Kapitel 41
Wir beide saßen auf dem Sofa im Schneidersitz und unsere Beine waren bedeckt mit einer dünnen Decke, während wir unser Essen aßen. Es schmeckte fantastisch, egal was sie da rein gemacht hatte, war wahnsinnig gut.
Es kam nichts wirklich spannendes, deshalb schauten wir irgendeine Serie, die keiner von uns kannte und dementsprechend auch nicht wirklich verstanden... aber das gab mir wenigsten die Möglichkeit wieder ein Gespräch anzufangen. Sie achtete sowieso mehr auf ihren Teller, als auf den Fernseher. Klar war es von mir einigermaßen riskant anzufangen Fragen zu stellen, aber ich musste es schaffen irgendwelche Informationen über die herauszubekommen.
„Wie lange lebst du schon in England?" Fing ich an mit einer eher harmlosen Frage.
„Seit ungefähr vier Jahren glaube ich." Sie antwortete, das war schon mal ein gutes Zeichen.
„Wo hast du davor gelebt?" Das wollte ich ganz speziell wissen, denn sie sah etwas Südländisch aus...
„In verschiedenen Ländern..." Also mehreren. Konnte sie denn keines als Heimatland bezeichnen? Dann musste sie wirklich oft umgezogen sein.
Ich musste das Gesprächsthema in eine andere Richtung lenken, in der ich mehr privates über sie erfahre, die nicht so gängig war...
„Morgen kommen endlich meine Schwester und ihre Freundin nach London. Sie bleiben für einige Wochen." Sagte ich überglücklich und konnte es ehrlich kaum erwarten die beiden zu sehen. Ich vermisste sie so sehr und sie nicht mehr so nahe zu haben, wann immer ich sie brauchte, war hart.
„Das ist cool." Gab sie mir ein kleines Lächeln, dass mich kurz in Trance versetzte. Sie war so süß, wenn sie das ehrliche, wenn auch nur kleine, Lächeln auf den Lippen hatte... Ich liebte es und besonders zu wissen, dass ich der Grund dafür war.
„Was ist mit deiner Familie? Wo ist sie?" Stellte ich die Frage nebenbei, als wäre es das normalste der Welt... aber erhielt keine Antwort.
Ich sah sie an und sie ließ ihren Blick auf ihren Teller verweilen, drehte ein paar Mal die Gabel etwas in der Hand und sah aus, als würde sie nachdenken... Was genau gab es denn da nachzudenken? Ich hätte diese Frage nicht stellen dürfen. Sie würde mir nicht antworten und wieder auf Abstand gehen, ich sah's schon vor mir.
„Ich weiß es nicht." Brachte sie eher in einem Hauchen raus, als wäre der Name Familie in ihrem Leben das unrealistischste, was es nur gab.
„Es tut mir Leid, ich hätte nicht so neugierig sein dürfen. Wo deine Familie ist, geht mich nichts an..." Ich starb zwar hier gerade vor Neugierde, aber wusste, dass nachhaken der falsche Weg bei Rose war. Wenn ich wollte, dass sie mit mir redete, musste ich ihr so viel Zeit und Freiraum geben, wie ich nur konnte und das machte ich hier gerade. Also hörte ich auf weitere Fragen zu stellen und wandte meinen Blick wieder auf den Bildschirm. Es vergingen Sekunden und Minuten, aber Rose behielt ihren Blick immer noch ununterbrochen auf ihren Teller. Ich war anscheinend wirklich zu weit gegangen und wusste überhaupt nicht, was ich jetzt machen sollte... Ich überlegte und überlegt und schwieg weiterhin. Genau wie sie. Verdammt.
Doch nach Minuten stellte sie ihren Teller auf den kleinen Tisch vor der Couch ab und lehnte sich nach hinten, sodass ihr Gesicht nach oben zur Decke gerichtet war: „Ich... ich habe keine Familie." Gab sie ehrlich flüsternd zu und das schockte mich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich sie an: „Du hast keine?" Ist sie in einem Heim aufgewachsen? Oder wurde sie adoptiert? Warum sagte sie es dann nicht einfach?
„Ich glaube nicht, nein." verneinte sie ein erneutes Mal, aber das half meiner Ungewissheit nicht wirklich weiter.
„Warum? Wieso hast du keine Familie?" Ich hoffte sie blieb weiterhin so offen zu mir...
