6. Dezember

Am nächsten Morgen wacht Gwyn völlig erschrocken auf. Es ist draußen noch stockdunkel, doch sie ist direkt hellwach und weiß, dass sie zwei entscheidende Dinge vergessen hat. Der Fernseher läuft schon und Nieves hat sich Zutritt zum Fernsehprogramm verschafft. Eigentlich würde sie ihre Tochter jetzt die Deviten lesen, doch sie muss die ungeteilte Aufmerksamkeit nutzen, um die Stiefel vorzubereiten. Da die beiden nicht Zuhause sind und sie gestern Abend einfach eingeschlafen ist, hatte sie den Nikolaustag völlig vergessen. Sie steht schleichend auf und hofft, dass Nieves sie einfach nicht bemerken würde. Diese ist jedoch völlig gebannt von der gefühlt hundertsten Folge Weihnachtsmann und Co KG, sodass sie Gwyn gar nicht bemerkt, als diese aufsteht. Sie starrt einfach nur auf den Bildschirm. Wenn das so weitergehen würde, würden sie die ganze Serie zwei oder sogar dreimal hintereinander schauen müssen, in diesem Jahr. Gwyn nimmt die Decke mit, weil es wirklich sehr kalt bei ihren Großeltern ist. Ihr Großvater hatte an diesem Morgen noch nicht den Kamin angeworfen. Wenn dieser erst einmal an war, war es kuschelig warm im Wohnzimmer, doch wenn dieser noch nicht brannte, konnte man förmlich seinen eigenen Atem sehen.

Sie schleicht sich auf den dicken Kuschelsocken, mit der Decke eingekuschelt in den Windfang. Sie würde den Süßigkeitenschrank ihrer Großeltern plündern müssen. "Es tut mir Leid, Oma und Opa" Sie wusste, seit ihrer Kindheit ganz genau, wo die Schüssel mit dem Süßkram stand. Sie holt einige heraus und versucht, möglichst nicht zu rascheln, denn dann wäre Nieves sicherlich in zwei Sekunden bei ihr. Sie nimmt die Schüssel aus dem Schrank und macht sich damit auf den Weg in den Eingangsbereich, um zu sehen, dass dort alle Schuhe bis oben hin mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken gefüllt sind. Sie starrt die Schuhe an. Selbst ihre eigenen Winterstiefel quillen vor Süßigkeiten über. Ihr kommen sofort die Tränen, die sie sich erst einmal aus dem Gesicht wischen muss. Es raschelt plötzlich hinter ihr.

"Hey" , flüstert ihre Oma leise. "Gefällt es dir?" , fragt sie.

"Und wie" , sagt Gwyn und wischt sich eine weitere Träne aus dem Gesicht. Sie ist total gerührt.

"Wie habt ihr das gemacht?" , fragt sie. "Woher wusstet ihr, dass wir hier sind?" , fragt sie.

"Wussten wir nicht. Aber wir haben jedes Jahr zu Nikolaus etwas für euch. Schon vergessen? Heute hat es sich einfach angeboten" , erklärt ihr Opa, der nun auch im Eingangsbereich auftaucht.

"Ihr habt mir echt den Arsch gerettet!" , sagt sie und grinst die beiden an. Ihr Opa stupst ihr gegen den Arm.

"Hey, nicht solche Ausdrücke!" , sagt er grinsend.

"Kannst du den Kamin anmachen? Es ist wirklich arschkalt. Und kann jemand bitte das Kind vom Fernsehen wegholen?" , fragt sie.

"Hat sie es herausbekommen, wie sie ihn anmacht?" , fragt ihre Oma völlig entsetzt.

"Ich habe sie gestern morgen schon erwischt" , erklärt Gwyn ihr.

"Dieses Kind ist echt unglaublich" , sagt ihre Oma lachend und geht ins Wohnzimmer, um Nieves vom Fernseher wegzuholen. Gwyn bleibt noch eine Weile im Eingangsbereich stehen und hört bloß die gedämpften Stimmen der drei. Sie muss beginnen, zu lächeln. Sie hat so ein Glück, solch eine Familie zu haben.

Als sie in die Küche geht, sieht sie einen Elfen. Ihr Opa hatte diesen einen Elfen gebaut und ihn aufgestellt. Er veranstaltet gerade eine riesige Sauerei mit dem Mehl und ihr kommen schon wieder die Tränen.

"Das ist der, den du damals für uns gebaut hast, oder?" , fragt sie ihren Opa, als er gerade in die Küche kommt.

"Ja, das ist er" , sagt er schmunzelnd und die beiden setzten sich gemeinsam aufs Sofa und veranstalten eine Märchenstunde.

"Willst du eine Geschichte hören, Nieves?" , fragt ihr Opa, denn Oma Bente hatte es noch nicht geschafft, ihre Enkelin vom Fernsehen wegzuholen, dabei hat sie ihr bestes gegeben.

"Ja!" , ruft diese aufgeregt.

"Dann musst du aber den Fernseher ausmachen!" , sagt er bestimmt und sie drückt sofort auf den roten Knopf. Ihre Oma schaut ihren Mann ungläubig an.

