14. Dezember
Am Morgen wacht Gwyn auf und hat sofort ein Lächeln auf dem Gesicht, denn sie hat eine Nachricht von ihm. Noch nicht einmal ihre Verspätung kann ihr heute den Tag versauen. Sie läuft den ganzen morgen singend umher und kann gar nicht mehr mit dem Grinsen aufhören. Sie hat Nieves gestern noch abgeholt und Oma Bente und Opa Talin scheinen sie völlig fertig gemacht zu haben, denn sie schlummert immer noch friedlich in ihrem Bett. Zum Glück hat Gwyn sich einen Wecker gestellt, denn Kinder sind eben doch nicht immer ein guter und zuverlässiger Wecker. Sie geht in die Küche, schaut in das Album und baut den Elfen auf. Ihre gute Stimmung bekommt einen Trüber, als sie in das Album sieht, denn sie fühlt sich sofort schuldig, weil sie so glücklich ist. Wegen jemand anderem als ihm.
Im nächsten Moment kommt Nieves in die Küche und sieht den Elfen, der Blödsinn macht. Sie freut sich total darüber und setzt sich dann an die Theke. Das zaubert Gwyn kurzzeitig wieder ein Lächeln ins Gesicht, doch wenn sie den Elfen so ansieht, denkt sie, dass er anklagend schaut. Sie kann ihn einfach nicht vergessen. Er wird für immer einen großen Platz in ihrem Herzen haben. Die beiden essen gemeinsam Frühstück. Beide ein Toast mit Bauernhofkäse. Gwyn muss den Hund essen, damit Nieves die Kuh haben kann. Danach machen sie sich auf den Weg in den Kindergarten, doch Gwyn muss den ganzen Weg bis zu Caspar an ihren Freund denken. Auch als sie bei Caspar ankommt und das Ritual der beiden vollführt, fühlt sie sich kein Stück besser. Sie kauft eine Zimtschnecke und einen Kaffee und ist nicht zu spät dran. Noch nicht. Als sie bei Caspar ankommt, verwickelt dieser sie gleich in ein Gespräch.
"Hey, du siehst gar nicht gut aus. Was ist denn mit dir passiert?" , fragt er. Sie ist heute nicht geschminkt und sieht vermutlich grausam aus. Auch wenn sie oft ungeschminkt aus dem Haus geht, sieht sie heute fertig aus. Sie hat in der Nacht kaum geschlafen, weil sie zu aufgedreht war und nun am Morgen kam dieser Trübsinn dazu.
"Willst du darüber reden?" , fragt der alte Mann gleich darauf, als er ihr ihre Zimtschnecke reicht.
"Ich weiß nicht so recht" , gibt sie zu.
"Wenn du reden möchtest, dann bin ich heute Nachmittag hier und wir verbringen einen ganzen ruhigen Nachmittag zusammen. Ich gehe für dich auch freiwillig in den Schönheitssalon" , sagt er und das lockt ein Lächeln aus Gwyn heraus. Sie ist eigentlich nicht so der Salon- Mensch, aber allein um Caspar dort zu sehen, würde es sich schon lohnen, dort hinzugehen.
"Ich überlege es mir" , sagt sie grinsend und verabschiedet sich. Caspar hebt einfach immer ihre Stimmung. Sie beißt in die Zimtschnecke und sie hat das Gefühl, sie schmecken noch besser als sonst. Danach hat sie etwas bessere Laune und steigt in die Bahn ein, wo auch schon Chandler sitzt und in seinem dicken Buch liest. Es ist ein anderes, als die letzten Wochen. Das sieht sie an der Farbe und dieses Mal ist es auch relativ dünn. Ungewöhnlich für die Bücher, die Chandler bisher gelesen hat. Er schaut hoch, als sie einsteigt und winkt ihr, schaut dann aber wieder in sein Buch zurück. Es verunsichert sie, dass er dies tut, auch wenn er sie gestern geküsst hat. Erst recht verunsichert sie es nachdem er sie gestern geküsst hat und heute morgen diese Nachricht geschrieben hat. Sie starrt ihn immer noch an. Die Türen haben sich inzwischen schon geschlossen und die Bahn ist losgefahren. Sie kann sich einfach nicht durchringen, zu ihm zu gehen, obwohl der Platz neben ihm frei ist. Er schaut nun jedoch noch einmal auf und erwischt sie, wie sie ihn schon wieder anstarrt. Die Frau, die immer blöde Kommentare bringt, ist heute zum Glück nicht in der Bahn. Sie hätte sonst bestimmt wieder etwas gesagt. Er winkt sie nun zu sich und sie setzt sich schüchtern neben ihn.
"Warum bist du denn nicht gleich zu mir gekommen?" , fragt er sie.
"Ich wollte dich nicht stören" , gibt sie zu.
"Du störst nie" , gibt er zurück und verschränkt tatsächlich seine Hand mit ihrer und ihr Herz macht schon wieder Rückwärtssaltos. Sie kann es einfach nicht glauben. Auf einmal ist ihre Welt wieder gerade gerückt.