„I-ich hatte noch nie eine... ich kann mich zumindest an keine erinnern. Ich bin alleine seit ich denken kann." Ich musste mich anstrengen jedes Wort zu verstehen. Hatte ich wirklich richtig gehört? Mein Herz zerbrach in so vielen Teilen, dass ich Angst hatte, das es sich nie wieder regenerieren könnte. Ich wusste nicht, wie es war keine Familie zu haben. Bis jetzt hatte ich es immer als selbstverständlich angesehen in einer aufzuwachsen... Was hatte Rose dann in den ganzen Jahren Halt gegeben? Wer war für sie da gewesen, wenn sie dringend jemanden brauchte? Wer hatte ihr so gängige Sachen beigebracht?... Die Vorstellung von einer einsamen, kleinen Rose ohne jemanden, den sie Familie nenn konnte, ließ mir erst klar werden, wie schwer das alles für sie sein musste. War sie deswegen so verschlossen und abwehrend gegenüber jeglicher Annäherung? Ryan und Brian hatten es zumindest geschafft, dass sie ihnen vertraute und halfen ihr damit bestimmt Unmengen, aber wusste sie überhaupt wie sie mit ihnen umgehen sollte, wenn sie noch nie eine Familie hatte?... Sie tat mir so Leid...
„Wieso lernst du so viel?" Wechselte sie nach einer Weile das Thema. Ich war überrascht, dass sie überhaupt noch an diesem Abend redete.
„Ich möchte ein möglichst gutes Studium absolvieren." Antwortete ich und sie zog etwas die Augenbrauen zusammen: „Und dann lernst du vier Stunden am Tag, ohne Pause?" Sie hatte Recht. Ich hatte in den Stunden nicht einmal an was anderes gedacht und blendete um mich herum einfach alles aus... Ich wusste nicht wirklich, ob ich ihr den Grund wirklich sagen sollte, aber... sie hatte mir gerade auch etwas sehr persönliches erzählt und wenn ich wollte, dass sie es weiterhin machte, dann musste auch ich persönliches über mich preisgeben.
„Das lernen hat mir in einer sehr schweren Zeit rausgeholfen. Es hat mich abgelenkt und deswegen habe ich so viel mit lernen verbracht, wie nur möglich. An manchen Tagen kommt es zurück und um das alles für ein paar Stunden zu vergessen, mache ich es heute noch immer so und es hilft wirklich." Ich konzentrierte mich so sehr, dass ich manchmal nichtmal mitbekam, wenn Jane oder Luke mit mir redeten.
Leicht nervös spielte sie mit ihren Fingernägeln und fragte eher verlegen: „Hilft es?" Warum wollte sie das wissen? Welchen Schmerz hatte sie? Ich nahm an, dass sie eine andere Taktik hatte und antwortete daher nicht wirklich auf ihre Frage, sondern stellte ihr eine: „Du liest gerne, stimmt's?" Musste sie. In ihrem Zimmer hatte sie bestimmt mehr als 200 Bücher, die nicht gerade die dünnsten waren.
Sie nickte leicht und gab ein kleines: „Ich liebe es zu lesen." von sich. Ab da an wusste ich, warum sie wirklich in Bücher so vernarrt war. Sie las um von der Realität zu entkommen. Sie las um in einer anderen Welt zu sein, in der sie nicht mehr leiden musste. Sie las, um ihren Schmerz für eine gewisse Zeit abzulegen und nicht mehr an ihn denken zu müssen. Was für mich mein lernen bezweckte, tat für sie das lesen. Sie las mehr als ich und das tat sie wahrscheinlich auch so oft es nur ging... was für ein Schmerz hatte sie nur? War er vergleichbar mit meinen?... Nein, kein Schmerz war im entferntesten meinem ähnlich. Das was ich durchgemacht habe, konnte keiner nachvollziehen... aber was war ihr Grund?
Die Fragestunde über unsere sehr privaten Erlebnissen war eindeutig vorbei. Rose fühlte sich wirklich unwohl und kratzte sich nervös an den Händen. Ihre unregelmäßige Atmung bewies, dass sie nicht wollte, dass wir weiter über so etwas redeten oder ich weiter nachfragte. Ich legte meine Hand auf ihrer, damit ich sie so eventuell wieder beruhigen konnte und sie dazu brachte mit dem aufkratzten aufzuhören. Verwirrt starrte sie auf meiner Hand, sie hielt sogar ihren Atem an... Ich tat es nämlich auch. Ich wusste nicht was das war, oder ob sie das auch fühlten und ich es mir nicht nur einbildete, aber ich bekam innerlich eine Gänsehaut, als meine Haut ihre berührte. Ich wollte einfach nicht mehr meine Hand von ihrer nehmen, es tat so gut... zu gut. Trotzdem würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass ich das noch nie gefühlt hätte... ich hatte es schon einmal. Aber es war lange her. So lange, dass ich das schon vergessen hatte. Vergessen hatte, wie schön es war...
