163. Shandora, die Goldene Stadt
Auf dem Upper Yard:
Ohne Hast lief Robin auf den Wolken. Sie war nicht mehr im Wald, sie war bereits am Ziel. Es gab keinen Erdboden mehr, der bestand nur noch aus den Wolken mit der seltsamen Dichte. Das ‚rechte Auge des Totenkopfs' war wie eine gigantische Lichtung auf dem Upper Yard. Verstreut lagen Ruinen von Häusern, auf denen bereits sich größtenteils eine Moosschicht zog und vereinzelt sogar vergleichsweise kleine Bäume wuchsen. Zur Mitte hin nahm die Anzahl der Ruinen zu, bis sich schließlich aus der Mitte eine große, grüne Ranke emporhob.
Robin lief an den Ruinen vorbei und betrachtete sie sich genauer. Ihr Notizbuch war schon gezückt und bereit dazu noch mehr Wissen zu verewigen.
Die Archäologin allerdings blickte nicht allzu begeistert. Sie wirkte eher skeptisch. Auf einmal blieb sie stehen und drehte sich um.
Sie fühlte sich beobachtet.
Nachdem ihre Augen die Ruinen abgesucht und nichts und niemanden entdeckt hatten, lief sie langsam ihren Weg weiter.
Ihre Aufmerksamkeit galt wieder den Ruinen. Sie bewegte sich auf eine Art Tunnel zu, der näher in die Mitte, Richtung riesiger Ranke, führte. Kurz vor diesem blieb sie stehen. „Und das soll das Zentrum sein?! Der Karte nach müsste es sich hier befinden." Sie wurde kurz leise und dachte nach. „Ist die Stadt durch die Verlagerung in den Himmel womöglich auseinandergefallen?"
Sie blickte in den Tunnel hinein, als würde sie eine Antwort erwarten, doch das war vergebens.
Irgendwann schritt sie doch los in die Dunkelheit hinein.
Sie hatte keine Angst vor ihr, schließlich war sie in ihr aufgewachsen.
An der Wand tastete sie sich vor. An ihrer Hand spürte sie feuchtes Moos und knorrige Ranken. Es war absolut still, das Einzige, das zu hören war, war das hallende Geräusch ihrer Schritte.
Nicht lange und sie erblickte ein Licht. Ungerührt lief sie einfach darauf zu, bis sie den Tunnel verließ.
Sie war der großen Ranke in der Mitte nun ziemlich nah. Was sie jetzt sah, waren bloß noch mehr Ruinen, diese hier waren allerdings viel größer als die davor. Auch hier wuchsen Bäume auf diesen und das Moos gedieh prächtig.
Dumpfe Geräusche entstanden, als die Schwarzhaarige wieder über die Wolken lief.
Vor den meisten Ruinen blieb sie stehen und betrachtete diese eingehend. Diese hier versprachen ihr weitaus mehr Informationen. Sie lief hin und her, wischte Moos beiseite, untersuchte Steine und notierte sich alles, was sie für wichtig hielt.
Das dauerte viele Minuten.
Währenddessen blickte sie immer wieder mal über ihre Schulter. Sie wusste nicht, wieso, aber sie fühlte sich beobachtet.
Doch davon ließ sie sich nicht von ihrer Arbeit ablenken. Sie war Archäologin, da war ein Ort wie dieser wie geschaffen für sie.
Allerdings hatte sie, nachdem sie ihre Untersuchungen abgeschlossen hatte, Bedenken.
Sie hockte sich auf die Hälfte einer mit Wurzel überwucherte Treppe, die zu etwas führte, was anscheinend früher mal ein Tempel gewesen war oder so ähnlich, und las sich ihre Notizen nochmal aufmerksam durch. Einmal, zweimal, dreimal... Sie brachte es nicht auf die Reihe. „Weder die Ausmaße noch die Topografie", murmelte sie leise vor sich hin, „stimmen mit der Beschreibung überein."
Sie las eine bestimmte Stelle nochmal nach. „Vor allem kann das" Mit ihrem Stift deutete sie auf eine Notiz „nicht sein!"