"Was liest du eigentlich?" , fragt sie. Das Buch hatte er immer noch auf dem Schoss liegen, als ob er jede Sekunde weiterlesen würde. Wird allerdings nichts, mit nur einer Hand zur Verfügung.
"Carrie von Stephen King" , erklärt er.
"Oh. Echt? Davon habe ich Mal ein Musical gesehen" , antwortet sie.
"Echt? Und, wie war es?" , fragt er.
"Es war richtig gut. Ich fands Hammer. Das Buch habe ich aber noch nie gelesen"
"Ich mag es richtig gerne. Aber ich lese auch alles von dem Meister des Horror" , erklärt er.
"Magst du dann auch Horrorfilme?"
"Nein. Ich kann die Geräusche nicht ab" , erklärt er. "Die finde ich am schlimmsten. Bücher finde ich dabei irgendwie nicht so schlimm"
"Verstehe", gibt sie lächelnd zurück und schaut sich noch einmal ihre ineinander verschränkten Finger an. Sie könnte nicht glücklicher sein. Die beiden kommen an der Station an, an der er immer aussteigt.
"Ich muss jetzt raus" , erklärt er.
"Aber du gehst doch auf die gleiche Uni?" , fragt sie.
"Ja" , gibt er zurück.
"Magst du nicht noch eine Station mit mir fahren?" , fragt sie flehend.
"Ich glaube, von hier ist es kürzer. So hat es mir zumindest die App angezeigt" , sagt er und hält sein Handy in die Höhe. Er grinst, gibt ihr einen Kuss auf die rechte Wange und steigt schließlich grinsend aus. Am liebsten wäre sie mit ihm ausgestiegen, um noch eine Weile Zeit mit ihm zu verbringen, aber sie ist mit ihren Freundinnen verabredet und diese warten auf sie. Sie kann ihnen keine Nachricht schreiben, weil sie heute Nacht vergessen hat, ihr Handy an die Ladestation zu stöpseln und sie wollte auch nicht zu aufdringlich sein. Sie weiß nicht, was Chandler und sie füreinander sind. Immerhin hatten die beiden erst zwei Dates. Und auch wenn es gut lief, kann man nie wissen, was da noch folgt. Sie will keine überstürzte Beziehung eingehen. Nicht, nachdem, was passiert ist und auch nicht wegen Nieves. Sie will es langsam angehen lassen, auch wenn sie schon lange niemand mehr das hat fühlen lassen, was Chandler mit ihr macht. Er ist mindestens genauso witzig, wie der aus der Serie und hat auch sonst einen tollen Charakter. Er ist klug und zum Bonus obendrauf sieht er auch noch gut aus. In der Uni passieren keine aufregenden Sachen. Am Nachmittag treffen ihre Freundinnen und sie sich in ihrem Lieblingscafe und wollen gemeinsam Lernen. Inzwischen ist Gwyn durch ihre gemeinsamen Lernsessions an den Wochenenden mit Chandler echt gut vorangekommen und hat die Mädels beinahe aufgeholt. Es wären nur noch ein paar wenige Tage, bis sie ihre Prüfungen schreiben. Die Dozenten müssen auch wirklich immer alles auf einmal schreiben lassen. Immer vor Weihnachten, wo man nicht sowieso viel wichtigere Sachen zutun hat. Ihre Großeltern nehmen ihr schon echt eine Menge ab und trotzdem ist es oft noch schwierig. Heute hat sie Nieves länger im Kindergarten bleiben lassen. Zum Glück fühlt diese sich inzwischen so wohl dort. Sie schreiben noch schnell die letzten Karteikarten und machen sich einen Lernplan, für die nächsten Tage, sodass sie bis zum dreiundzwanzigsten Dezember alles haben. Gwyn wird noch die eine oder andere Session einbauen, aber sie ist sicher, dass ihre Freundinnen, ihre Familie und Chandler sie da unterstützen werden.
Die Freundinnen fragen sich gerade ab, als die Jungs in das Cafe kommen. Aubin gibt Donatella einen Kuss auf den Mund und die anderen setzen sich ohne Kommentare neben die anderen Mädels. Gwyn kann es noch gar nicht glauben, dass jede ihrer Freundinnen sich einen der Kerle ausgesucht hat und sie sich gegenseitig mögen. Das gibts doch sonst nur in Büchern, aber nicht im wahren Leben! Es würde bestimmt noch irgend ein Drama geben.
"Seit ihr jetzt zusammen, so offiziell?", fragt Fiamma ihre Freundin und Aubin grinsend. Aubin zuckt leicht mit den Schultern, doch Donatella grinst über beide Ohren.
"Ja! Ich halte es ohne meinen Aubie-Schatz nicht mehr aus. Keine einzelne Sekunde" , schwärmt sie und man sieht Aubin an, dass er am liebsten im Boden versinken würde.
"Du kannst doch nicht diesen peinlichen Spitznamen herausposaunen" , wispert er Donatella zu, sodass es trotzdem alle hören können.
"Tut mir Leid, Aubie-Bär" , sagt sie mit einem noch breiteren Grinsen im Gesicht. So ist sie einfach, unsere Donatella.
