7. Dezember
Am nächsten Morgen wacht Gwyn wieder durch Nieves auf. Sie hat einfach einen menschlichen Wecker Zuhause. Nieves liegt immer noch neben ihr auf dem Sofa und es ist seit langem die unbequemste Schlafposition, die Gwyn eingenommen hat. Das soll einiges heißen, denn sie hat schon in Badewannen geschlafen. Sie will noch schnell den Elfen drapieren, denn das hat sie gestern Abend schon wieder nicht gemacht. Sie holt das Fotoalbum aus der Kiste und schaut sich an, was ihr Freund zu gegeben Anlass gebaut hat und baut es nach. Sie schaut in das Fotoalbum und muss lächeln, als sie den Elfen sieht, der mit einem Stift neben vier Bananen sitzt und diese angemalt hat, sodass es so aussieht, als würden die Bananen Minions sein. Gwyn steht auf, um den Elfen zu drapieren, während Nieves noch auf dem Sofa sitzt und ihre Nikolaussachen von gestern bestaunt. Sie spielt mit dem einen Spielzeug, welches ihre Großeltern ihr in den Stiefel getan haben. Oma Bente und Opa Talin meinen es einfach zu gut mit dem Kind. Nun ist es jedoch für Gwyn von Vorteil, denn so ist Nieves immerhin für eine Weile beschäftigt und sie kann den Elfen ganz in Ruhe vorbereiten. Als sie alles aufgebaut hat, das Album wieder verstaut hat, holt sie zwei Müslischalen hinaus und füllt sich selbst und Nieves ein paar Cornflakes in die Schüsseln. Das Album ist wie ein kleiner Adventskalender für Gwyn, den ihr Freund ihr hinterlassen hat. Die Fotos sind jeweils auf einer Seite ohne Kind und auf die nächste Seite mit kleiner Nieves aufgeklebt, sodass sie immer umblättern muss, um den nächsten Tag zu sehen. Sie spart es sich für den jeweiligen Morgen auf. Sie will einfach jeden Tag etwas davon haben und sich überraschen lassen.
"Nieves, kommst du? Ich habe Frühstück gemacht" , ruft Gwyn ins Wohnzimmer. Kurz darauf trottet Nieves, immer noch im Schlafanzug in die Küche.
"Willst du deine Cornflakes mit oder ohne Milch?" , fragt Gwyn ihre Tochter. Es ist eine Eigenart von ihr, dass sie ihre Cornflakes immer staubtrocken ist, was nie jemand nachvollziehen kann, doch sie mag einfach keine Milch.
"Mit" , sagt Nieves und will sich die Hafermilch selbst eingießen. Gwyn kann sie nicht schnell genug aufhalten und so entsteht eine riesige Sauerei, die die beiden erst einmal beseitigen müssen, bevor sie aus dem Haus kommen.
"Nieves!" , wird Gwyn etwas lauter, weil sie durch dieses Missgeschick weiß, dass sie nun heute wieder zu spät kommen wird. Nieves beginnt zu weinen und sträubt sich nun den restlichen Morgen, auf Gwyn zu hören. Sie will keine Zähne putzen und auch sonst nichts von dem tun, was Gwyn ihr sagt.
"Okay, wenn du es so willst. Dann schicke ich dich eben im Schlafanzug in den Kindergarten. Komm jetzt" , sagt Gwyn und ist schon völlig genervt von dem kleinen Nervenbündel. Sie nimmt sie an die Hand, doch auch jetzt will Nieves sich keine Schuhe anziehen lassen.
"Ich lasse dich auch ohne Schuhe gehen. Das wird aber ziemlich kalt an deinen Füßen" , sagt sie mit verschränkten Armen. Daraufhin zieht Nieves widerstrebend die knallpinken Gummistiefel über den dicken Schlafanzug. Sie hat gerade einfach immer noch ihre Trotzphase und Gwyn ist es Leid. Sie nimmt Nieves an die Hand und schleift sie hinter sich her. Sie ist echt froh, als die beiden ohne große Zwischenfälle beim Kindergarten ankommen. Sie kann schwören, dass sie heute noch länger gebraucht haben, als sie sonst schon brauchen. Die Erzieherin schaut sie skeptisch an.
"Trotzphase. Ich komme zu spät. Bis später" , sagt sie und sprintet los, denn wenn sie sich nicht beeilen würde, würde sie sowas von die nächsten beiden Bahnen verpassen. Mit der ersten würde sie noch pünktlich kommen, Punktgenau wäre sie im Vorlesungssaal. Mit der danach wäre sie fünf Minuten zu spät. Mit der danach um einiges mehr. Als sie angerannt kommt und die Schlange bei Caspar sieht, stöhnt sie auf. Endlos lang. Sie beschließt, dass sie das Ritual heute ausfallen lassen muss. Sie kann sich nicht bei Caspar anstellen. Nicht bei der Länge der Schlange. Sie würde sich den Kaffee und auch die Zimtschnecke nach der Uni holen, auch wenn sie den Morgen über unerträglich werden würde. Sie bleibt kurz stehen, eine kleine Verschnaufpause musste sie einfach einlegen, bevor sie wieder weiterrennt. Sie will gerade weiter zum Bahnhof rennen, als eine dunkle Stimme ihren Namen ruft.