"Ab sofort übernimmst du diesen Part!", stellt diese schließlich fest.

"Einverstanden" , grinst Opa Talin.

"Schau Mal in die Küche" , sagt Opa Talin zu seiner Urenkelin und sie gehen alle gemeinsam in die Küche, bevor sie sich wieder gemeinsam auf das Sofa setzten. Nieves bewundert den Elfen mit all seinen Details und lacht sich über die Sauerei kaputt.

"Du musst das aber nachher sauber machen, was dein kleiner Freund da in der Küche veranstaltet hat" , sagt ihr Opa und auf einmal findet sie das Chaos nicht mehr so lustig. "Ich helfe dir auch, ja?" , fragt er und die beiden setzten sich wieder gemeinsam zu Oma Bente und Gwyn auf das Sofa. Gwyn setzt sich neben ihre Tochter und die beiden kuscheln sich unter eine Decke. Nieves hat sich an ihren Opa gekuschelt und Gwyn an ihre Oma. Die beiden geben einfach die besten Kuschelpartner ab, weil sie einen liebevoll streicheln, ohne das ganze zu hinterfragen. Einfach drauf los, einfach aus Liebe. Sie liebt es bei ihren Großeltern zu sein. Und dann beginnt Opa Talin eine Geschichte zu erzählen.

"Weißt du, Nieves? Den Elfen, den ich dir da eben gezeigt habe, denn habe ich ganz alleine gebaut, damals als deine Mama dich gerade im Bauch hatte" , erklärt ihr Opa und Nieves schaut ihn mit großen, leuchtenden Augen an.

"Du hast den gebaut?" , fragt sie.

"Ja, und dann hat er jeden Tag im Dezember vor fünf Jahren Blödsinn gemacht" , erklärt ihr Opa.

"War Mama etwa jeden Tag hier?"

"Deine Eltern haben vor fünf Jahren hier gewohnt, als deine Mama mit dir schwanger war" , erklärt Opa Talin.

"Das muss toll gewesen sein" , stellt Nieves fest.

"Das war es" , sagt Gwyn lächelnd.

"Soll ich dir ein paar Fotos zeigen?" , fragt Opa Talin seine Enkelin.

"Oh ja!" , ruft Nieves begeistert und die beiden holen gemeinsam das Fotoalbum heraus. Gwyn schaut nach einer Weile auf die Uhr und stellt fest, dass sie wieder zu spät dran ist. Sie hat einfach die Zeit vergessen und muss sich nun wieder beeilen, damit sie den Zug noch bekommt.

"Verdammt" , sagt sie und springt auf. Sie würde es nicht mehr schaffen, Nieves noch in den Kindergarten zu bringen. Ohne etwas zu sagen, verständigt sie sich mit ihre Oma über die Blicke, die die beiden sich zuwerfen.

"Danke, Oma. Du bist die Beste!" , sagt sie und ist schon über die Türschwelle, als sie noch einmal zurück läuft und Nieves noch einen Kuss auf den Scheitel drückt.

"Ich hab dich lieb" , sagt sie und verschwindet aus der Haustür. Sie hat noch nicht einmal ihre Unisachen dabei, weil sie gestern eigentlich nicht bei ihren Großeltern übernachten wollte. Wenn sie jetzt allerdings noch einmal zuhause vorbei gehen würde, würde sie dick zu spät kommen. Das kann sie nicht machen. Sie läuft schnurstracks zur Straßenbahn und dieses Mal hat Caspar schon eine Zimtschnecke und einen Kaffee für sie bereit, den er einfach aus dem Häuschen hält. Es ist super voll und die Leute stehen bis sonst wo hin an.

"Ich begleiche meine Schulden morgen, Caspar. Ich verspreche, ich komme morgen pünktlich" , ruft sie im vorbeigehen und hört nur noch, wie die Menschen sich beschweren. Sie ist wirklich froh, dass Caspar wie ein Vater für sie ist und sie auch so behandelt. Er muss jetzt nur mit dem wütenden Mob zurecht kommen. Aber das wird er schon schaffen, schließlich kann niemand seinem Gebäck widerstehen. Sie kommt in der Bahn an und weiß, dass sie zu spät kommen wird. Sie hat noch nicht mal gesehen, wie Nieves ihren Stiefel entdeckt und auspackt und wird auf einmal super traurig. Nach fünf Minuten bimmelt ihr Handy. Ihre Oma hat ihr ein Video gesendet. Sie macht ihre Kopfhörer an und sieht sich das Video an. Es ist Nieves, wie sie ihren Stiefel entdeckt und ihn komplett ausräumt und sich freut.

"Du bist die allerbeste, Oma! Gedankenübertragung" , schreibt sie ihr und ihre Stimmung hebt sich wieder.