Tage und Nächte habe ich in den letzten Wochen damit verbracht mir selber zu erklären, warum Rose so einen Effekt an mir hatte. Diesen Effekt den ich so unendlich liebte, aber so dermaßen auch hasste. Der aus vertrauter Liebe und qualvollem Schmerz bestand und mich Stück für Stück zerbrach. Ich dachte ich hätte dieses Gefühl für immer verloren, aber Rose schaffte es irgendwie... Ich sah nur Sina neben mir, wenn ich Rose anschaute und mein Herz pochte voller Schmerz. Umso länger ich Rose anschaute, umso eher erkannte ich meine verlorene Liebe...
„Wieso musstest du nur dein Leben für meins geben?" Platzte es einfach aus mir heraus. Ich sah Sina, ich meinte Rose, nur noch verschwommen dank den ganzen Tränen in meinen Augen, aber ich wusste, ich erschreckte sie gerade wahrscheinlich zu Tode, aber ich konnte einfach nicht anderes. Es kam gerade wieder alles hoch. Rose erweckte Erinnerungen, die ich so erfolgreich verdrängt hatte und ich hatte keine Ahnung warum... Ich sah einfach nur Sina.
„Ich hätte dich so gebraucht!" Brachte ich zwischen Schluchzern heraus und merkte, wie die Tränen endgültig aus meinen Augen strömten...
Plötzlich nahmen mich zwei Arme und drückten mich fest an einen Körper, der mich nur weiter und intensiver glauben ließ Sina neben mir zu haben anstatt Rose. Ich umschlang automatisch ihren Nacken und vergrub mein Gesicht zwischen ihrer Schulter und ihrem Hals. Sie hielt mich fest und strich aber sanft mit ihrem Daumen an meinem Rücken. Sie hielt mich einfach nur in ihren Amen, so wie ich es liebt...
Ich weiß nicht, wie lange ich an ihrer Schulter weinte, aber nach ein paar Minuten hatte ich mich einigermaßen wieder beruhigt und lag einfach nur weiter in ihren Armen. Ich dachte nichtmal daran damit aufzuhören und ihr machte es anscheinend nichts aus. Hoffte ich. Ich ignorierte den Part in dem sie keine Berührungen mochte... ich war in dem Moment einfach egoistisch, denn ich brauchte genau das, was Rose mir hier gerade gab.
„Es tut mir Leid, ich..." Setzte ich an, aber Rose unterbrach mich sofort: „Schon gut." Schon gut? Sie ließ mich urplötzlich anfangen zu heulen und fragte nicht mal warum?
„Warum fragst du nicht, warum ich gestern und heute so... bin?" Ich wollte einfach den Grund wissen. Jeder Mensch war neugierig und sie zeigte nicht mal den Hauch eines Versuches den Grund herauszubekommen.
Sie schwieg allerdings und lockerte etwas den Griff, als würde sie mir die Möglichkeit geben wann immer ich wollte aus ihren Armen wieder wegzugehen. Hatte sie mir was zu sagen?? „Rose?" Wiederholte ich ihren Namen und brachte sie leicht zum seufzen. Sie sah mich kurz an und wandte ihren Blick raus aus der Glaswand auf London.
„Ich weiß es." Was weiß sie? Wovon redete sie denn da bitte?
„Ich war gestern Abend in der Bibliothek und habe alles gehört."
Sie hatte alles gehört? Aber wie konnte ich sie nicht gesehen haben?
„Ich weiß, dass war nicht korrekt. Es tut mir Leid." Entschuldigte sie sich und ich rappelte mich aus ihren Armen. Wieso hatte sie dann nichts gesagt??
Sie sah mich nicht an, aber ich erkannte, dass sie ängstlich war, als würde sie es wirklich bereuen...
„Du hättest es mir sagen sollen." Meinte ich und fuhr mir durch die Haare. Ich verstand es einfach nicht. Alle, die meine Geschichte wussten, sahen mich mit dem selben Mitleidigen Blick an, aber Rose? Sie nicht. Sie sah mich so wie davor an, als würde die Geschichte nichts an mir ändern. Und das irritierte mich etwas extrem.
„Ich weiß." Seufzte sie vor sich hin und ich wusste, dass ich nicht wirklich sauer auf sie sein konnte. Wenn es anders herum gewesen wäre, wüsste ich nicht, ob ich wirklich gegangen wäre, wenn ich doch die Möglichkeit gehabt hätte alles zu erfahren.
„Ist schon okay. Jeder ist neugierig." Ich hoffte sie merkte nicht, dass ich mich so für die Zukunft rechtfertigte, wenn ich mal zu neugierig sein werden würde.
Immer noch vorsichtig sah sie mich an und ich lächelte sie leicht an, was sie schüchtern erwiderte. Niemals hätte ich gedacht, dass die Rose Smith so etwas wie Schüchternheit kannte. Es gab noch sehr vieles, was ich noch nicht über die wusste...
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