Kurz grübelte sie noch, doch dann kam ihr ein Geistesblitz und sie erhob sich augenblicklich.
Blitzschnell drehte sie sich um. War da jemand? Und wenn ja, wer?!
Es rührte sich nichts, es bleib still.
Robin war misstrauisch, ließ es aber trotz leichten Zögerns sein.
Im normalen Tempo stieg sie die Stufen zu diesem ehemaligen Vielleicht-Tempel hinauf. Es waren viele Stufen und sie fing an ein wenig zu keuchen.
Endlich oben angekommen, betrat sie da heruntergekommene Gebäude. Aber wenn man bedachte, dass es bereits seit vielen hundert Jahren sich hier oben befand, war es erstaunlich gut erhalten.
Kurz schaute sie sich um, dann ließ sie ihren Rucksack und ihren weißen Cowboyhut im mittleren Raum auf die Wolkendecke gleiten. Dann öffnete sie diesen und wühlte darin auf der Suche nach etwas.
Nicht lange und die Archäologin zog einen Dolch hervor, den sie sogleich in den Boden aus Wolken stach.
Er war zwar weich, aber dennoch besaß er eine dichte Masse. Sie fing an Würfel aus dem Boden herauszuschneiden und diese dann irgendwo in den Raum hineinzuwerfen. Immer wieder tat sie dies. Das wurde ständig von einem gleichmäßigen ‚Ritsch-Ratsch' begleitet.
Viele Minuten angestrengter Arbeit legte sie zurück.
Nach ungefähr einer halben Stunde hatte sie ca. 10 Meter zurückgelegt.
Sie wischte sich mit dem Handrücken der Hand, in der sie den Dolch hielt, über die Stirn. In dem kleinen Schacht, den sie gefertigt hatte, waren im Meterabstand je zwei Arme zu erkennen, die die bereits herausgeschnittenen Wolkenwürfel in den oberen Raum warfen.
Nach einer kurzen Verschnaufpause stach sie mit dem Dolch wieder in die Wolken, hielt dann jedoch inne.
Langsam zog die kurze Klinge wieder raus und staunte.
Unter der Wolkenschicht war Freiraum. Also befand sich unter der Schicht mit den Ruinen und dem Tempel oben noch eine Etage!
Leicht lächelte Robin triumphierend. „Wusst' ich's doch!"
Sie schnitt ein Quadrat in den Wolkenboden und drückte ihn runter, sodass sie durchspringen konnte, was sie auch sogleich tat.
Anscheinend war das hier der Rest des Vielleicht-Tempels, in dem sie gewesen war.
Sie blickte nach oben zu dem frisch entstandenen Loch und wollte mit einer Handbewegung einen Arm sprießen lassen, der ihren Rucksack und ihren Hut runter werfen sollte, allerdings griff der ins Leere.
Verwundert versuchte sie es nochmal, doch wieder kein Erfolg. „Was zum...?!"
Auf einmal wurden ihre Sachen zu ihr runter geworfen, doch der Arm, der das machte, war keiner von ihr.
Im nächsten Moment baumelte ein Kopf aus dem Loch herunter. Schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, der jetzt leicht hin und her schwankte; dunkle, strahlende Augen; ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Hi, Robin!"
„Miss Vize!", merkte Robin auf.
Ally nahm Schwung und landete direkt neben der Archäologin.
„Dann bist du mir gefolgt", stellte die Ältere klar.
Ihr Vize-Kapitän kratzte sich verlegen an der Wange. „Ähm... Ja... Ich hätte dir hier auch geholfen, doch ich hab mich noch etwas umgeschaut...!"
Unwirklich musste Robin leicht lächeln. Die Kleine ähnelte ihrem Bruder wirklich sehr; größtenteils kindisch, aber wenn es sein musste, wurde sie ernst.
Verwundert blickte Ally sich um. „Hier gibt es also noch eine Etage?!"
Robin nickte. „Ja, eine irdische Ruine kann nicht auf Inselwolken stehen. Was man oben herausragen sah, ist nur das oberste Stockwerk von vielen..."
