|| Fronten.
Der Krieg stand still. Die Kanonen waren verstummt, der Feind auf Distanz, die Lage angespannt und doch so ruhig. Auf Belgiens Boden, an der Westfront, ackerten wir jetzt Tag und Nacht, während uns die Dezemberkälte unter die Knochen fuhr. Wir alle sehnten uns nach Frieden, so undurchdringlich und hart unsere Mienen auch waren, und wir hofften, dass diese Taktik ihn uns ermöglichen könnte. Denn die Tage wollte ich langsam nicht mehr zählen, und die Beschwichtigungen der Offiziere, in wenigen Wochen sei es vorbei, nicht mehr hören. Ich wusste nicht, ob sie diesen Unfug selbst noch glaubten nach all der Zeit, die vergangen und dem Schlieffenplan, der mit Pauken und Trompeten gescheitert war; aber falls doch, fragte ich mich, ob solche Wahnsinnigen einen Krieg führen sollten.
So schufen wir uns binnen weniger Wochen einen Graben aus brauner, feuchter Erde, der so eng war, dass man kaum aneinander vorbeigehen konnte. Er reichte uns genau bis zu den Köpfen, nur die Gewehre lugten heraus, wenn wir sie schulterten. Meine Stiefel würgten gurgelnde Laute hervor, die Ratten- unsere stetigen Begleiter, die kein Granatenregen erschütterte- huschten vor unseren Füßen davon, und ein Trost waren die eingelassenen Nischen, in denen man schlafen konnte, wenn man sich zusammenrollte, auch nicht.
Die zickzackförmigen Schützengräben sollten uns vor den britischen Waffen verstecken und es uns ermöglichen, abseits des feindlichen Visiers Munition, Verpflegung und Verletzte zu transportieren. In der Praxis war so viel Abwechslung jedoch nicht geboten.
Nachdem wir die verwinkelten Gassen in die Erde gelassen hatten, hieß es vor allem eins: Warten. Tag ein, Tag aus hockten wir auf unseren Positionen, wartend auf irgendeinen Angriff, und ließen die Kälte des Winters unter unsere Kleider sickern. Wer schwatzte, wurde von den Offizieren angebellt. Ich glaube, dass sie das auch taten, um Lästereien zu unterbinden. Damit niemand eine Gelegenheit bekam, sich über diesen unsinnigen Krieg zu beklagen, der an unseren Nerven und Leibern zerrte.
Doch wie erwartet stagnierte das Geschehen. Ab und an tauschten wir vereinzelte Schüsse aus und auf dem Schlachtfeld lag plötzlich mal ein toter Soldat, aber auch der Gegner hatte sich verschanzt und so wagte es niemand, ein offenes Feuer anzuzetteln. Wir warteten und warteten, schrieben Briefe an Zuhause und aßen brav unsere Mahlzeiten, die aus dünner, fader Suppe bestanden. Wenn ich alles davon heruntergespült hatte, war ich nicht gesättigter als zuvor. Mehr als das Nötigste gab man uns nicht, denn wir waren auch nur Munition wie die Kugeln in unseren Gewehren.
Ich verlor mein Hunger- und Zeitgefühl, die Wochen verstrichen, der Winter kam, die Schneeflocken trudelten, ein grauer Schleier. In den Kriegsberichten war oft die Rede von ,,Im Westen nichts Neues". Müdigkeit.
Ein kleiner Trost war das Schließen neuer Bekanntschaften, insbesondere der mit einem noch recht frischen Soldaten. Er war ein paar Jahre jünger als ich, wir patrouillierten oft auf einer Linie und gerieten dadurch aneinander. Er fiel durch seinen kupferroten Schopf und spitz zulaufenden Bart auf. Wenn wir aneinander vorbeitrampelten oder ich ihn an einer Ecke entdeckte, lächelten wir uns an.
Er lächelte wie kein Zweiter. Bei den Speisungen führten wir gelegentlich karge Unterhaltungen, und dann war ich wenigstens kurz abgelenkt von all der Tristheit um uns, in uns.
Außerhalb dieser Stunden konnte ich mich ihm nicht nähern. Die Soldaten stauten sich in den engen Gassen unseres schützenden Irrgartens und standen stramm. Wer außenherum lief, war dank der Briten direkt ein Toter, und manchmal- wenn selbst er so in sich verloren schien, dass er mir nicht zulächelte, mir nicht winkte, mich nicht einmal bemerkte- dachte ich mir, dass es vielleicht das leichtere Schicksal wäre.
