VIII

"Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen in Kürze unsere Endstation - den Londoner Hauptbahnhof. Ich wiederhole: Wir erreichen in Kürze den Londoner Hauptbahnhof. Ausstieg links.", erklang die Männliche Stimme durch die alten Lautsprecher an der Decke und Tessa klatschte begeistert in die Hände.
"Endlich bin ich in London!", rief sie freudig und ich nickte. Ich war inzwischen ziemlich genervt, weil ich kaum Zeit gehabt hatte, mich mit der Akte weiter vertraut zu machen, weil Tessa die ganze Zeit unaufhörlich geredet hatte.
"Und, freust du dich auf deinen Bruder, Lilith?"
"Ja, tatsächlich schon.", antwortete ich wahrheitsgemäß und hob meinen schwarzen Koffer von der Gepäckablage. Dann schmiss ich mein neues Handy in meinen Rucksack und machte den Reißverschluss zu, ehe ich ihn schulterte und meinen Koffer fest hielt. Ich spürte, wie der Zug unter mir langsamer wurde, als wir in den Bahnhof einfuhren. Als der Zug dann schließlich ganz zum Stehen kam, verabschiedete ich mich von Tessa, und zwängte mich draußen in den Gang.
Es war inzwischen schon vierzehn Uhr, wie ich an der großen Bahnhofsuhr erkennen konnte, die ich durch die Zugfenster sehen konnte. Ich ließ mich langsam vom Strom der Menschen raus auf den Bahnsteig drängen und sah mich dort suchend um. Ich verfluchte mich dafür, dass ich nicht so groß war und nicht über die Köpfe der tausenden Menschen blickten konnte. Ich beschloss, mich einfach irgendwohin zu stellen und zu warten, bis die Massen sich auflösen.
Doch soweit kam es gar nicht, denn plötzlich fiel mein Blick auf einen Lockenkopf mit blauem Schal und hochgeklapptem Kragen.
Sherlock!, schoss es mir sofort durch den Kopf und grinsend rollte ich meinen Koffer auf den Lockenkopf zu, der tatsächlich gemeinsam mit John neben einem Snackautomaten stand. Doch ehe ich die beiden erreichte, hatte ich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Unsicher sah ich mich um und erblickte Tessa, die mich anstarrte. Ich tat, als hätte ich sie nicht gesehen und ließ meinen Blick weiter schweifen. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung und lief auf John zu.
"John!", rief ich, als ich in Hörweite war und sofort drehten er und Sherlock sich zu mir. Ich ließ meinen Koffer stehen und rannte auf meinen "Bruder" zu. Ich fiel ihm in die Arme und drückte ihn feste an mich.
"Wir werden beobachtet, spiel einfach mit.", raunte ich ihm ins Ohr, während ich ihn umarmte, als hätten wir uns nicht erst gester kennen gelernt.
"Schwesterchen, schön dich zu sehen.", lächelte er und drückte mich nun auch an sich. Nach dem ersten Moment der Begrüßung drehte ich mich um und lächelte Sherlock an. "Lilith, das ist mein- unser Mitbewohner, Sherlock Holmes. Sherlock, das ich meine Schwester Lilith."
"Schön dich kennenzulernen, Lilith.", lächelte Sherlock und streckte mir seine Hand entgegen, doch ich umarmte ihn einfach.
"Nur nicht so förmlich, Sherlock. Immerhin wohnen wir jetzt unter einem Dach.", grinste ich und boxte ihm freundschaftlich in die Seite. Ich wusste nicht, woher ich jetzt diese Unbeschwertheit nahm, doch angesichts der Tatsache, dass wir beobachtet wurden, kam es mir doch angemessen vor, so überheblich zu sein.
"Na kommt, fahren wir nach Hause. Lilith hatte sicher einen anstrengenden Tag und morgen wird es auch nicht besser.", sagte John, ging ein paar Schritte von uns weg und nahm meinen Koffer, ehe er sich wieder zu uns zurück gesellte.
