VI

Den Rest des Tages und die Nacht verbrachte ich in dem großen Gebäude, in dem auch Mr Holmes' Büro lag.
In der Nacht schlief ich dann in einem kleinen, süßen Gästezimmer. Das Zimmer war nicht groß, wenn man es allerdings mit meinem sonstigen Heim verglich, dann war es nahezu der Buckingham Palace. Es gab ein gemütliches Bett, mit gelb-weißer Bettwäsche, ein großes Fenster, welches den direkten Blick auf die Themse freigab, einen Holzschreibtisch mit dem dazugehörigen Stuhl und eine Türe zum Badezimmer, welches ausgestattet war mit einer Dusche, einer Toilette und einem Waschbecken, ebenso wie mit einem Spiegel. Auf dem Boden war der gleiche graue Teppich wie in Mr Holmes' Büro, allerdings waren hier Wände sowie die Decke weiß gestrichen.
Als ich also am nächsten Morgen in diesem Zimmer erwachte stellte ich fest, dass Sherlock absolut recht gehabt hatte. Ich brauchte definitiv eine weichere Matratze. Ich hatte die Nacht so gut geschlafen wie schon ewig nicht mehr. Und das sollte schon echt was heißen, denn ich hatte die Nacht noch bis fast zwei Uhr in der privaten Bibliothek von Mr Holmes verbracht, wo ich mich durch einige historische Bücher gelesen hatte, und versucht, mir so viel einzuprägen, wie möglich, einfach nur um mich von den Sachen abzulenken, die auf mich zukamen. Ich richtete mich auf und sah mich um. Sofort fielen mir die Klamotten ins Auge, die auf dem Holzstuhl neben dem Bett lagen. Ich pellte mich aus meiner Decke und sah mir die Klamotten an. Es waren definitiv nicht meine, allerdings gefielen sie mir auf anhieb. Es war eine enge, dunkelgraue Jeans, ein weißes T-Shirt und eine rot karierte Bluse. Außerdem hing an der Lehne noch ein neuer Wintermantel, den ich ehrlich gesagt sehr gut gebrauchen konnte. Schnell zog ich mich um und ging ins Bad, wo eine Angestellte des Gebäudes gestern noch eine Zahnbürste für mich aufgetrieben hatte. Ich wusch mich schnell und verließ das Bad wieder.
"Guten Morgen, Lilith.", begrüßte Mr Holmes mich und ich schrak zusammen.
"Um Himmels Willen! Mr Holmes! Was hätten Sie denn gemacht, wenn ich nicht angezogen gewesen wäre?!", rief ich und sah ihn finster an. Doch er lächelte nur erhaben. Er saß völlig gerade auf meinem Bett, hatte die Hände über sein Knie gefaltet und trug wie immer einen makellosen Anzug. Und heute, zur großen Freude meiner Ordnung liebenden Seele, auch wieder eine Weste unter dem Jackett.
"Dann hätte ich Sie wohl in eine äußerst unangenehme Lage versetzt.", grinste er.
"Hmpf, das können Sie laut sagen."
"Aber ich wusste ja, dass Sie angezogen sind. Keine Sorge, ein wenig Anstand ist auch noch in meiner Familie vorhanden."
"Woher wollen Sie das denn gewusst haben?"
"Nun, ich habe geklopft, keine Antwort erhalten, also hätten Sie entweder noch geschlafen oder wären im Bad. Also bin ich herein gekommen und die neuen Kleidungsstücke waren verschwunden, dafür lagen Ihre Schlafsachen ordentlich gefaltet auf dem Bett. Da ist es sehr naheliegend gewesen, dass Sie sich umgezogen haben.", er lächelte Freundlich und meine Mine lockerte sich auch wieder. "Haben Sie denn gut geschlafen?"
"Tatsächlich, ja.", ich lächelte. "Und Sie? Sie sehen nicht sonderlich erholt aus, wenn ich das einmal so anmerken darf."
Er seufzte. "Wissen Sie, in meinem Amt kommt der Schlaf oftmals etwas zu kurz.", er lächelte gequält. "Wie dem auch sei, ich habe für Sie Frühstück in die Wege leiten lassen und dachte mir dann, ich könnte Ihnen ja Gesellschaft leisten, dann können wir auch gleich die Details ihres Lebenslaufes besprechen. Wenn Sie mir also folgen würden." Er erhob sich und verließ vor mir den Raum. Mit einem Schulterzucken folgte ich ihm durch das Labyrinth von Gängen, eine Treppe rauf zu einem Aufzug, dann vier Stockwerke runter und dort durch einen langen Korridor zu einer hellbraunen Holztüre, hinter der sich ein Speisesaal verbarg.
