glitzert der Weihnachsbaum. Von außen muss es aussehen, als wären wir von einer magischen silbernen Aura umgeben.
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