"Gwyneira! Hast du nicht etwas vergessen?" , ruft die dunkle Männerstimme. Casper wedelt wie wild mit der Tüte herum und lässt die anderen Kunden warten.
"Für mich?" , ruft Gwyn über den ganzen Platz und Caspar nickt wie verrückt.
"Du bist mein Lebensretter!" , sagt sie, rennt zu ihm und reißt ihm die Tüte und den Kaffee förmlich aus der Hand. Die Schulden würde sie diesen Dezember schon noch begleichen, denn es ist der zweite Tag in Folge, bei dem sie nicht bezahlt. Zur Not müsste der alte Herr eben bei ihr Zuhause anklopfen und die Schulden einfordern. Er weiß, wo sie wohnt. Sie sprintet weiter und kommt völlig außer Atem beim Bahnhof an, aber dort steht die Bahn. Und sie schließt gerade die Türen. Oh nein. Mit dieser Bahn wäre sie pünktlich gekommen. Sie will gerade aufgeben, sich auf die Bank am Bahnhof setzten und ihre Zimtschnecke essen, als sich die Tür wieder öffnet. Jemand hat von Innen den Fuß in die Tür geschoben, sodass sie sich wieder öffnet und Gwyn gemächlich einsteigen kann. Sie folgt dem Fuß und sieht ihn. Es ist der gleiche Mann, der sie neulich vor ihrer Panikattacke gerettet hat. Er lächelt sie an. Der schon einmal die Tür für sie aufgehalten hat. Der muss sie ja für völlig irre und bescheuert halten.
"Danke! , sagt sie und er lächelt sie weiterhin an, sagt aber nichts. Sie traut sich nicht, noch etwas zu sagen, immerhin hat sie sich neulich erst blamiert. Und nun das zweite Mal, denn lauter kann man wohl nicht atmen. Sie ist immer noch völlig aus der Puste und das sie von ihm umgehauen wird, macht das ganze nicht besser. Als sie ein paar Stationen gefahren sind, muss er aussteigen. Genau eine Station vor ihr. Das weiß sie inzwischen ganz genau. Heute hat sie es geschafft, ihn nicht anzustarren. Die Frau, die neben ihr steht, grinst in sich hinein und Gwyn könnte schwören, dass es die gleiche Frau ist, die neulich auch in der Bahn war, als sie ihn so angestarrt hat. Jetzt lässt die Frau doch auch tatsächlich einen Kommentar ab. Als er aussteigt, winkt er ihr sogar. Sie schaut sich um, hinter sich. Aber da ist nur sie. Er muss tatsächlich ihr gewunken haben und sie muss total in sich hineingrinsen. Sie weiß selbst nicht, weshalb.
"Gut gemacht, Mädchen" , sagt sie und lächelt in sich hinein. Gwyn ist froh, als sie an der nächsten Haltstelle auch aussteigen muss und die Frau noch weiterfährt. Am Bahnsteig trinkt sie den letzten Schluck ihres Kaffees und steckt den Thermobecher ein. Die Zimtschnecke hat sie vor lauter Aufregung in der Bahn gar nicht gegessen, aber wenn sie die nun rausholen würde, würde sie wieder nichts abbekommen, also lässt sie sie in der Tasche und wird sie nachher essen. Sie kann eigentlich gut teilen, aber nicht bei diesen Dingen. Nicht bei ihrer Zimtschnecke. Nicht bei dieser Tradition.
"Du hast uns nichts übrig gelassen?" , fragt Fiamma schmollend, als sie Gwyn entdeckt. Die anderen beiden kommen aus anderem Richtungen des Bahnsteiges und sie begrüßen sich alle mit einer Umarmung, bis sie aus der Unterführung gehen, um ins Unigebäude zu gehen und sich der Vorlesung des strengen Professors zu widmen, der Gwyn auf dem Kiecker hatte. Aber heute steht es 1:0 für Gwyn, denn sie ist pünktlich. Die vier verbringen den restlichen Tag gemeinsam in der Uni und auch am Nachmittag wollen sie gemeinsam den Abend verbringen. Sie trennen sich nach der Uni, damit Gwyn ihre Tochter abholen kann und die anderen müssen auch noch ein paar Sachen erledigen. Sie sind um siebzehn Uhr in ihrem Lieblingscafe verabredet. Gwyn macht sich auf den Weg in den Kindergarten, um Nieves abzuholen. Als sie dort ankommt, hat Nieves Alltagsklamotten an und nicht mehr ihren Schlafanzug. Die Erzieherin grinst sie an.
"Wie hast du das geschafft? Und woher hast du die Klamotten?" , fragt Gwyn erstaunt.
"Aus ihrem Wechselbeutel. Du musst jetzt morgen neue mitbringen. Und ich hab da so meine Tricks" , antwortet sie.