"John, lass mich den Koffer nehmen, du hast doch sicher viel mit deiner Schwester zu besprechen.", lächelte Sherlock und nahm dem Blonden den Koffer wieder ab.
"Oh, danke Sherlock.", John legte mir einen Arm um die Schultern und ich grinste. Es fühlte sich tatsächlich so an, als ob wir Geschwister wären. Erneut war ich mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dass es clever gewesen war, auf meinen Bauch zu hören.

Wenig später stiegen wir aus einem Taxi aus, welches uns zur Baker Street gefahren hatte.
Sherlock holte meinen Koffer aus dem Kofferraum und John bezahlte den Fahrer, sodass ich genug Zeit hatte, um mich auf der Straße umzusehen. Direkt vor mir war eine grüne Türe, mit einem alten Türknauf, der Aufschrift "221B" und einem Klopf-Dings welches ich nur aus dem Fernsehn im Restaurant kannte. Daneben war ein Restaurant, welches allerdings dringend einer Sanierung bedurfte. Zumindest machte es von außen so den Anschein.
"Und, was sagst du?", fragte John lächelnd und legte seine Hand erneut auf meine Schulter. Ich drehte mich zu ihm und grinste.
"Ich finde, es sieht nach Abenteuern aus."
"Oh ja, langweilig wird es hier nie. Und ich lebe hier schon seit... lange."
Ich lachte. "Na dann. Du sagtest, morgen würde auch ein anstrengender Tag?"
"So leid es mir tut, eure kleine Unterhaltung unterbrechen zu müssen, aber... sollten wir ihr nicht erst einmal das Haus zeigen? Macht man das nicht so? Und ihr Mrs Hudson vorstellen.", sagte Sherlock plötzlich und ich wandte mich zu ihm.
"Das klingt hervorragend."
Gemeinsam betraten wir also das Haus und kamen direkt in einem engen Flur zum Stehen.
"Hier kannst du deine Jacke aufhängen, allerdings ist dieser Hacken reserviert für Sherlocks heiligen Mantel.", witzelte John und deutete auf die Garderobe zu unserer Linken. Ich kicherte erneut und Sherlock schüttelte einfach nur den Kopf, ehe er weiter hinein ging, an einer Treppe vorbei und gegen eine andere Türe klopfte.
"Mrs Hudson!!", rief er laut. Einen Moment geschah gar nichts, dann hörte man Füße trappeln und im nächsten Moment ging die Türe auf und eine ältere Dame streckte den Kopf hinaus.
"Ohh, Jungs, wie schön, euch zu sehen!", rief sie und kam heraus. Sie trug ein lila Kleid mit Blumen darauf und ihre Augen leuchteten freundlich. "Und wer ist das? Hach, wie schön, wieder junges Blut in der Wohnung zu haben!", rief sie euphorisch und kam auf mich zu. Sofort begann ich zu lächeln. Mrs Hudson schien eine ganz liebe Person zu sein, und ich hatte sie sofort ins Herz geschlossen.
"Mrs Hudson, das ist Lilith, meine-"
"Seine Schwester.", unterbrach ich John und ließ mich erst einmal von Mrs Hudson in den Arm nehmen und dann genau inspizieren. "Ich freue mich total Sie kennenlernen zu können, Mrs Hudson.", lächelte ich und sie drückte mich noch einmal an sich.
"Und mich erst, Kindchen. Und mich erst.", sie lachte. "Ich mache uns einen Tee und Knabberein und dann setzten wir uns oben zusammen. Hach, wie wundervoll!"
Grinsend wandte ich mich zu John, der lächelnd etwas hinter mir stand. "Ist sie immer so fröhlich?"
"Jeden Tag.", bestätigte er grinsend und deutete dann auf die Treppe. "Nach dir, Schwesterchen."
"Oh, ganz Gentle Like, der Herr. Vielen Dank. Sherlock, kommst du?", rief ich und betrat die Treppe. Ich ging rauf und blieb oben vor drei Türen stehen.
