19. Dezember

Am nächsten Morgen wacht Gwyn von ihrer kleinen Tochter auf, die auf ihrem Bett herumhüpft, weil sie sich wieder über den Schnee freut. Dieses Jahr ist es wirklich unglaublich, wie viel es schneit. Mehr, als in den letzten fünf Jahren zusammen. Ein richtiges Weihnachtswunderland. An diesem Morgen ist Gwyn pünktlich bei Caspar und kann sogar noch eine Weile mit ihm schnacken, denn Oma Bente und Opa Talin haben bei Ihnen geschlafen und bringen Nieves in den Kindergarten.

Sie kauft eine Zimtschnecke und einen Kaffee, wie jeden Tag und trifft Chandler in der Bahn. Die beiden lächeln sich sofort an, er steckt sein Buch in die braune Tasche und umarmt sie dieses Mal sogar zur Begrüßung. Danach reden die beiden, bis er wieder eine Station vor ihr aussteigt und fragt sie noch in der Bahn nach einem weiteren Date. Sie wünschte, er hätte es nicht getan, denn die Frau mit den Kommentaren ist wieder da und gibt Kommentare ab. Gwyn hat die Schnauze voll von ihr, will sich aber auch nicht mit ihr anlegen. So ist sie einfach nicht. Sie geht Konflikten lieber aus dem Weg und erträgt es einfach über sich, als es noch in die Länge zu ziehen. Am Bahnsteig sieht sie ihre Freundinnen wieder und die vier begrüßen sich. Dann verbringen sie den Tag gemeinsam in der Uni und besuchen ihre Vorlesungen.

Am Abend bringt Gwyn ihre Tochter wieder zu ihren Großeltern. Sie soll heute dort schlafen. Sie hat den ganzen Nachmittag danach gebettelt und da sie sowieso einmal die Woche abgemacht haben, dort zu schlafen und es Gwyn an diesem Tag besonders gut passt, holt sie Nieves aus dem Kindergarten ab und bringt sie zu ihren Großeltern. Gleich darauf trifft sie sich mit Chandler. Die beiden treffen sich an der Bude von Caspar und dieser ist auch immer noch fleißig im Einsatz. Dieses Mal hat Chandler eine Rose in der Hand, um sie damit zu begrüßen. Caspar zwinkert ihr zu, als er die beiden sieht. Die beiden begrüßen sich mit einer Umarmung und schlendern schließlich über den Weihnachtsmarkt. Sie kommen an einen Stand mit Glühwein und Punsch vorbei und bleiben beide sofort stehen.

"Kein Weihnachtsmarktbesuch ohne Kinderpunsch" , sagen die beiden gleichzeitig und müssen beide loslachen, denn sie haben es beide im selben Moment von sich gegeben und hätten damit gerechnet, dass der andere ein Glühwein an den Satz heranhängt.

"Magst du Kinderpunsch auch so gern, wie ich?" , fragt Chandler.

"Ich hasse einfach Glühwein. Ich mag das Zeug gar nicht. Da schmeckt der Kinderpunsch viel besser" , erklärt Gwyn und es stellt sich heraus, dass Chandler ebenfalls keinen Glühwein mag.

"Und, was muss man auf dem Weihnachtsmarkt unbedingt noch probieren?" , fragt sie grinsend, während die beiden den Punsch trinken.

"Gebrannte Mandeln sind ein Muss. Ich mag zwar keine Mandeln, aber gebrannte Mandeln liebe ich seltsamerweise. Außerdem darf natürlich Schmalzgebäck nicht fehlen!"

"Da bin ich dabei" , stellt sie fest und die beiden laufen noch eine weitere Weile über den Markt.

"Und noch Champions mit Soße!" , fügt Chandler hinzu.

"Ne, ich mag gar keine Pilze" , protestiert Gwyn.

"Du magst keine Pilze?"

"Ich würde sagen, es ist eher eine Red Flag dass du Pilze magst" , sagt sie lachend.

"Ich liebe Pilze. Die sind richtig cool. Die haben ganz eigene Ökosysteme beziehungsweise erhalten sie die am Leben. Oder so ähnlich" , versucht er es zu erklären.

"Menschen, die Pilze mögen, sind seltsam"

"Hey! Ich bin sogar einmal als Fliegenpilz zu Fasching gegangen"

"Okay, das ist wieder cool" , sagt sie grinsend und die beiden laufen weiter.

Überall schallen die Weihnachtslieder aus den Buden und irgendwie stört es Gwyn gar nicht. Sie ist in diesem Moment einfach glücklich. Sie kann den Spaziergang über den Markt sogar genießen.

Am Ende des Marktes kommen sie an einen Süßigkeitenstand an.

"SCHOKOLADENÜBERZOGENES OBST", freut sich Gwyn, als sie den Stand entdeckt. "Das ist das, was und noch gefehlt hat!"

"Los, komm" , sagt sie und zieht Chandler zu dem Stand. Die beiden stellen sich an und kommen in sekundenschnelle dran. Es ist ganz anders, als morgens bei Caspar.

"Was willst du?", fragt sie ihn.