"Kannst du die mir verraten?" , fragt sie.
"Bestechung" , gibt die Erzieherin zu und die beiden müssen lachen. Nach dem Tag im Kindergarten ist Nieves zum Glück nicht mehr zickig, weil die sich auf Gwyn Freundinnen freut. Die beiden machen noch einen Zwischenstopp Zuhause, bevor sie sich auf den Weg ins Cafe machen, wo ihre Freundinnen schon auf sie warten.
"Bin ich etwa schon wieder zu spät?" , fragt sie. Die drei nicken.
"Verdammt. Ich dachte, wir wären gut in der Zeit" , ärgert sich Gwyn über sich selbst.
"Aber nur zwei Minuten" , sagen die drei lachend und stecken Gwyn die Zunge heraus.
"Ihr seit so gemein!" , antwortet sie und haut Fiamma, die am nächsten sitzt, gegen den Arm.
"Hey, das ist unfair!" , beschwert diese sich zugleich.
"Pech gehabt" , antwortet Tindra und lächelt in sich hinein. Die vier bestellen sich alle einen Kaffee und Nieves bekommt einen kleinen Kakao.
"So, und jetzt kommen wir zu unserem eigentlichen Anliegen" , verkündet Donatella feierlich, als wenn es etwas ganz besonderes wäre, weshalb sie sich getroffen haben.
"Hast du die Zettel dabei?" , fragt Tindra.
"Ich habe Zuhause schon alles vorbereitet" , gibt Donatella zurück.
Sie nimmt ihre Mütze, die sie in ihren Jackenärmel gestopft hat und packt vier Zettelchen hinein, die die Mädchen nacheinander ziehen. Es ist das erste Mal, dass die vier wichteln, aber sie wollten es unbedingt einmal gemacht haben.
"Was ist, wenn ich mich selber ziehe?" , fragt Tindra.
"Dann müssen wir noch einmal ziehen" , erklärt Donatella und reicht die Mütze herum, sodass jeder einmal ziehen darf.
"Mami, darf ich für dich ziehen?" , fragt Nieves, die eigentlich total in ihr Mandala versunken war.
"Klar" , sagt Gwyn lächelnd. "Aber pscht. Du darfst nicht verraten, wen ich gezogen habe, okay?" , erklärt Gwyn. Nieves grinst. Sie kann überhaupt nicht lesen. Sie kann also nicht verraten, wen Gwyn gezogen hat. Die drei anderen ziehen den Zettel und grinsen.
"Zeigst du mir den Zettel nun, Nieves? Ich muss sehen, ob du mich selbst gezogen hast" , sagt Gwyn.
"Nein! Du hast gesagt, ich darf niemanden verraten, was ich gezogen habe" , erklärt sie knallhart.
"Aber mir musst du es doch zeigen. Sonst kann ich kein Wichtelgeschenk besorgen, Nieves" , versucht sie sich zu erklären, doch Nieves bleibt stark und rückt nichts von ihrem Geheimnis heraus. Gwyn personalisiert die Geschenke immer gerne.
"Zeig mir doch Mal den Zettel"
"Nein!"
"Nieves, bitte!"
"Nein!"
Die anderen Mädchen schmunzeln in sich hinein, bis sie das Lachen nicht mehr halten können und wie wild anfangen, zu gackern und sich gar nicht mehr ein bekommen. Gwyn findet es alles andere, als lustig, denn nun kommt die Bockigkeit von heute morgen wieder bei Nieves hoch. Sie muss den Moment ausnutzen, als sie von den drei gackernden Hühnern abgelenkt ist und klaut den Zettel, bis sie endlich den Namen lesen kann, der darauf steht. Sie hat nicht sich selbst gezogen. Kurz darauf verstaut sie den Zettel wieder in Nieves Jackentasche, wo sie ihn deponiert hat. Sie hat nichts davon mitbekommen. Sie kann ihr kleines Geheimnis also für sich behalten. Dann spielt sie dieses Spiel nun eben mit. Nachdem sie noch einige Stunden mit ihren Freundinnen verbracht hat, müssen sie und Nieves nach Hause, weil für Nieves langsam die Bettzeit beginnt. Die beiden verabschieden sich und gehen nach Hause, wo Nieves noch ein schönes Bad bekommt und noch eine Folge Weihnachtsmann und Co KG schauen darf, bevor sie wirklich ins Bett geht und Gwyn noch einmal "Ein kleines Weihnachtswunder" vorliest. Beim Baden versucht Gwyn es noch einmal.
"Wer stand denn nun auf dem Zettel?" , fragt sie. Doch auch dieses Mal bekommt sie keine vernünftige Antwort von Nieves. Gwyn hat das Gefühl, dass ihre Tochter das mit Absicht macht, ganz genau weiß, was sie dort tut und es ihr einfach Freude bereitet, Gwyn zu ärgern. Dann lässt sie ihr eben den Spaß. Gwyn hat auch so ihre Tricks, wie sie mit ihr fertig wird. Kurz darauf ist Nieves schon im Land der Träume versunken und Gwyn geht es ähnlich.
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