XIV
Am nächsten Morgen wachte ich auf einer Matratze im Zimmer von John auf. Wir hatten gestern nach dem essen alle zu dritt noch ein wenig Fernsehen geguckt, weil Sherlock nicht hatte akzeptieren wollen, dass Gregs Leute eben ein wenig Zeit brauchten, um sich alle Beweismittel genau anzusehen. Doch als die Uhr 2 geschlagen hatte, waren John und ich schließlich zu Bett gegangen. Jetzt war es zehn Uhr Morgens und John schlief noch wie ein Baby. Ich lag neben seinem Bett auf einer Matratze, warm in eine kuschelige Decke gemummelt und trug meinen einzigen Schlafanzug, den ich mir irgendwann mal angeschafft hatte, als die Bezahlung bei Devin besser wurde. Er war von der Hauptfarbe hellblau und die Hose war dazu noch kariert. Ich beschloss, John nicht zu wecken sondern mir einmal genau mein Handy anzusehen. Denn dafür hatte ich bei all dem Stress gestern überhaupt keine Zeit gehabt. Ich stand auf und ging zu meinem Rucksack, der neben der Türe stand. Ich holte mein Handy hervor und schaltete es an.
"Eine Neue Nachricht" leuchtete mir entgegen und verwirrt öffnete ich den Messenger. Ich hatte vier Kontakte. Sherlock, John und zwei unbekannte Nummern. Die Nachricht war von einer der beiden Nummern.
Guten Morgen, Lilith.
Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht und konnten sich gut von dem anstrengenden Tag gestern erholen.
Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie gleich nach Ihrer Ankunft mit Ihrem und meinem Bruder zu einem Tatort gefahren sind. Ich hoffe, Sie sind nicht zu verstört von dem, was Sie dort sehen mussten. Aber angesichts der Tatsache, dass Sie auf dem Hausdach herum geklettert sind, scheinen Sie die Sache doch sehr gut aufgenommen zu haben.
Möglicherweise haben Sie bereits die unbekannte Nummer bemerkt. Das ist die Nummer Ihrer Mutter, Cassandra Winkleson. Wie Sie sie einspeichern möchten ist Ihnen überlassen, bedenken Sie allerdings Ihre Identität, bei Ihren Überlegungen.
Ich möchte Sie zudem noch einmal darüber aufklären, dass dieses Handy nun Ihnen gehört, allerdings permanent von uns geortet werden kann - zu Ihrer eigenen Sicherheit, versteht sich. Wir werden Sie auch nicht zu jeder Zeit orten, allerdings natürlich, wenn wir es für nötig halten.
Haben Sie denn bereits Pläne für die nächsten Tage? Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören.
-MH
Grinsend las ich die Nachricht und schüttelte den Kopf. Diese Nachricht hätte genauso gut in einem Brief stehen können, und es hätte mich absolut nicht verwundert. Ich brauchte nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu verstehen, dass diese Nachricht von keinem geringeren als Mycroft Holmes höchstpersönlich kam. Der Punkt, dass er geschrieben hatte "mit Ihrem und meinem Bruder" hatte ihn sowohl verraten als auch mich mit einer puren Freude erfüllt. Ich mochte John wirklich gerne und an den Gedanken, Geschwister zu sein könnte ich mich hervorragend gewöhnen. Auch der Punkt mit der Ortung war mir von vornherein bewusst gewesen, von daher störte es mich nicht sonderlich. Allerdings stellte sich mir doch die Frage, woher er von meiner kleinen Klettereinheit erfahren hatte. Schnell tippte ich eine Antwort.
Guten Morgen, Mr Holmes.
Ja, tatsächlich habe ich wieder ausgesprochen gut geschlafen. Ich hoffe, Sie auch?
Zu der Geschichte mit dem Mordfall, ja, ich bin tatsächlich sehr gut damit klar gekommen. Was mir einerseits ein wenig Angst macht, immerhin handelt es sich dort bei ja um einen echten Menschen. Aber wem sage ich das? Sie haben bestimmt auch schon mehr als eine Leiche gesehen und mussten damit klar kommen. Meine kleine Klettereinheit war für die Ermittlungen notwendig, zu meiner Verteidigung. Und es ist ja nichts passiert. Wenn ich nicht allerdings gerade mit Ihnen schreiben würde, würde ich fragen, woher Sie das wissen. Doch ich gehe einfach einmal davon aus, dass Sie ihre Quellen wohl haben werden.