"Wie können Sie hier nur den Überblick behalten? Ich würde mich vermutlich schon in der Empfangshalle verlaufen.", fragte ich, während wir uns an einen Tisch am Fenster setzten.
"Ich denke, das gehört ein Stück weit zu meinem Job. Wenn ich schon in meinem eigenen Gebäude nicht den Überblick behalten könnte, wie sollte ich denn dann ein ganzes Ministerium leiten können?", er lächelte wieder und ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob er auch jemals etwas anderes tat, als höflich zu lächeln.
Es dauerte keine Minute, da kam ein junger Mann in einem schwarzen Anzug und stellte eine große Platte vor mir auf den Tisch. Er hob den Deckel und lüftete somit eine Frühstück von einem Ausmaß, wie ich es noch nie gesehen hatte. Es gab alles was das Herz begehrte. Von süßem Brötchen, über gebackene Bohnen, hinzu Speck und Rührei und wieder zurück zu Joghurt mit Obst. Und das in Mengen, von denen ich sonst nur hätte Träumen können.
"Ich hoffe, Sie können dabei etwas finden, was Ihnen schmeckt.", sagte Mr Holmes, als auch vor ihm eine solche Platte abgestellt wurde.
"Die Frage ist, wie ich das alles Essen soll. Das ist mehr, als ich an drei Tagen zusammen esse.", ernst sah ich meinen Gegenüber an.
"Das ist bedenklich. Hat Mr Flynn Ihnen nicht genügend zu Essen gegeben? Guten Appetit, übrigens. Möchten Sie einen Tee?"
"Das wäre sehr nett. Ihnen auch einen guten Appetit, Mr Holmes. Vielen Dank, für dieses großzügige Essen. Und zu Ihrer Frage... Naja, Devin hat immer darauf geachtet, dass ich ein wenig Nahrung in meiner Hütte hatte, zum Frühstücken, und zum Feierabend hat er mir meistens eine Portion von irgendetwas, was aus seinem Restaurant übrig geblieben war, zur Verfügung gestellt. Das war nie viel, aber immer genug, damit ich nicht hungrig zu Bett gehen musste."
Mr Holmes seufzte erneut und in diesem Moment stellte einer der Angestellten eine Tasse Tee vor mir auf den Tisch. Ich bedankte mich mit einem Lächeln und blickte Mr Holmes wieder an. "Das tut mir wirklich leid, Lilith...", er sah mich aufrichtig an, doch ich schüttelte den Kopf.
"Sie können da ja nichts für, Mr Holmes. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich dort überhaupt raus geholt haben. Das ist ja auch nicht selbstverständlich."
"Ja... vermutlich haben Sie da recht...", murmelte er und stocherte vor sich im Rührei herum, ehe er mich wieder ansah. "Aber gut, wir wollten über Ihren neuen Lebenslauf sprechen."
Ich nickte. "Richtig. Muss ich den denn dann auswendig lernen?"
"Nun ja, gewissermaßen, ja. Aber keine Sorge, das wichtigste haben wir auf zwei Seiten komprimieren können, dass sollte möglich zu lernen sein.", er lächelte mich aufmunternd an, während ich mir Rührei und Speck in den Mund stopfte, als hätte ich in meinem Leben noch nie etwas gegessen. "Also, wir beginnen bei ihrem Namen. Von heute an, ist der nicht mehr Lilith Dundis, sondern Lilith Watson. Ihr Geburtstag bleibt gleich, allerdings sind Sie in Northampton geboren und zwar in Ihrem Elternhaus. Natürlich haben Sie einen enormen Altersunterschied zu Doktor Watson, weswegen wir Sie als seine Halbschwester väterlicherseits betiteln - was auch die schwarzen Haare erklärt. Allerdings starb ihr Vater, als Sie noch ein kleines Mädchen waren, und zwar im Jahre 2003. Der Name Ihrer Mutter ist Cassandra Winkleson, eine meiner Agentinnen. Sie sind in Northampton zur Castle Primary School gegangen, allerdings mussten Sie, wegen eines plötzlichen Krankheitsfalls - Ihre Mutter ist an multipler Sklerose erkrankt -, zu ihrem einzigen anderen Verwandten, Doktor Watson, ziehen. Sie haben zwar noch eine Schwester, Harriet Watson, allerdings ist der Kontakt zu ihrer ältesten Schwester schon vor Jahren abgebrochen. 2007. In dem gleichen Jahr, in dem Doktor Watson in den Krieg zog. Sie hatten zwei Kaninchen, Tiger und Snow-White, die Sie allerdings weggeben mussten, mit Umzug zu ihrem Bruder.", er dachte einen Moment nach. "Noch irgendwelche wichtigen Fragen?" 
