5. Dezember

Am Montag wacht sie völlig geplättet auf und hat ein schlechtes Gewissen, weil sie gestern nicht gelernt hat.

"Dafür habe ich am Samstag eine komplette Nachtschicht eingelegt" , versucht sie sich einzureden, doch das schlechte Gewissen knabbert weiterhin an ihr. Sie muss sich ranhalten, wenn sie es bis zu den Prüfungen schaffen will. Heute ist sie ein bisschen besser in der Zeit, weil Nieves bei ihren Urgroßeltern geschlafen hat. Sie ist einmal im Leben nicht im Stress und macht alles ganz in Ruhe. Trotzdem bereitet sie noch den Elf vor, denn sie muss immer noch aufholen. Einmal ist noch offen. Dadurch, dass Nieves gestern woanders geschlafen hat, hat sie es nicht mehr geschafft, den Elf noch ein zweites Mal zu drapieren.

Da sie an diesem Morgen so viel Zeit hat, macht sie sich daran, ein klein wenig Make-Up aufzulegen. Sie hat Spaß daran und ihr ist schon seit gestern danach. Eigentlich legt sie nie Schminke auf, doch an diesem Tag fühlt sie sich danach. Es fühlt sich einfach gut an, einmal die Zeit dazu zu haben und sich richtig viel Zeit für sich selbst zu nehmen.

Heute macht sie am Morgen die Kerze an, um an ihren Freund zu denken. Sie schließt die Augen und schweigt eine Minute lang. "Ich liebe dich" , flüstert sie nach einer Weile und pustet die Kerze aus, bevor sie aus der Wohnung geht. Sie stellt sich dieses Mal extra einen Wecker, um pünktlich los zu kommen. Als der Wecker klingelt, ist sie gerade fertig und macht sich auf den Weg zu Caspar, wo es erstaunlich leer ist.

"Caspar, wieso ist es bei dir immer voll, wenn ich zu spät dran bin und super leer, wenn ich in der Zeit liege?" , fragt sie ihn.

"Hast du dir die Frage nicht gerade selbst beantwortet? Es liegt an der Zeit. Wenn du zu spät dran bist, ist es zu einer anderen Uhrzeit, wo schon mehr Leute unterwegs sind."

"Ich muss echt früher kommen. So ist das ganze viel entspannter"

"Na, das will ich sehen!" , sagt er lachend und reicht ihr ihre Sachen. Dann macht sie sich auf den Weg zur Bahn und muss sogar einige Minuten warten, bis die Bahn ankommt und sie einsteigen kann. Sie isst noch den letzten Bissen der Zimtschnecke und steigt schließlich in die Bahn ein. Dort sieht sie ihn. Er sieht genauso aus, wie er.

"Vesco?" , fragt sie. Er hat sich gerade heruntergebeugt und holt etwas aus seiner braunen Tasche.

"Vesco?" , fragt sie noch einmal und ihr Atem wird schneller. Ihr Herzschlag beschleunigt sich immer weiter und sie bekommt keine Luft mehr. Es kann nicht ihr Freund sein. Ihr Freund ist tot. Und trotzdem sieht sie ihn. Er sieht genauso aus, wie er. Auf einmal wird ihr ganz warm und sie will sich am liebsten all die Wintersacken vom Leib reißen.

"Hey, alles okay?" , fragt der junge Mann nun, als er seinen Kopf hebt. Sie schaut in ein Gesicht, doch es ist nicht das Gesicht von Vesco. Es ist ein völlig fremder Mann. Es ist nicht ihr toter Freund.

"Es, es tut mir Leid" , sagt sie, immer noch völlig außer Atem.

"Ich- ich bekomme - keine , keine Luft" , sagt sie.

"Hey, psschht" , sagt da jemand anders von einer anderen Ecke. Sie kennt diesen Jemand. Er hat sie auch in der ersten Sekunde an ihren Freund erinnert. Doch bei beiden Männern ist die Ähnlichkeit beim zweiten Blick wie weggeblasen.

