XIX

Eine Stunde später sah ich aus dem Augenwinkel, wie Sherlock und John sich erhoben. Vor mir stand ein Teller mit einem Nudelauflauf und vor Mr Holmes ein Teller mit Lammbraten, Knödeln und roter Beete. Das Essen war erst gerade gekommen, weswegen ich noch nicht viel über die Qualität aussagen konnte. Allerdings war meine Aufmerksamkeit sofort abgelenkt, als ich merkte, wie die beiden sich zum Gehen fertig machten. Sherlock half John dabei, in dessen Jacke zu schlüpfen, was es ihm ermöglichte, unauffällig seinen Blick durch das Restaurant gleiten zu lassen. Dabei fiel sein Blick zwangsläufig auf seinen Bruder und mich, da wir schließlich ziemlich offensichtlich saßen. Sherlock nickte mir kaum merklich zu und ich verstand.
"Ich gehe kurz einmal auf die Toilette." sagte ich an Mr Holmes gewandt, erhob mich und ging zu den Toiletten, die neben dem Eingang zur Küche lagen. Aus Erfahrung mit der Gastronomie in London ging ich davon aus, dass es dort irgendwo einen Ausgang gab. Ich betrat den leeren Flur und sah mich um. Der Gang war vielleicht anderthalb Meter breit und rechts und links davon gingen Türen ab. Rechts vor mir war eine Türe zur Küche, dieser gegenüber eine Türe zur Herrentoilette. Die Damentoilette war die letzte Türe auf der linken Seite. Aber das alles interessierte mich nicht, denn mein Blick war auf die Türe gerichtet, über der das grüne Notausgang Schild hing, direkt neben den Herrentoiletten. Ich ging auf diese Türe zu, öffnete sie und spähte in eine dunkle Gasse in der es ganz fürchterlich nach abgelaufenem Essen stank. So flach atmend wie möglich suchte ich auf dem Boden nach etwas, mit dem ich die Türe aufhalten könnte und fand schließlich eine halb leere Packung Zigaretten. Für einen Türstopper nicht ideal geeignet, aber um die Türe am einrasten zu hindern noch gut genug. Ich platzierte die Packung zwischen Türe und Türrahmen und lief dann durch die Gasse zur Straße, wo Sherlock und John standen und sich unterhielten. Ich sah mich nach anderen Menschen um, doch keiner schien uns zu beobachten, also ging ich auf die beiden zu.
"Und, haben wir etwas?" fragte ich und sah die beiden abwechselnd an.
"Ja, tatsächlich." grinste John und lächelte Sherlock von der Seite an.
"Okay, können wir das flirten auf später verschieben, bitte?", bat ich, obwohl mir der Blick den John Sherlock zuwarf doch ein kleines Grinsen entlockte. "Was haben wir denn?"
"Indizienbeweise für seine Homophobie." erklärte Sherlock.
"Natürlich ist das nichts handfestes, aber das heißt, dass wir an dieser Spur festhalten müssen." fuhr John fort und ich nickte.
"Sehr gut. Denke ich."
"Natürlich ist das sehr gut." sagte Sherlock und blickte John verstohlen an.
Ich seufzte. "Na los, fahrt schon nach Hause. Ich bleibe noch ein Weilchen hier, dann braucht ihr euch auch keine Sorgen zu machen, dass ich bei irgendetwas störe."
Verwirrt blickte John mich an und legte den Kopf fragend etwas schief. "Was?"
"Ach komm, ihr zieht euch mit euren Blicken doch förmlich aus. Das sieht selbst ein Blinder. Ihr zwei habt also noch etwas Privatsphäre und ich kann mit Mr Holmes noch ein wenig Mr Cortell beobachten. Das kann bestimmt nicht schaden.", sowohl John als auch Sherlock blickten verlegen zu Boden und ich kicherte. "Ich habe doch gesagt, was nicht ist, kann noch werden. Und jetzt, Abmarsch. Habt ein wenig Spaß, bis ich wiederkomme."
"Du immer mit diesen Andeutungen. Ich weiß gar nicht was du hast!" beschwerte John sich, doch ich konnte das Glitzern in seinen Augen sehen.
"Ja, ja.", flötete ich. "Bis Später, Brüderlein. Sherlock, er muss morgen noch laufen können. Also seid ein bisschen vorsichtig." Grinsend drehte ich mich wieder um und ging zurück zu der Gasse.
"Hey, was soll das denn heißen? Warum sollte ich morgen nicht mehr laufen können? Warum er nicht?" protestierte John und ich konnte Sherlocks Kichern noch hören.