"Warum sollte ich Kaninchen haben?"
"Wenn es etwas gibt, was ich in meinem Leben bezüglich neuer Identitäten gelernt habe, dann ist es, je detaillierter eine solche Umstellung ist, desto besser. Und wir werden Ihnen ein Telefon zur Verfügung stellen, auf dem Sie Fotos finden werden, von Ihren Kaninchen, um diese Aussage zu stützen. Denn wir können keine Fotos auftreiben, wo Sie mit Freunden drauf wären, also müssen Sie sagen, dass Sie es in Ihrer alten Schule nicht leicht hatten und keine Freunde hatten. Aber um Sie trotzdem menschlicher erscheinen zu lassen, hatten Sie eben Kaninchen."
Ich nickte langsam. So klang das einleuchtend. "Wenn Sie sagen, dass sollte man so machen, Mr Holmes - ich habe absolut keine Ahnung davon, Sie machen das ja offensichtlich hauptberuflich. Ich vertraue Ihnen da einfach."
"Wunderbar.", er lächelte und wischte sich den Mund äußerst elegant mit der Serviette ab. "Ich würde wirklich wahnsinnig gerne noch bei Ihnen bleiben, Lilith, aber ich muss leider weiter arbeiten. Dort drüben ist einer meiner besten Agenten, Randy Cooper, er wird Sie, sobald Sie fertig sind, zu Ihrem alten Haus bringen, damit Sie dort ihre Habseligkeiten zusammensammeln können. Dann wird er Sie zur Northampton Railway Station bringen, von wo Sie aus mit dem Zug hierher zurück nach London fahren, wo Doktor Watson und mein Bruder Sie am Bahnhof abholen werden. Und bevor Sie fragen, ja, es ist zwingend notwendig, dass Sie einmal hin und wieder zurück fahren. Andernfalls würden wir möglichen Stalkern zeigen, dass Sie die Identität gewechselt haben."
"In Ordnung, das verstehe ich. Vielen Dank, Mr Holmes.", ich lächelte.
"Ach ja, und hier", er zog eine Akte unter dem Tisch hervor. "steht noch einmal alles drin, was sie möglicherweise über Ihre Identität wissen wollen. Ebenso wie ein neuer Personalausweis, Impfpass und eine Kopie Ihrer neuen Geburtsurkunde. Ach, und noch achtzig Pfund, weil man nie wissen kann, was man auf einer Zugfahrt alles brauchen kann."
Er reichte mir die Akte und ich erhob mich schnell.
"Vielen Dank, aber sind achtzig Pfund nicht ein bisschen vie-"
"Nein, achtzig Pfund sind ein ganz hervorragender Betrag."
"Ich weiß ehrlich nicht, wie ich Ihnen mich bedanken soll...", lächelte ich verlegen, nahm die Akte entgegen und reichte ihm die ausgestreckte Hand.
"Gerne geschehen, Lilith. Ich denke, dass ist das mindeste, was ich für Sie tun kann, bis wir die Mörder Ihrer Eltern gestellt haben, und Sie aus der akuten Gefahr befreit. Und noch ein letzter Tipp meinerseits: Geben Sie so wenig wie möglich und so viel wie nötig von Ihnen preis. Je weniger ein Fremder weiß, desto weniger hat er gegen Sie in der Hand."
Er trat lächelnd vom Tisch weg, nickte mir noch einmal zu und ging dann weg.
"Eine Frage noch, Mr Holmes!", rief ich ihm hinterher und glücklicherweise drehte er sich noch einmal um. "Werde ich Sie wiedersehen?"
Er lächelte und dieses Mal hatte ich das Gefühl, dass es ein echtes Lächeln war.
"Sie ziehen zu meinem kleinen Bruder, Miss Watson. Ich bezweifle, dass Sie mich so schnell loswerden."

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