"Atme hier rein" , sagt er und holt eine leere Brötchentüte heraus, in der noch lauter Krümel sind. Sie versucht, in die Tüte hinein zu atmen. Tatsächlich hilft es. Er atmet mit ihr gemeinsam und ihr Herzschlag wird langsam ruhiger.

"Atme mit mir gemeinsam. Ein. Und Aus. Ein. Und Aus. Genauso. Alles wieder okay?" , fragt er.

"Danke" , sagt sie.

"Ich muss jetzt aussteigen. Kommst du alleine klar?" , fragt er.

"Ich- ich glaube schon. Danke" , sagt sie und will ihm die Tüte reichen, doch er will, dass er sie behält.

"Behalte sie. Für den Notfall" , sagt er lächelnd und steigt aus.

"Danke" , ruft sie noch einmal, nachdem er ausgestiegen ist. Es ist der gleiche Typ gewesen, denn sie neulich so lange angestarrt hat und er war gar nicht komisch. Er war total lieb. Und sie steht wie die letzte Idiotin da, weil sie solche Panik bekommen hat. Nur wegen eines Mannes, der nun immer noch dort steht und nun sie anstarrt. Es ist ihr super unangenehm und sie entschuldigt sich noch einmal bei dem Mann.

"Es tut mir Leid" , sagt sie noch einmal, als sie aussteigen muss. Zum Glück ist es die nächste Station. Dieser Mann muss denken, sie sei bescheuert. Was sollte er denn jetzt denken, wenn er sie so gesehen hat? Jetzt denkt er, sie hat wegen ihm Panik bekommen und muss sich den ganzen Tag schlecht fühlen. Sie beruhigt sich langsam wieder und alles normalisiert sich. Sie ist froh, aus der Bahn raus zu sein und trifft ihre Freundinnen am Bahnhof.

"Alles okay?" , fragt Fiamma.

"Alles okay" , sagt sie und lächelt, als sie die Brötchentüte in ihrer Tasche sieht.

Die vier gehen zur Uni und gehen dem Alltag eines Medizinstudenten nach. Die Jungs sehen sie heute noch nicht einmal, obwohl sie die Mittagspause gemeinsam verbringen.

"Achja, ich wollte dir noch etwas sagen" , sagt Donatella und strahlt bis über beide Ohren.

"Wem?" , fragt Gwyn. "Mir?" , fragt sie, weil alle drei sie anschauen.

"Ja, dir" , sagt sie.

"Okay, und was?" , fragt Gwyn mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht.

"Ich habe uns allen ein Date besorgt. Ein vierer Date. Ist das nicht toll?" , fragt sie in die Runde.

"Mit wem?" , fragt Gwyn. Sie ist alles andere als begeistert. Sie will keine Dates. Sie ist nicht bereitet. Noch nicht. Das wäre wie Verrat. Sie kann das nicht.

"Den Jungs, mit denen wir neulich gelernt haben"

"Du meinst wohl eher, mit denen ihr gelernt habt" , antwortet Gwyn genervt.

"Komm schon, Gwyn. Die waren doch ganz nett"

"Keine Ahnung. Ich habe wirklich gelernt, im Gegensatz zu euch"

"Man muss doch auch Mal ein wenig Spaß am Leben haben" , antwortet Donatella.

"Ich habe Spaß am Leben. Außerdem waren es doch eh nur drei. Viel Spaß euch" , sagt sie und will gerade aufstehen und gehen, als ihre Freundin sie am Arm zurück zieht. Sie hat wirklich keinen Bock auf die Scheiße und wenn ihre Freundinnen sie kennen würden, dann wüssten sie das.

"Ja, es waren drei. Aber sie haben noch einen Freund, den würdest du bekommen" , sagt sie freudestrahlend über beide Ohren.

"Ich weiß ja noch nicht einmal, wie er aussieht" , sagt sie. "Na vielen Dank auch. Nur weil keiner für mich dabei war krieg ich jetzt den, der übrig bleibt. Ihr könnt mir echt gestohlen bleiben" Ihr war das Aussehen egal, aber sie weiß, dass Donatella teilweise sehr oberflächlich ist, weshalb es ein gutes Argument wäre, das Date platzen zu lassen.