Bei Regen liefen die Gräben voll und brachen ein. Dann mussten wir sie neu ausheben, und das nahm länger in Anspruch, als sie dann hielten. Die Böden trockneten nicht mehr, genau wie unsere Uniformen, Januar und Februar schienen niemals passieren zu wollen.
Das Schlimmste war es, wenn wir bei den Bauarbeiten Ertrunkene aus dem Matsch fischten, sie waren eingegipst wie Mumien. Für sie war der Graben zum Grab geworden. Und mit jedem versteinerten Soldaten, den ich erblickte, von denen wir die meisten nicht einmal identifizieren konnten, splitterte ein weiteres Stück meiner Hoffnung.
Wenn ich mich in die schmalen Nischen legte, um in einen unruhigen Schlaf zu stolpern, träumte ich manchmal davon, wie sie über mir einstürzten und mich unter einem Gemisch aus eisigem Wasser und Schlamm erstickten. Bald träumte ich nur noch davon, auch die letzte schöne Erinnerung, die ich mit in den Schlaf hätte tragen können, war verblasst. Sterben, sterben, sterben. An jedem zweiten Morgen wachte ich auf und wusste nicht, ob ich wirklich tot war oder es mir nur zusammengesponnen hatte- vermutlich, weil ich mir keine schlimmere Hölle vorstellen könnte als dieses aussichtslose Labyrinth.
Wir froren, wir froren entsetzlich, dass es so kommen würde, hatte man uns vorher nicht erzählt. Die Briten schauten jetzt öfter vorbei, manchmal erwischten wir einen Späher wie eine der gierigen Ratten, deren Anzahl sich mittlerweile verdoppelt und verdreifacht hatte. Sie heckten wohl etwas aus, und daher töteten wir sie ohne Umschweife. Ich hätte den erschossenen Männern gerne die Köpfe abgeschlagen, sie zerstückelt, bis ich keinen mehr sehen musste, aber mir war bewusst, dass sie auch nicht die volle Verantwortung für dieses Elend trugen.
Inzwischen war es mir nicht mehr wichtig, wie die nächste bahnbrechende Strategie, der nächste Befehl und der nächste Appell an unsere Liebe zum Vaterland lauteten. Ich hätte gern gelogen, dass es anders war, aber ich hatte endgültig meinen Sinn verloren.
Die Suppen nährten uns nicht mehr, meine Stiefel waren durchgehend nass und glitschig wie Algen, die Wiesen tauten nicht mehr auf und unsere Herzen ebenfalls nicht. Ich wollte nach Hause, in eine warme Stube zurückkehren, und für immer vergessen, was hier geschehen war. Ich wollte jeden Offizier des Kaiserreichs, wo sie sich in Europa gerade alle breitmachen und ihre stupiden Befehle brüllen mochten, im Nacken packen und durchschütteln, bis ihnen klar wurde, wo sie uns hineinritten.
Deutschland fuhr wie ein Dampfer auf einen Eisberg zu.
Aus der Angst vor dem Ersticken wurde der Wunsch, dass beim nächsten Schauer über mir die lehmige Decke einstürzte und mich auf ewig in die Tiefe zog. Sterben, sterben, sterben. Ich verbrachte meine Stunden nur noch in diesen Löchern und bettelte, dass ich einschlief und erst wieder aufwachte, wenn es vorbei war, oder bestenfalls gar nicht.
Bei vielen anderen beobachtete ich das Gleiche. Sie schmissen ihre Gewehre von sich und rollten sich zusammen und einige starben tatsächlich, einfach so. Vielleicht steckte ein Trick dahinter und sie hatten sich heimlich etwas zusammengebraut, ich hätte das Rezept gerne erhalten. Wenn man so hundselend litt, war der Tod keine Strafe mehr, sondern Gnade.
Dann gab es aber noch die Sorte, die ihr Ableben lautstark verkündeten. Sie fingen an zu schreien. Überwiegend war es wortloser Lärm, doch teilweise wiederholten sich diese Schmerzenslieder nur in Begriffen wie ,,Mama" oder ,,Hilfe". Wie Säuglinge, die nach ihrer Mutter brüllten, die sich nicht länger selbst erhalten oder stehen konnten. Man mochte es kaum glauben, wenn man dieses Grauen nicht mit eigenen Ohren empfangen hatte: Erwachsene Männer, die im Schlack knieten, ihre Gesichter und um Erlösung krakeelten, dass es sogar die Briten auf der anderen Seite der Mondlandschaft aufschrecken musste.
