1. Dezember

Gwyneira ist heute schon um sechs aufgestanden und trotzdem schon im Zeitdruck. Zeitmangegement ist einfach nicht ihr Ding. Sie hasst es, früh aufzustehen. Doch wenn man eine kleine Tochter hat, muss man dies in Kauf nehmen. Nieves springt in aller Frühe auf Gwyns Bett herum, sodass diese nicht mehr an Schlaf denken kann.

"Mama, Mama. Aufwachen. Wach endlich auf. Es schneit" , ruft sie ganz aufgeregt.Gwyn zieht sich die Decke direkt wieder über das Gesicht, doch Nieves gibt nicht auf. Sie zerrt Gwyn aus dem Bett und die beiden müssen sofort eine Schneeballschlacht starten, denn es schneit das erste Mal in Lenancia, in diesem Jahr.

Nach der Schneeballschlacht sind die beiden so durchgefroren, dass sie noch einmal ins Bett kriechen und sich unter die Decke kuscheln. Bis es zu spät ist.

"Niv, Nivie. Wir kommen zu spät. Beeil dich bitte" , sagt Gwyn und zieht ihre kleine Tochter mit sich mit, die sie an der rechten Hand hält. Niv sieht aus wie ein kleiner Marshamallow. Sie hat eine dicke, rosane Daunenjacke an, die sie fast verschluckt. Die hat sie sich letzten Winter selbst ausgesucht. Die beiden sind viel zu spät dran. Wahrscheinlich wird Gwyn schon wieder zu spät zu ihrer Vorlesung kommen- was keinen guten EIndruck hinterlässt. Der Professor aus dem Seminar hat sie sowieso schon auf dem Kiecker. Sie kann einfach nicht jeden Tag zu spät kommen. ALs Nieves jedoch keine Anstalten macht, sich ein wenig zu beeilen, sondern bei jeder weiteren Schneeflocke, die vom Himmel fällt, nach oben schaut, zieht Gwyn einen Schlussstrich und nimmt sie einfach auf den Arm. Nieves ignoriert sie völlig. Es ist ihr egal, denn die Schneeflocken sind viel interessanter. Auch auf Gwyns Arm schaut Nieves in den Himmel. Sie ist ziemlich fasziniert von dem Schnee, denn dieses Jahr ist das erste, seitdem sie auf der Welt ist, dass es schneit. Nieves kennt den Schnee nur aus Filmen und ist völlig aus dem Häuschen, als es schneit. Heute morgen haben die beiden schon Fotos gemacht. Schließlich will Gwyn jedes einzelne Erste Mal mit ihrer Tochter festhalten. Sie macht selbst Fotoalben, seit Gwyn auf der Welt ist. Von jedem der letzten drei Jahre hat sie eines. Das vierte Jahr bastelt sie gerade, denn es kommen stetig neue Fotos hinzu.Die beiden kommen nach einer Weile am Kindergarten an.

"Oh, sie schon hier?" , fragt die Erzieherin neckisch. Gwyn und sie sind ungefähr im gleichen Alter und verstehen sich ziemlich gut. Die Erzieherin kennt Gwyns Unpünktlichkeit. Gwyn schaut auf die Uhr.

"Scheiße" , murmelt sie vor sich hin. Sie ist viel zu spät.

"Mama, das sagt man nicht" , gibt Nieves ihren Senf dazu.

"Ich hole dich später ab, Süße, ja? Hab einen schönen Tag" , veranschidet Gwyn sich von ihrer Tochter, lässt sie herunter und gibt ihr ein Küsschen auf die Stirn. Inzwischen mag Nieves es im Kindergarten. Die Eingewöhnung vor einem Jahr war die Hölle. Inzwischen muss Gwyn nachmittags sogar manchmal warten, bis sie Nieves mit nach Hause nehmen kann, weil diese noch seelenruhig im Sandkasten spielt und nicht mit nach Hause will.