"Wenn er solche Freunde hat, kann er nicht hässlich sein" , kichert sie.

"Ich habe trotzdem keinen Bock darauf!"

"Aber ich habe schon zugesagt" , schmollt Donatella noch.

"Danke, dass du mich fragst!" , faucht Gwyn und haut ab. Sie hat kein Bock auf dieses Date und Donatella hätte erstens fragen können, ob sie überhaupt will, denn sie scheint offensichtlich kein Interesse zu haben und zweitens hätte sie wenigstens fragen können, ob sie überhaupt Zeit hat. Ist ja nicht so, dass sie ein vierjähriges Kind Zuhause hat.

"Komm schon, Gwyn. Bleib noch hier. Es tut mir Leid. Ich hätte dich fragen sollen. Du wirktest bloß so angepisst, und da dachte ich, es sei, weil wir alle einen süßen Typen gefunden hatten, an dem Tag und du nicht" , versucht sich Donatella zu erklären.

"Ja, ich war angepisst. Und ja, irgendwie auch aus dem Grund. Aber ich wollte keinen eigenen Typen. Die Typen sind mir scheiß egal, okay? Ich wollte einfach nur mit euch Lernen und ihr habt euch aber lieber alle verpieselt und mit wildfremden Typen geknutscht!" , giftet sie zurück.

"Es tut uns Leid", mischen sich das erste Mal Tindra und Fiamma ein.

"Aber kannst du bitte mitkommen? Ich habe den vier nun schon zugesagt" , erklärt sie. Gwyn kann es nicht fassen, dass Donatella sich nun Sorgen um die Jungs macht. Sie scheint das Problem einfach nicht zu verstehen.

"Wenn es unbedingt sein muss. Aber wenn er auch nur zu einem Prozent seltsam ist, gehe ich ganz schnell wieder" , stellt Gwyn die Regeln auf, weil sie keine Lust auf einen Streit hat.

"Du kannst ja Nieves als Ausrede benutzen" , grinst Donatella.

"Das war einer zu viel" , sagt Gwyn.

"Entschuldige. Schon wieder. Ich bin ein Trottel. Manchmal rede ich einfach, ohne nachzudenken. Es tut mir Leid. Alles wieder okay?" , fragt sie und hält ihre Arme offen für eine Umarmung.

"Alles wieder okay" , sagt Gwyn und kuschelt sich in die Umarmung ihrer Freundin. Sie weiß, dass Donatella manchmal einfach so ist. Drauf los redet und nicht nachdenkt. Wenigstens tut sie es im Nachhinein und sieht ihre Fehler ein. Gwyn mag keinen Streit, weshalb sie versucht, es zu vermeiden. Der Rest des Unitages verläuft unauffällig. Gwyn legt sich mit keinem Professor an und auch sonst ist alles eher ruhig. Nach der Uni wollen die vier noch ein bisschen Lernen und dieses Mal setzten sie sich auch ohne jegliche Unterbrechungen in die Cafeteria, um sich gegenseitig abzufragen. Die Nacht am Samstag scheint tatsächlich ziemlich viel gebracht zu haben, denn Gwyn beantwortet fast keine der Fragen falsch, die Fiamma sie abfragt.

"Wann zur Hölle hast du das alles in deinen Schädel bekommen? Ich bekomme mein Leben noch nicht einmal unter einen Hut. Wie hast du das mit einem kleinen Kind Zuhause geschafft?" , fragt sie ungläubig.

"Ich hab da so meine Methoden" , antwortet sie geheimnisvoll.

"Verrätst du sie mir?"

"Staatsgeheimnis"

Danach fragt Gwyn ihre Freundin noch einmal ab und sie widmen sich dem nächsten Thema, bis es spät wird. Draußen ist es schon dunkel, als Gwyn das erste Mal wieder auf die Uhr schaut und bemerkt, dass es viel zu spät ist. Sie hätte Nieves schon vor über einer Stunde bei ihren Großeltern abholen sollen. Die machen sich bestimmt Sorgen. Sie hatten sie auch schon einige Male angerufen, stellt sie fest, als sie auf ihr Handy schaut.