"Soll ich uns allen noch ein Kaffee besorgen?" , fragt Chandler und steht schon.
"Ja, bitte. Das kann ich dringend gebrauchen" , gibt Gwyn zu. Sie braucht diesen Energieschub, wenn sie noch weiter diesen ganzen Mist in sich hineinschaufeln soll. Eigentlich liebt sie ihr Medizinstudium und mag es auch zu lernen, aber irgendwann ist dann auch Mal genug. Es ist wirklich sehr viel Stoff. Allein schon Anatomie- Bewegungsapparat war eine Menge Stoff und das ist nicht das einzige Fach, welches sie schreiben muss. Da kommen noch mindestens sieben andere Fächer dazu. Nach ein paar Minuten kommt Chandler mit ein paar extragroßen Kaffees zurück. Diese Stärkung haben sie alle gebraucht. Den restlichen Nachmittag verbringen die Freunde noch zusammen. Aubin erzählt schlechte Witze, über die nur Donatella lachen kann, aber es ist ein lustiger, lernerfolgreicher Nachmittag.
Als es schon langsam dunkel wird, muss Gwyn Nieves abholen. Sie macht sich langsam auf den Weg, doch Chandler will sie schon wieder nach Hause begleiten.
"Das geht nicht" , versucht sie ihm zu erklären, doch er will es in den ersten Momenten einfach nicht verstehen. Sie kann es ihm nicht erklären. Noch nicht.
"Ich kann es dir noch nicht erklären. Noch nicht. Ich habe Angst davor, okay? Vor deiner Reaktion", gibt sie zu.
"Wovor?" , fragt er.
"Wie du reagieren wirst"
"Wo wohnst du denn? Du kannst ja nicht in einem Schuhkarton wohnen. Und selbst wenn. Es wäre mir egal" , erklärt er.
"Ich wäre mir nicht so sicher, ob es dir so egal ist" , erklärt sie.
"Okay, dann lasse ich dich gehen" , sagt er und in seiner Stimme klingt etwas Trauer mit. Sie ist aber froh, dass er sich darauf eingelassen hat und wirklich bei den anderen sitzen bleibt. Sie gehen lässt, ohne groß zu protestieren oder sie weiterhin mit Fragen zu löchern. Sie holt sich ihren Mantel von der Garderobe.
"Du wirst es erfahren. Ich verspreche es dir" , verspricht sie und macht sich auf den Weg, um Nieves zu holen. Chandler setzt sich zu den anderen an den Tisch und trinkt Gwyn Kaffee aus, bei dem sie noch etwas übrig gelassen hat, weil seiner alle ist.
"Warum darf ich sie nie nach Hause bringen?" , fragt er ihre Freundinnen.
"Das musst du sie schon selbst fragen" , erklärt Tindra schnell, bevor eine andere Freundin antworten kann.
"Wir möchten es ihr nicht vorweg nehmen, wenn du es noch nicht von ihr erfahren hast" , erklärt sie.
"Ihr wisst es alle?" , fragt er. Die drei nicken.
"Aber es kann doch nicht so schlimm sein" , versucht er etwas herauszufinden.
"Du musst darauf warten, dass sie es dir sagt" , erläutert Fiamma.
Es lässt ihm einfach keine Ruhe. Gwyn hat ein Geheimnis und er will es wissen. Er kann sich nicht vorstellen, dass da etwas ist, was ihn belasten sollte. Er will ihr aber auch nicht nachspionieren. Das wäre unhöflich. Er will, dass sie genug Vertrauen aufbaut, um es ihm von alleine zu sagen. Er würde sich gedulden müssen.
Gwyn macht sich auf den Weg, um Nieves abzuholen. Ihr ist bewusst, dass er sie jederzeit in der Stadt stehen könnte. Dann wäre es eben so. Aber es ist noch nicht an der Zeit. Als sie gerade auf dem Weg vom Cafe zum Kindergarten ist, fällt ihr auf, dass Caspar ihr das Gespräch angeboten hatte und sie hatte sich gar nicht mehr gemeldet. Sie ist eine schlechte Freundin. Sie würde ihm Zuhause direkt eine SMS schicken, denn sie hat immer noch keinen Akku. Sie holt Nieves ab, verfrachtet sie vor den Fernseher, um eine Folge Weihnachtsmann und CO KG zu schauen, welches sie gar nicht mehr abwarten kann, stöpselt das Handy in die Steckdose und schreibt Caspar sofort. Danach macht sie Nieves und sich kleine Schnitten zum Abendbrot mit Gewürzgurken und ein paar Tomaten und setzt sich dann gemeinsam vor den Fernseher, um noch eine Folge Kindheit zu erben. Das braucht sie heute einfach. Das haben sie auch jedes Jahr gemacht. Gemeinsam diese Serie geschaut. Normalerweise essen die beiden in der Küche und nur ganz selten vor dem Fernseher, aber so ne Schnitte konnte man schon mal so essen. Sie braucht das heute einfach, denn am schlimmsten sind die Zeiten, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, wenn es am meisten auffällt. Wie zur Weihnachtszeit oder an Geburtstagen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top