"Einfach geradeaus, dann kommst du ins Wohnzimmer.", ich tat, wie John es mir gesagt hatte und betrat das Wohnzimmer. "Und nicht erschrecken, da ist ein-"
"Da ist ein Totenkopf auf dem Kamin!", rief ich teils überrascht, teils fröhlich und hörte Sherlock auf der Treppe seufzen.
"Ein alter Freund von mir."
"Supercool.", kommentierte ich und sah mich noch einmal um.
An der Wand hinter mir stand ein Sofa und an die Tapete war ein gelber Smiley gemalt. Daneben war ein undefinierbarer Haufen Bücher und Papier unter dem Fenster. Dann kam ein Wandvorsprung an dem ein Tisch mit zwei Stühlen stand auf dem auch Papiere und Bücher aller Art herum flogen, ebenso wie ein silberner Laptop. Vor dem nächsten Fenster war wieder ein Haufen Chaos und ein Notenständer mit kompliziert aussehenden Noten. Davor stand ein dunkler Ledersessel, neben welchem ein kleiner Beistelltisch stand. Diesem Gegenüber stand ein weiterer Sessel, rot kariert und mit einer kleinen Decke bedeckt. Zwischen den Sesseln auf dem Boden lag ein Teppich und dahinter war ein Kamin auf welchem, wie bereits erwähnt, ein Totenkopf stand. Darüber war ein Spiegel in dem ich mein zerzaustes Antlitz betrachten konnte. Ich grinste bis über beide Ohren und schien das erste Mal seit vier Jahren wieder wirklich glücklich zu sein.
Links und rechts neben dem Kamin standen zwei vollgestopfte Bücherregale und auch davor lagen überall Papiere und anderer Krempel herum. Links neben mir war der Durchgang zur Küche - oder zu dem, was vermutlich irgendwann mal eine Küche gewesen war. Momentan sah es eher nach einem Labor für sonstwas aus. Überall standen Reagenzgläser mit verschiedenen Flüssigkeiten herum von denen ich bei einigen nicht wissen wollte, woher sie kamen.
"Tut mir leid, wir hatten nicht wirklich die Zeit, um noch groß aufzuräumen.", entschuldigte John sich verlegen, als er mit meinem Koffer herein kam.
"Um Himmels Willen, ich liebe es! Dieses kreative Chaos fühlt sich so... nach zuhause an!", rief ich und musste den Drang, ihn zu umarmen doch sehr stark unterdrücken.
"Das ist ja schön, aber leider haben wir keine Zeit um Tee zu trinken. Herzlich Willkommen, Lilith. John, komm!", sagte Sherlock und zog John förmlich an seinem Jackenkragen wieder aus der Türe.
"Sherl- hey! Sherlock, was soll das?!", rief John und schaffte es endlich, sich von Sherlock los zu machen. Grinsend betrachtete ich die beiden.
"Lestrade hat mir eine Nachricht geschickt. Er braucht unsere Hilfe.", erklärte Sherlock, allerdings erklärte das für mich trotzdem überhaupt nichts.
"Ja, aber dann wird er sich da heute selber drum kümmern müssen. Wir haben Besuch, Sherlock! Und wir können sie nicht schon am ersten Tag alleine lassen!"
"Dann... dann kommt sie eben mit, zack- Problem gelöst. Und jetzt komm!"
"Wir können sie doch nicht mit zu einem Tat- Sherlock, sie ist sechzehn!"
"Na und? Wenn sie nicht hier bleiben darf, dann muss sie mit. So einfach. Sonst kannst du auch hier bleiben und mit Mrs Hudson Tee trinken. Wenn dir das lieber ist."
"Du weißt, dass es das nicht ist, Sherlock."
"Na also, wo ist dann das Problem?"
"Ähm, Jungs? Erklärt ihr mir vielleicht, worum es geht?", mischte ich mich vorsichtig ein. Sofort drehten die beiden sich zu mir, sahen mich an, sahen sich noch einmal an und schließlich seufzte John.
"Komm, Lilith. Wir gehen jetzt zu deinem ersten - und hoffentlich letzten - Tatort."

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