Ruffys Schwester betrachtete die vielen Gänge, die sich von dem Raum, in dem sie sich befanden, abzweigten. „Wie weitläufig! Die Ruine ist offenbar weit verzweigt." Grinsend wandte sie sich ihrem neusten Mitglied zu. „Lass uns gehen!!"
Wieder musste die Archäologin lächeln. „Alles klar."
Hier unten war der Tempel oder was auch immer dieses Gebäude einst gewesen war wirklich groß. Viele Räume und Gänge.
Oft musste Robin ihren Dolch benutzen, um Ranken durchzutrennen, die in unserem Weg waren.
Okay... Und ich musste gestehen... Ich redete viel. Erzählte so, was ich gemacht hatte... Dafür, dass ich größtenteils bloß durch diesen Wald gelatscht war, konnte ich ganz schön viel labern. Aber hey...! Ich hatte immerhin zweieinhalb Stunden mit niemandem wirklich reden können, außer Fangschrecke und irgendeiner dahergelaufenen Ziege.
Aber Robin war eine gute Zuhörerin... oder sie hörte gar nicht zu... Hm...
Leider entstand irgendwann mal doch ein für mich unangenehmes Schweigen. Nichts war zu hören abgesehen vom Hallen unserer Schritte in dem leeren Gebäude. Mir war diese Stille irgendwie unangenehm, doch Robin schien sie nicht zu stören. Jedenfalls unternahm sie nichts, um etwas daran zu ändern.
Einige Minuten vergingen so, bis meine Freundin unerwartet doch den Mund öffnete: „Miss Vize..."
„Ja?", machte ich ihr klar, dass ich hörte.
Kurz machte sie eine Pause, in der sie anscheinend überlegte, was für Worte sie verwenden sollte.
Dieses Zögern machte mich noch neugieriger.
„Du sollst wissen", fing sie letztendlich an, „dass mein einziges Interesse sich auf meinen Wunsch, die Wahrheit zu finden, bezieht. Sonst nichts."
Mit einem fragenden Blick von der Seite blinzelte ich sie an. „Was meinst du denn damit?"
Sie lächelte und drehte im Gehen ihren Kopf so, dass sie mich anschaute. „Denk mal darüber nach! Du bist nicht dumm."
„So genau wollt ich's gar nicht haben", murmelte ich sarkastisch und doch war ich im Inneren doch wegen des angedeuteten Kompliments verlegen.
Die Archäologin kicherte, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gezogen. „Licht!"
Und tatsächlich.
Am Ende eines Ganges war Licht zu erkennen.
Automatisch beschleunigten wir unsere Schritte.
Dort angekommen konnten wir unseren Augen nicht trauen.
Sowohl Robin als auch mir verschlug es glatt die Sprache.
Das war atemberaubend!
Der Gang endete und zeigte uns, dass unser Tempel das größte Gebäude hier war. Er bot uns die Sicht auf einen sehr großen Platz dar. Dieser Platz war voller Ruinen sowohl in der Mitte als auch ringsherum. Alles voller Moos, Ranken und ein paar Bäumen.
Wortlos ließ Robin ihren Rucksack zu Boden fallen und setzte sich auf den Boden. Ihre Beine ließ sie über die Kante zu einem ziemlichen steilen Abgrund, der im Platz endete, baumeln.
Diese Bewegung machte mir klar, dass mein Mund leicht offenstand. Schnell schloss ich diesen und hockte mich neben sie in den Schneidersitz.
„Die Stadt Shandora, die vor so vielen Jahren zerfiel...", hauchte die Schwarzhaarige ehrfürchtig. „Das ist doch nicht zu glauben."
„Sie ist immer noch so prächtig!", stimmte ich ihr langsam und anerkennend nickend zu. Ich hatte meine Kameradin noch nie so erlebt. Okay, ich kannte sie noch nicht lange, aber trotzdem...
„Das ist also Shandora", schloss Robin immer noch beeindruckt, „die Goldene Stadt!!!"
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