"Tschüß", sagt Nieves freudestrahlend und tapst schon mit ihren Hausschuhen um die Ecke und ist verschwunden. Gleich darauf beginnt Gwyn zu rennen. Wenn sie sich noch ihren Kaffee und ihre Zimtschnecke holen will, muss sie ein bisschen Zeit wieder reinholen. Es ist eine Tradition im Dezember, die sie nicht brechen will. Eine gute Sache muss bleiben, wenn sie das meiste an der Weihnachtszeit einfach nur wehtut.

Sie kommt völlig außer Atem bei ihrem Lieblingsstand an, der auf dem Weihanchtsmarkt ist. Sie ist erleichtert, als sie sieht das bei Caspar kaum jemand in der Schlange steht. Eigentlich wissen alle Bewohner Lenancias, dass Caspar den besten Kaffee zubereitet, doch heute scheint nur wenig los zu sein.

"Gwyneira, schön dich Mal wieder zu sehen. Wie geht es dir?" , fragt Caspar direkt. Sie kommt jedes Jahr im Dezember an jedem Tag des Monats zu ihm. Die beiden haben sich in all den Jahren, seitdem Gwyn Kaffee trinkt und in dieser Stadt wohnt, ein wenig angefreundet. Hier kennt jeder jeden und es ist auch schwieriger, wenn man sich nicht mit allen versteht. Gwyn reicht Caspar ihren Kaffeebecher von Zuhause, den sie einmal von ihrer Tochter geschenkt bekommen hat. Sie hat ihn selbst bemalt und Gwyn liebt ihn abgöttisch, genauso wie sie Nieves liebt. Sie hat ihn gemeinsam mit Caspar bemalt und Gwyn verlässt morgens niemals das Haus ohne ihn. Bei Caspar dürfen alle ihre eigenen Becher mitbringen. Er achtet sehr auf die Umwelt und möchte keine Pappbecher verkaufen. Alle Bewohner halten sich daran. Hat man Mal keinen da, verkauft Caspar dir einen wiederverwendbaren Kaffeebecher, den du dann das nächste Mal mitbringen kannst. Gwyn hat auch schon einige Zuhause oder verschenkt sie an andere Menschen, denn sie liebt diese Becher einfach. Caspar hat unglaublich viel künstlerisches Talent und hat alle diese Becher selbst gestaltet, weshalb Gwyn manchmal einfach nicht wiederstehen konnte, noch einen weiteren Becher zu kaufen.

"Könnte besser sein. Aber man muss sich ja schließlich durchschlagen" , antwortet sie ehrlich.

"Da hast du wohl recht" , lacht der alte Mann und gibt ihr ihren wohl verdienten Kaffee und die Zimtschnecke.

"Danke" , sagt sie und verabschiedet sich wieder. Nun muss sie nur noch die Bahn bekommen. Eigentlich hat sie die Zeit vorhin mit dem Sprint wieder hereingeholt, doch nun hat sie eine Weile mit Caspar geredet und liegt wieder hinter ihrem Zeitplan. Sie steckt die Zimtschnecke erst eimmal in ihre Tasche, denn das wird nichts mit dem gemütlichen Essen und prüft noch einmal, ob der Deckel des Kaffeebechers wirklich zu ist. Dann rennt sie weiter zur Bahn. Sie kommt gerade an, als die Bahn die Türen schließt. Sie traut sich nicht, sich dazwischen zu quetschen, wie andere Personen dies tun. Bei manchen Bahnen scheinen die Türen einfach wieder auf zu gehen, doch schon so einige Bahn hat einen Menschen zerquetscht. Zumal sie keine Lust hat, vom Bahnfahrer angemotzt zu werden. Das ist auch schon einige Male über die Lautsprecheranlage passiert. Als sie gerade stehen bleibt und auf die nächste Bahn warten will - sodass sie auf jeden Fall zu spät kommen würde - öffnet sich die Tür wieder und ein junger Mann grinst ihr entgegen. Sie schaut ihn völlig geschockt, mit großen Augen an.