Vielen Dank für die Information mit meiner Mutter, ich hatte mich nämlich wirklich schon gefragt, zu wem diese geheimnisvolle Nummer gehört.
Für heute ist soweit ich weiß geplant, dass ich mit meinem Bruder in den Baumarkt und ein Möbelgeschäft fahre, um mein Zimmer ein wenig wohnlicher zu machen. Übrigens, vielen Dank, dass Sie uns Geld zur Verfügung stellen. Ich weiß zwar nicht, warum Sie das tun, aber ich bezweifle, dass es mir zusteht, danach zu fragen.
Dass Sie mein Handy orten könnten, davon hatten Sie ja bereits gesprochen, und ich denke, es wird schon seine Richtigkeit haben. Immerhin haben Sie sich schon größte Mühe gegeben, dass ich aus meinem alten Leben verschwinde, da wäre es doch blöd, wenn Sie mich jetzt verlieren würde, richtig?
Ich hoffe, es geht Ihnen gut und dass Sie sich nicht überarbeiten müssen. Schönen Tag noch,
-LW
Lächelnd schickte ich den Text ab und verließ den Messenger um mir einmal die Bilder anzusehen, von denen Mr Holmes gestern Morgen noch gesprochen hatte. Es fühlte sich so unrealistisch an. Gestern Morgen war ich noch Lilith Dundis gewesen, hatte in einer Gartenhütte gelebt und in einem Restaurant gearbeitet. Jetzt, kaum mehr als 24 Stunden später, war mein Name Lilith Watson und ich hatte die Möglichkeit, zur Schule zu gehen.
Kopfschüttelnd suchte ich die Galerie und klickte sie an. Tatsächlich fand ich ein halbes dutzend Bilder von zwei süßen Kaninchen, ebenso wie einige Bilder von Landschaften aus Northampton. Auch ein Bild einer Frau mittleren Alters, vermutlich Cassandra Winkleson, und eines Mannes, vermutlich Johns und mein Vater, der mit Sicherheit schon älter als 55 war fand ich, sowie zwei Bilder von John in Uniform und eines einer Frau, die dann vermutlich Harriet war. Traurig lächelnd schaltete ich mein Handy wieder aus und ließ mich wieder auf meine Matratze sinken. Neben mir lag meine Hose, die ich gestern angehabt hatte, und aus der Hosentasche lugte das Bild meiner leiblichen Eltern. Vorsichtig zog ich es hervor und sah es mir an. Ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen. Es war schon lange her, dass ich wegen meiner Eltern geweint hatte, doch jetzt holten mich die Erinnerungen offenbar wieder ein. Ich begann, leise zu schluchzen und schloss die Augen, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte, und aufblickte. John hatte sich etwas über seine Bettkante gelehnt und sah mich besorgt an.
"Alles in Ordnung?" fragte er vorsichtig und drückte meine Schulter beruhigend.
Ich nickte. "Ich habe nur... nur ein Bild angeguckt." antwortete ich und hielt ihm das Bild meiner Eltern entgegen. Er sah es sich einen Moment an, dann nickte er und ließ mich wieder los, sodass er aufstehen und sich neben mich setzen konnte. Dann legte er einen Arm um mich und zog mich zu sich.
"Das muss schwer für dich sein. Das verstehe ich. Aber ich glaube, dass du das durchaus schaffen kannst." flüsterte er und ich legte meinen Kopf gegen seine Schulter und weinte. Ich fühlte mich klein und nutzlos, aber er gab mir Halt. Auf eine seltsame Art und Weise, aber es war der erste Halt, den ich seit Jahren wieder hatte.
"Danke, John." antwortete ich nach einer Weile, in der ich nur gegen sein graues Shirt geweint hatte und nichts gesagt.
"Dafür nicht."
"Doch. Ich... das klingt jetzt wirklich komisch, aber... ich kann bei dir weinen, ohne mich schwach zu fühlen. Das bedeute sehr viel für mich. Das konnte ich schon damals, als meine Eltern noch gelebt haben, nicht."
"Das klingt absolut nicht komisch. Ich kenne das. Dass man sich schwach fühlt, wenn man weint, kenne ich nur allzu gut. Aber glaub mir, du bist nicht schwach. Ich glaube, ich in deinem Alter, hätte nicht so einfach wegstecken können, dass meine Eltern Agenten der britischen Regierung waren. Und dann auch noch einfach so ein neues Leben beginnen; glaub mir Lilith, du bist vieles. Aber nicht schwach."
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