*

Bevor sie Nieves am Abend wieder abholt, schaut sie einmal Zuhause vorbei und stellt den Elfen in der Wohnung auf. Sie holt das Fotoalbum heraus und schaut, wie ihr Freund den damals aufgestellt hat, für den sechsten Dezember. Als sie es sieht, bricht sie in Tränen aus. Er hatte ihn in einer Mehlschlacht dargestellt, genau wie ihr Opa es heute morgen getan hat. Ihr Opa wusste nichts davon, dass sie die Elfen anordnete, wie ihr Freund vor vier Jahren. Sie haben nicht darüber geredet und doch hatte er die gleiche Idee. So stellt sie den anderen Elfen von dem einen Tag auf, der ihr noch fehlt und zieht sich schließlich wieder an, um Nieves von ihren Großeltern abzuholen.Nieves begrüßt sie stürmisch mit einer Umarmung, als Gwyn bei ihren Großeltern ankommt.

"Mama, Mama! Ich habe heute den Weihnachtsmann gesehen! Können wir bitte auf den Weihnachtsmarkt?" , fragt Nieves, ohne dass Gwyn richtig ankommen kann.

"Wo hast du denn den Weihnachtsmann gesehen?" , fragt sie.

"Im Einkaufszentrum" , sagt Nieves und verschluckt sich fast vor lauter Aufregung.

"Und was habt ihr da gemacht?" , fragt Gwyn.

"Schokoladenäpfel gegessen" , freut sie sich.

"Pscht" , flüstert ihr Opa. "Das solltest du doch nicht verraten"

"Ups" , sagt Nieves kichernd.

"Bitte, können wir da hin, Mama?" , fragt sie.

"Wieso bist du denn nicht mit Oma und Opa gegangen?" , fragt sie.

"Sie wollte unbedingt mit dir dort hin" , sagen ihre Großeltern schulterzuckend.

"Okay, dann mach dich fertig. Pack deine Sachen zusammen und dann machen wir einen kurzen Stopp Zuhause und dann gehen wir auf den Markt, okay?" , fragt sie. Nieves hüpft vor Freude durch die ganze Wohnung und zieht ihren Opa hinter ihr her, denn dieser muss ihr Packen helfen, hat sie beschlossen. Nachdem Nieves ihre Sachen zusammengepackt hat, verabschieden die beiden sich und gehen gemeinsam nach Hause. Sie laden die Sachen ab und machen sich schließlich auf den Weg auf den Markt.

Nieves hält überall Ausschau nach dem Weihnachtsmann, doch kann ihn nirgends entdecken und ist völlig enttäuscht.

"Die haben aber gesagt, er ist heute Abend hier" , sagt sie schmollend.

"Willst du dir etwas aussuchen, zum Trost?" , fragt Gwyn. Sie mag diesen Ort zur Weihnachtszeit einfach nicht, weil er sie an so viele schöne Sachen erinnert, die sie nie mehr haben wird. Nichts an dieser Jahreszeit ist schön oder fröhlich, wenn man jemanden verloren hat. Dann ist es einfach nur einsam und traurig.

"Nein!" , sagt Nieves. "Ich will den Weihnachtsmann sehen!" , sagt sie und schmollt. Sie hat sich in ihrem dicken Schneeanzug auf den Boden gesetzt und die Arme miteinander verschränkt.

"Ich kann ihn aber auch nicht herzaubern. Er ist scheinbar nicht hier. Entweder du suchst dir jetzt etwas aus oder wir gehen nach Hause. Aber auf das schmollen habe ich keine Lust, Nieves!" , versucht sie ein Machtwort zu sprechen.

"Ich will den Weihnachtsmann sehen!" , schmollt diese jedoch weiterhin.

"Er scheint heute nicht hier zu sein. Vielleicht hast du das im Laden falsch verstanden, oder wir sind zu spät. Wir kommen in den nächsten Tagen einfach noch mal her, okay?" , fragt sie. Nieves schmollt jedoch weiterhin. Nach einigen weiteren Minuten gibt Gwyn auf und nimmt sie einfach auf den Arm, um sie nach Hause zu transportieren. Da ist sie weiterhin quengelig und hat keine Lust auf nichts, also steckt sie sie irgendwann erst einfach in die Badewanne mit einem farbigen Schaumbad, doch auch das kann ihre Stimmung nicht heben. Schließlich schickt sie sie ins Bett. Es wird noch ein kleines Weihnachtswunder vorgelesen und dann ist es still. Gwyn ist von diesem Tag völlig erschöpft und ist erleichtert, als sie sich endlich aufs Sofa setzten kann und einen Moment durchatmen kann. Sie macht sich eine große Tasse Tee und schaut eine Folge Gilmore Girls, eine Weihnachtsepisode. Manchmal macht sie einfach wahllos irgendwelche Folgen an, wen ihr danach ist, denn sie kennt diese Serie in und auswendig. Nach der halben Folge kommt Nieves mit ihrem Rentierkuscheltier zu ihr.

"Mama, ich kann nicht schlafen" , sagt sie und wird weinerlich.

"Komm her, Süße" , sagt sie und breitet die Arme aus, damit Nieves sich hineinkuscheln kann. Sie legt sich mit dem Kopf auf Gwyns Beine und macht die Augen wieder zu. Gwyn streicht ihr über den Kopf und kurze Zeit später ist Nieves wieder eingeschlafen.

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