"Ich nehme auch die Erdbeeren" , sagt er.

"Okay, zwei mal die Erdbeeren bitte" , sagt sie und will das Geld schon der Verkäuferin geben, als er dazwischenfunkt.

"Warte. Ich will doch noch was anderes." , sagt er.

"Was denn?" , fragt sie.

Doch bevor sie überhaupt reagieren kann, hat er den gesamten Kaufprozess schon abgeschlossen und reicht ihr die Schoko-Erdbeeren.

"Ey, ich wollte bezahlen" , sagt sie protestierend. "Danke"

"Ein Gentlemen bezahlt beim ersten Date" , widerspricht er ihr.

"Das ist aber nicht unser erstes Date" , widerspricht sie.

"Ich wollte dir gerne eine Freude machen" , erklärt er.

"Das hättest du, indem ich bezahlen wollte"

"Beim nächsten Mal darfst du bezahlen, versprochen. Zufrieden?" , fragt er grinsend und die beiden machen sich auf den Weg nach Hause. Dabei essen sie die schokoladenüberzogenen Erdbeeren. Gwyn hat das Gefühl, die Hälfte der Schokolade auf dem Boden zu verlieren, aber die andere Hälfte genießt sie dafür umso mehr. Dieses Mal lässt sie sich von ihm nach Hause bringen. Sie merkt einfach, dass er sie glücklich macht und sie möchte Chandler gerne integrieren, in ihr Leben. Er soll Nieves kennenlernen. Bald. Da ist der erste Schritt, ihr Zuhause zu zeigen.

"Ich bin so weit. Du kannst mich nach Hause bringen" , sagt sie. "Ich glaube jetzt, dass du kein gruseliger Stalker bist" , sagt sie grinsend und die beiden spazieren zu Gwyn.

"Du hast da übrigens was" , sagt er grinsend und zeigt auf ihren rechten Mundwinkel.

"Ist es weg?" , fragt sie.

"Nein" , sagt er grinsend und nun schaut sie ihn ebenfalls genauer an.

"Du hast auch überall um deinen Mund herum Schokolade" , sagt sie lachend und holt zwei Taschentücher aus ihrem Mantel, damit die beiden sich sauber machen können.

"Danke übrigens. Dass du das nicht seltsam findest und mir meine Zeit gelassen hast. Ich bin dir sehr dankbar dafür. Auch, dass du mich so magst, wie ich bin"

"Ich muss dich heute Abend auch nicht wieder küssen. Wir können es langsam angehen, Gwyn. Ich mag dich, wirklich sehr und ich möchte, dass du dich bei mir wohlfühlst. Ich möchte dir ein gutes Gefühl geben und ich hatte Angst. Du hast so seltsam reagiert, als ich dich das letzte Mal geküsst habe. Habe ich etwas falsch gemacht? Woran lag das?" , fragt er nun total verunsichert. Seine Hand fährt andauernd durch die Haare.

"Willst du nicht mit hoch kommen? Ich würde dir etwas zeigen. Dann verstehst du mich vielleicht besser und ich kann es dir erklären" , fragt sie und er nickt. Sie nimmt seine Hand in ihre und die beiden gehen nach oben. Sie ziehen sich die Jacken und Schuhe aus und setzten sich ins Wohnzimmer.

"Möchtest du einen Tee, einen Kakao oder sonst etwas?" , fragt sie ihn, doch er lehnt dankend ab. Sie bringt ihm trotzdem ein Wasser.

"Ich zeige dir jetzt etwas.." , sagt sie vorsichtig und holt eines der alten Fotoalben raus, die sie seit langem nicht mehr herausgeholt hat. Als sie das Buch in die Hand nimmt, wird ihr ganzer Körper schwer und sie könnte schon wieder losheulen.

"Das ist nicht einfach für mich" , stellt sie fest und sagt es Chandler.

"Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, okay?" , fragt er. Sie kann gar nicht glauben, wie verständnisvoll er die ganze Zeit ist, obwohl er ihre Gründe nicht kennt.

"Okay" , sagt sie, atmet noch einmal tief durch und öffnet das Album.

"Das" , sagt sie und zeigt mit zitterndem Finger auf einen jungen Mann, "ist mein Freund" , erklärt sie. Chandler sagt daraufhin gar nichts.

"Er ist tot" , fügt sie gleich darauf hinzu und tatsächlich rollen die ersten Tränen ihre Wangen hinunter. Chandler nimmt sie einfach nur in den Arm und ist da. Er sagt nichts, sondern drückt sie an sich.

"Du musst das nicht tun" , flüstert er schließlich nach einer Weile.

"Ich möchte es aber gerne" , flüstert sie, als sie sich wieder etwas beruhigt hat.