Einige von ihnen wurden ohnmächtig und dann brachen sie aufeinander zusammen, den Hintern in die Höhe gestreckt wie ein Entlein, bis sie von Neuem begangen. Ein Tuch aus Urin- und Vomiergestank entfaltete sich über unserem Labyrinth des Teufels. Es war Routine wie das Zwitschern der wenigen verbliebenen Vögel im Morgen, und sie schrien und schrien, bis sie nicht mehr schreien konnten, weil sie tot waren. Man machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die rätselhaften Selbstmörder wegzuräumen und zu bestatten, sie blieben auf ihrer Position, bis der Schlamm sie verschluckte, als Soldat zum Tode marschiert, als Soldat gestorben.
Es suchte mich der Moment heim, als es auch ihn traf. Erst wimmerte er ein bisschen, bekam ab und zu zittrige Knie und ich nahm es nicht zu ernst, bis es nach ungefähr einer Woche ausuferte. Er ließ sich nicht zum Essen überreden, kauerte nur noch auf seinem Fleck und heulte, dass das ganze Lager von seiner Tortur erfuhr. Er schaffte es nicht ein einziges Mal, sich wieder aufzurichten, jaulte nur pausenlos. Zwischen uns prangte urplötzlich eine Mauer und die freundlichen, milden Gesten waren gezählt. Manchmal erhaschte ich in der Menge einen Blick auf seine eingesackten Wangenknochen, den verklebten Bart und die abgemagerten Arme, welche einst vor Muskeln und Mut gestrotzt hatten, und bereute es sofort.
Der Wahn flutete durch unsere Truppen wie eine Seuche, und keiner reichte uns das Heilmittel. Dass es diesen Mann erwischte, war das Schlimmste für mich, noch schlimmer, als wenn die Geisteskrankheit mich selbst getroffen hätte.
Ich wollte fliehen, weit weit weg von alledem hier, doch gleichlaufend wollte ich ihn in den Arm nehmen und stützen, bis jegliche Verzweiflung vertrieben war; und dieser Zwiespalt verhinderte, dass sich meine Beine bewegten. So lauschte ich seinem brutalen Leid, sinnierte darüber, wie aus diesen schönen Lippen eine solche Sirene werden konnte, und gelangte zu keinem Entschluss, während ich selbst unter seinen Qualen verbrannte.
Es war wie ein Strudel, der mich mit sich riss. Meine Stiefel versanken im Matsch und ich starrte in die Leere, irgendwas explodierte auf der riesigen Ebene vor mir, aber mein Kopf war wie mit Watte ausgestopft; die propagierte Ehre und Brüderlichkeit blieben unerfüllte Versprechen. Ich schämte mich dafür, wie sehr ich flehte, dass er endlich tot umfallen und verstummen möge.
Das war die Art, wie dieser Krieg in seinen eigenen Reihen mordete, und er mordete Tausende.
Eines Abends sah ich ihn, mit verdrehten Gliedern auf zwei anderen liegend, die sich ebenfalls nicht mehr rührten. Er war über und über mit Dreck bedeckt, sein fuchsrotes Haar nicht wiederzuerkennen, die Brühe floss ihm aus dem Mund wie ein Schwall Blut, und unter dem zerfledderten Oberteil stachen die Rippen hervor. Es war ein grotesker Anblick, wie ein Ölgemälde, surreal, weil vor wenigen Wochen noch das süßeste Lächeln auf dem nun so bleichen Antlitz gestrahlt hatte. Ich wankte zu ihm herüber.
Geruch der Verwesung schwebte mir entgegen, bohrte Löcher in mein entgleistes Gesicht. Ich überwand einen weiteren Kameraden, konnte nicht deuten, ob er bewusstlos war oder in seiner Brust noch etwas kämpfte. Es kümmerte mich nicht. Ich lief weiter, mein Sichtfeld schrumpfte.
Ich presste meine vor Kälte tauben Finger an seinen Hals, jene Berührung, nach der ich mich seither gesehnt hatte, ich berührte ihn zum ersten und zum letzten Mal. Stille.
Ich kannte nicht mal seinen Namen.
Eine Träne landete auf der zerlumpten Uniform. Als in der Ferne die Granaten dröhnten, ein weiterer Monat das Lager einholte und ich die Leiche in jeder folgenden Nacht beim Verrotten beobachtete, so schweigsam, so erstarrt, so scheußlich typisch für diesen verfluchten Krieg-
da wusste ich, dass es auf dieser Welt nichts mehr Schönes für mich gab.
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