"Alles okay? Kommen Sie herein" , sagt er und sie kann sich wieder beruhigen. Er ist es nicht.

"Danke, ja." , sagt sie und senkt den Kopf. Es ist ihr unangenehm. Sie muss ihn regelrecht angestarrt haben. Aber die beiden sehen sich so unglaublich ähnlich. Die beiden stehen die ganze Fahrt gegenüber voneinander. Sie kann nicht anders, als ihn immer wieder anzuschauen. Sie kann es nicht glauben. Im ersten Moment könnte man wirklich denken, die beiden wären ein und dieselbe Person. Doch wenn man den jungen Mann länger betrachtet, sieht man die Unterschiede. Zum Glück hat er ein Buch in der Hand, in dem er liest, sodass er ihr Starren zumindest nicht gleich bemerkt. Sie hofft, dass er zumindest so sehr in seiner Geschichte versunken ist, dass er sie überhaupt nicht bemerkt, doch sie kann ihren Blick einfach nicht von ihm abwenden. Die anderen Menschen müssen sie für eine Irre halten, doch das ist ihr egal. Die meisten wird sie eh nie wieder sehen. Als er aufschaut, blickt sie schnell woanders hin. Sie ist sich nicht sicher, ob er weiß, das sie ihn die ganze Zeit anschaut, doch als sie ihn wieder ansieht, hat er ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. Verdammt, er hat sie ganz bestimmt wahrgenommen und ihr dämliches Anstarren auch. Wenigstens weiß er nicht, weshalb sie ihn anstarrt. Wahrscheinlich ist er ein arroganter Arsch und denkt, sie hätte ihn angstarrt, weil sie ihn so heiß findet. Wobei, schön ist er allemal. Das kann man nicht verleugnen. Er hat braune Haare, die sich ein wenig locken. Gwyn liebt Locken. Er hat sie hochgegelt, aber nicht zu viel Gel verwendet. Es sieht gut aus. Seine Augenfarbe kann sie nicht erkennen, weil diese nach unten gerichtet sind, um in dem Buch zu lesen. Nun mustert Gwyn seine Klamotten. Er hat eine blaue Jeans an und eine braune Cordjacke, ebenso wie braune Stiefel. Ihre Freunde machen sich oft über sie lustig, weil sie sich die Klamotten von anderen Menschen so genau ansieht.

Nach einer Weile, die sie ihn immernoch anschaut, immer mal wieder, möglichst unauffällig, schlägt er auf einmal das Buch zu und es ist sehr, sehr laut. Sie erschrickt total und zuckt zusammen. Sie hätte schwören können, dass er nun wieder in sich hineingrinst. Er tut das Buch in eine braune Tasche und holt eine weiße Mütze raus und zieht sie sich auf den Kopf. Die Locken schauen vorne noch etwas heraus. Gwyn kann schwören, dass er nun fast noch besser aussieht, als vorher. Als er aussteigt, schaut er Gwyn an und zwinkert ihr zu. Sie muss den Kopf schüttelt und die Augen reiben. Hat er das gerade wirklich getan?

"Ja, Süße. Er hat dir zugezwinkert" , sagt eine Dame, die eine wirklich tiefe Raucherstimme hat.

"Aber du hast ja auch echt gestarrt" , sagt die Frau und Gwyn hört eindeutig das Grinsen in der Stimme heraus. Verdammt, es ist also doch aufgefallen. Und sogar ihm. Er war wohl scheinbar doch nicht so sehr versunken in dem Buch, welches er gelesen hat. Gwyn ist all dies super unangenehm, denn alle Menschen im Umkreis haben den Kommentar der Frau mitbekommen und grinsen in sich hinein. Zum Glück muss sie die nächste Station aussteigen und so muss sie die ganzen grinsenden Menschen nur eine Station ohne den Mann ertragen, den sie angestarrt hat. Sie steigt aus und holt nun endlich ihre Zimtschnecke heraus, die sie völlig vergessen hatte. Der Kaffee ist inzwischen auch schon kalt geworden und schmeckt nicht mehr. Sie war zu sehr mit anstarren beschäftigt und ärgert sich nun über sich selbst. Sie hat einfach die Tradition am ersten Tag, die sie sie alleine erfüllen muss, verhauen. Sie hasst sich und würde am liebsten irgendetwas kaputt machen. Sie ist kurz davor, loszuweinen, als zum Glück eine ihrer Freundinnen um die Ecke kommt und sie es somit wieder hinten anschiebt. Sie hat kein Bock in aller Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen. Heute hat sie schon genug unangenehme Momente gesammelt.