"Scheiße, Mädels ich muss los. Ich hab völlig die Zeit vergessen. Wir sehen uns morgen, okay?" , fragt sie, wirft alles achtlos in ihren Rucksack und rennt. Auf dem Weg zu ihren Großeltern, versucht sie diese zurück zu rufen, doch sie kann niemanden erreichen. Nach zehn Minuten ist sie angekommen und klingelt, völlig außer Atem. Es dauert eine Weile, bis ihr die Tür geöffnet wird. Ihre Oma steht in einem weihnachtlichen Schlafanzug in der Tür und hat Plätzchen in der einen Hand, die Tür in der anderen Hand.

"Wir haben uns schon gefragt, wo du bist. Komm doch rein" , sagt sie ruhig. Sie wirkt völlig gelassenen, als hätte sie sich keine Sorgen gemacht.

"Alles okay?" , fragt Gwyn misstrauisch.

"Ja, wieso?"

"Du bist so ruhig. Mum wäre ausgerastet" , sagt sie.

"Bin ich deine Mum?" , fragt sie.

"Nein"

"Siehst du. Ich kenne dich doch. Komm jetzt endlich rein. Zieh die Jacke aus und setzt dich. Iss einen Keks und zieh deinen Schlafanzug an"

Gwyn schaut sie verdattert an.

"Ohne deinen Schlafanzug darfst du nicht reinkommen" , sagt ihre Oma und zeigt auf den weihnachtlichen Schlafanzug, der auf der Treppe liegt, die ins obere Stockwerk führt. Gwyn zuckt die Schultern und zieht sich den Schlafanzug an, um gleich darauf ins Wohnzimmer zu gehen, wo es herrlich nach Plätzchen und Punsch duftet. Dort sieht sie ihre Oma, ihren Opa und ihre Tochter in weihnachtlichen Schlafanzügen auf dem Sofa sitzen, Plätzchen verdrücken, Punsch trinken und eine Folge Weihnachtsmann und Co Kg schauen.

"Wie hast du das geschafft?" , fragt sie Nieves. Es ist ein herrlicher Anblick.

"Mama!" , kreischt sie und kommt auf Gwyn zu gerannt, um sie zu umarmen. "Ich hatte so einen tollen Tag!" , sagt sie.

"Wir waren in der Stadt. Heute morgen waren wir erst bei Caspar und ich habe eine Zimtschnecke bekommen. Kaffee wollte er mir keinen geben. Ich sei noch zu klein. Von wegen. Ich bin schon soo groß" , sagt sie und streckt sich. "Dann sind wir in ganz viele Geschäfte gegangen und haben diese Schlafanzüge gesehen. Ich habe gesagt, dass wir alle einen brauchen. Als wir wieder Zuhause waren, habe ich mit Oma Kekse gebacken" , sagt sie und streckt Gwyn einen Keks in ihrer kleinen Hand entgegen. "Magst du sie?" , fragt sie aufgeregt. "Sie sind sehr lecker" , sagt sie und hört gar nicht mehr auf, zu reden.

"Und dann haben Opa und ich noch zusammen Punsch gemacht. Danach sind wir aufs Sofa gegangen und haben drei Folgen geschaut! Drei! So viele darf ich nie Zuhause sehen" , sagt sie stolz.

"Und das bleibt auch weiterhin so. Bei Oma und Opa ist es eine Ausnahme. Das ist sozusagen der Luxus, verstanden?" , fragt Gwyn.

"Darf ich öfter bei Oma und Opa schlafen?" , fragt Nieves.

"Das musst du die beiden mal fragen, ob sie damit einverstanden sind. Sie schaut die beiden fragend an.

"Sind sie" , sagt sie, nachdem die beiden freundlich genickt haben.

"Für mich ist es auch okay" , sagt Gwyn grinsend. "Dann bist du jetzt wohl öfter hier. Aber Oma und Opa dürfen dich nicht mit Süßigkeiten vollstopfen. Sag es ihnen, okay?" , fragt Gwyn. Danach setzt sie sich gemeinsam mit den anderen auf die Couch und sie schauen noch eine weitere Folge, bis sie alle einschlafen.

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