"Das ist mein Freund. Vesco ist Soldat gewesen, wie du sehen kannst. Und dann verliere ich ihn nicht wegen des Krieges, sondern wegen eines beschissenen Flugzeugabsturzes. Er war auf dem Heimweg, Chandler. Er wollte an Weihnachten nach Hause kommen. Es war sein erster gefährlicher Einsatz. Er hat alles überstanden und wollte einfach nur nach Hause kommen" , erklärt sie. "Und dann ist sein Flugzeug auf dem Weg hierher abgestürzt. Ich kann es bis heute kaum glauben. Alle auf diesem Flug, alle sind durchgekommen. Nur er nicht. Er ist sofort gestorben. Er hat ein kleines Kind beschützt" , sagt sie und bricht wieder in Tränen aus. "Deshalb ist er gestorben, weil er ein kleines Kind geschützt hat. Hätte er dies nicht getan, wäre er heute vielleicht noch am Leben" , sagt sie flüsternd.

"Ich wette, er war ein sehr toller Mensch. Du hast dir einen wirklich schönen Menschen ausgesucht"

"Ich werde ihn immer lieben, Chandler. Verstehst du? Immer"

"Und das ist okay. Das ist sogar gut"

"Du kommst damit klar?" , fragt sie.

"Natürlich"

"Er wird immer dein bester Freund bleiben" , stellt Chandler fest und nach diesem Abend weiß sie, dass Chandler der eine ist. Der eine, der all das auffangen kann, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hat. Er ist derjenige, den ihr Freund ausgesucht hat, um auf sie aufzupassen und auf einmal ist alles okay. Sie kann sich auf Chandler einlassen.

"Weißt du was?" , fragt sie ihn.

"Was?" , fragt er.

"Ich würde dich jetzt sehr gerne küssen" , erklärt sie und tut es. Sie drückt ihre Lippen auf seine und auf einmal fühlt es sich gar nicht mehr komisch an. Es fühlt sich richtig an. Verdammt richtig. Nachdem sie sich geküsst haben, schaut Chandler sich die ganzen Alben aus den Jahren der Beziehungen der beiden an und will alles über ihren Freund wissen.

"Ich weiß, dass er da oben auf dich aufpasst" , flüstert Chandler irgendwann und streicht ihr liebevoll durch die Haare. Gwyn erzählt tausend Geschichten über ihren Freund, wie er aussieht, was seine Hobbies und seine Eigenarten waren und die beiden haben jede Menge Spaß zusammen.

"Ich würde gerne eine Kerze für ihn anzünden." , sagt er nach ein paar Stunden, die die beiden gemeinsam über den Menschen, den Gwyn liebt, geredet haben, denn Chandler aber niemals kennenlernen wird.

"Er scheint ein sehr toller Mann gewesen zu sein und leider pflücken wir die schönsten Blumen zuerst. Leider sterben meistens die schönsten Menschen zuerst, auch wenn es ungerecht ist. Ich hätte ihn gerne kennengelernt"

"Auch wenn wir uns dann niemals so nah gekommen wären?"

"Auch dann. Vielleicht wären wir gute Freunde geworden. Aber ich wünschte, du hättest diesen Verlust niemals erleben müssen"

"Danke"

"Wollen wir jetzt einen Film schauen?" , fragt sie nach einer Weile.

"Sehr gerne" , antwortet er. "Welchen denn?"

"Was ist dein Lieblingsweihnachtsfilm?" , fragt er gleich daraufhin.

"Ähm.. Ich glaube, ich habe nicht so wirklich einen" , erklärt Gwyn. "Aber bevor du etwas sagst.. Dash und Lily. Das ist eine Serie, die ich sehr liebe. Sie hat alles, was ich gerne mag. Es ist Weihnachten, es ist in New York und die beiden lieben Bücher. Die habe ich letztes Jahr geschaut und die ist einfach toll. Die hat auch nur sehr wenige Folgen. Wollen wir die vielleicht schauen? Und das nächste Mal zeigst du mir dann deinen Lieblingsweihnachtsfilm?" , fragt er.

"Einverstanden" , sagt sie und schaltet den Fernseher ein.

"Weihnachtsmann und CO KG?" , fragt er grinsend.

Jetzt wäre eigentlich die perfekte Gelegenheit von Nieves zu erzählen, doch sie traut sich nicht. Es läuft gerade alles so gut und sie hat Angst, es mit dieser Nachricht kaputt zu machen. Ein Kind ist dann doch eine heftige Nachricht. Denn das ist immer da. Ein Kind ist unglaublich viel Verantwortung und gerade in so jungen Jahren will man Party machen und all so einen Kram, wo ein Kind eher unpraktisch ist. Sie möchte jetzt erst einmal den Abend genießen. Es war schon genug gewesen, ihm heute von ihrem toten Freund zu erzählen, da muss sie den Abend nicht auch noch damit platzen lassen, dass sie und Vesco ein gemeinsames Kind haben.

"Ich steh dazu" , sagt sie und es ist noch nicht einmal gelogen. Sie schaut die Serie tatsächlich gern.

"Ich lieb die Serie auch" , sagt er dann und setzt sich aufs Sofa unter die Minionsdecke, die darauf liegt. Sie holt noch Obst aus der Küche und kurz darauf sitzen die beiden eingekuschelt, aneinander gelehnt unter der Decke und schälen sich die Mandarinen. Nach drei Folgen sind beide eingeschlafen.

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