"Hey, wie gehts dir?" , fragt Donatella sie. Donatella ist die gesprächigste und direkteste in ihrer kleinen Vierergruppe. Gwyn hatte sich schon immer solch eine Mädelsgruppe gewünscht, denn damals in der Schule war sie immer die Außenseiterin gewesen. Im Studium hat sie nun endlich ihre Truppe gefunden und könnte nicht glücklicher sein. Die drei Freundinnen sind einfach die besten. Bevor sie die Frage beantworten kann, kommen auch Tindra und Fiamma um die Ecke und begrüßen die beiden mit einer innigen Umarmung.

"Und, habt ihr Bock auf den Bewegungsapparat?" , fragt Tindra und tut so, als wenn sie mit einem Skelett tanzen würde. Im ersten Semster haben die vier sich einen Spaß gemacht und lustige Fotos mit einem der Skellette gemacht. Inzwischen haben sie alle selbst eines Zuhause. Die Skelette haben alle Namen ihrer Dozenten bekommen. Gwyns heißt Ulli.

"Heute ist der aktive Bewegungsapparat dran" , gibt Donatella ihren Senf hinzu. "Darf ich mal abbeißen?" , fragt sie nun, als sie Gwyns Zimtschnecke wahrnimmt. Die anderen wollen auch was abhaben und schon ist auch diese weg. Sie hat kaum etwas abbekommen. Morgen muss sie das definitiv anders regeln. Sie kann ihn einfach nicht enttäuschen. Die drei quatschen auf dem Weg zur Uni noch über Jungs, Gott und die Welt, doch Gwyn ist mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Sie ist völlig ferngesteuert und merkt gar nicht, dass sie inzwischen angekommen ist und die anderen sich schon gesetzt haben.

"Komm, setzt dich, Gwyn" , sagt Tindra und täschelt auf den Platz neben sich.

"Was?" , fragt diese verdattert.

"Alles okay?" , fragt sie.

"Ja" , sagt Gwyn lächelnd und setzt sich. Nun muss sie voll da sein, aufpassen und mitschreiben, denn sie muss dieses Studium rocken. Sie liebt es, aber es ist auch super zeitaufwendig und anstregend. Nachdem sie den Tag überstanden haben, verabschiedet Gwyn sich von ihren Freundinnen und fährt nach Hause. Auf dem Rückweg sieht sie zum Glück niemanden mehr von heute morgen und setzt sich auf einen der Sitze. Sie hat heut etwas früher Schluss bekommen und umfährt so den Feierabendtrubel. Sie holt Nieves aus dem Kindergarten ab, kocht sich und Nieves noch etwas und dann geht es für die Kleine schon ins Bett. Jeden Abend wird noch etwas vorgelesen. Zur Weihnachtszeit ist es immer, jedes Jahr aufs Neue "Ein kleines Weihnachtswunder". Nieves liebt diese Geschichte einfach viel zu sehr. Gwyn macht sie nur traurig. Trotzdem liest sie sie ihr vor, weil sie weiß, dass es ihre Tochter glücklich macht und sie dabei seelenruhig einschläft. Nachdem sie die Hälfte gelesen hat, ist Nieves schon im Land der Träume. Gwyn deckt sie noch einmal ordentlich zu, gibt ihr einen Gute Nacht Kuss und setzt sich aufs Sofa, wo sich all der Balast des Tages schließlich den Weg nach draußen sucht und sie bitterlich anfängt zu weinen.

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