"Ist mir völlig egal, solange ihr morgen beide noch laufen könnt!" rief ich zurück, ohne mich umzudrehen und winkte noch einmal, ehe ich in der Gasse verschwand. Ich lief wieder zu der Türe und zog diese auf. Vorsichtig spähte ich hinein, ob jemand dort im Flur stand, doch ich hatte Glück. Der weiße Flur war noch genauso leer, wie als ich hinaus gegangen war. Ich stahl mich wieder hinein und schlüpfte auf die Damentoilette. Hier war es so ruhig, dass ich sogar die Musik hören konnte, die im Hintergrund lief. Ich ging schnell auf die Toilette und wusch dann meine Hände. Ich betrachtete mich einen Moment im Spiegel und stellte fest, dass ich wohl mal wieder zum Friseur gehen sollte. Das letzte Mal war ich dort bestimmt vor einem Jahr gewesen, und das war schon wirklich sehr viel zu lange her. Kopfschüttelnd trocknete ich meine Hände ab und verließ die Toiletten wieder. Ich wollte wieder zurück zu Mr Holmes gehen, um ihn über die Ergebnisse dieser absolut nicht gayen Ermittlung aufzuklären, als ich plötzlich hinter mir eine andere Anwesenheit spürte. Ich blieb stehen und drehte mich langsam um, was sich als großer Fehler erwies. Denn kaum das ich mich umgedreht hatte, blickte ich in das Gesicht eines glatzköpfigen Mannes, der in seiner Hand einen Elektroschocker hatte. Innerhalb weniger Sekunden spürte ich, wie Angst die Kontrolle über mich übernahm und mein Fluchtinstinkt anschlug. Ich drehte mich erneut um und wollte losrennen, allerdings stand dort im Gang jetzt auch ein Schrank von einem Mann und sah mich grimmig an.
"Heilige Mutter Gottes, was haben wir denn hier?" erklang eine Stimme deren Tonfall eine Mischung aus Freundlichkeit und Bedrohlichkeit aufwies, welche unverkennbar war.
"Mr Cortell, wie soll ich das hier bitte verstehen?" fragte ich und versuchte, möglichst furchtlos zu klingen. Ich blickte mich um, doch ich konnte nur seine Stimme hören und ihn nicht sehen. Entweder, er war gar nicht in dem Flur sondern seine Stimme wurde irgendwie über Lautsprecher übertragen, oder er versteckte sich irgendwie.
"Oh, das ist ganz einfach. Dein Vater hat mir mein Leben zur Hölle gemacht. Drei Monate lang. Und ich finde, dafür verdient er eine Strafe. Ich hatte schon überlegt, seinen kleinen, Schwuchtel Bruder einfach zu entführen, aber wer hätte denn auch damit rechnen können, dass heute seine Tochter bei mir im Restaurant auftaucht?"
"Also haben Sie jetzt vor, mich zu entführen?" fragte ich, allerdings wohl mehr um Zeit zu schinden, damit ich einen Ausweg aus dieser misslichen Lage finden konnte. Mein Herz schlug inzwischen so schnell, dass ich fürchtete, es würde meinen Brustkorb zerbrechen und Blut rauschte in meinem Kopf.
"Sieh mal einer an. Du bist ja genauso schnell im Kopf, wie dein Vater. Vielleicht ist Intelligenz also doch erbbar..."
"Natürlich ist es das, warum sollte Intelligenz nicht erbbar sein?"
Endlich trat der Verbrecher in mein Sichtfeld. Er hatte sich hinter dem zweiten Schläger Typen versteckt gehalten, doch jetzt trat er hervor. Damit war der Weg vor mir vollständig blockiert und hinter mir wartete noch immer der Glatzkopf mit dem Elektroschocker.
"Mein jüngster Sohn hat mich neulich vom Gegenteil überzeugt. Er hat sich... geoutet.", er spuckte das Wort aus, als wäre es etwas giftiges. "Er hat gesagt, er würde auf Jungen stehen. Und das unser Nachbar, der gute alte Jerry McClane, ihn darin bestärkt hätte, sich zu outen."
"Und deshalb musste er sterben. Sherlock hatte also recht..." murmelte ich, wobei mir bewusst wurde, dass ich tatsächlich bis gerade nicht gewusst hatte, wie der Tote hieß.
"Genau. McClane hat meinen Sohn kaputt gemacht, damit, dass er sich mit einem Mann verlobt hat! Es ist alles seine Schuld!" zischte mein Gegenüber und ich sah, wie sich unter seinem Hemd die Armmuskeln spannten.
"Es tut mir ja leid, Ihnen da widersprechen zu müssen, aber... Queer zu sein ist keine Krankheit. Und erst recht keine ansteckende. Man wird so geboren." sagte ich und es erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung zu sehen, wie es in Mr Cortells Kopf zu rattern schien.
"Und wie es eine Krankheit ist.", zischte er dann bedrohlich und hob eine Hand, was ganz offensichtlich ein Zeichen für den Glatzkopf war. "Und es wird Zeit, dass die Menschheit das erkennt.", Mit diesen Worten trat er wieder hinter den zweiten Schläger. "Ich würde wirklich gerne weiter plaudern, aber ich muss noch ein Schwulen-freies Restaurant führen. Wir sprechen uns also später wieder." Ich hörte seine Schritte auf den Fliesen davon gehen und schlagartig wurde mir bewusst, dass es jetzt kein Entkommen mehr gab. Ich saß in der Falle. 

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