I

Es war ein langweiliger, normaler Tag.
Ich lief, wie immer, schweigend durch das kleine Restaurant etwas außerhalb von London und bediente die Gäste. Ich trug wie immer eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine weinrote Schürze. Meine schwarzen Haare hatte ich, wie immer, zu einem Zopf gebunden. Wie immer kam ich an dem Mann mit der Zeitung vorbei, der wie immer einen Anzug trug und seine braunen Haare sauber gekämmt auf seinem Kopf liegen hatte. Wie immer musterte er mich einen Moment, lächelte und ich ging wie immer an ihm vorbei, ohne ihn anzusprechen, da er (wie immer) noch einen Tee vor sich stehen hatte. Doch heute war es trotzdem anders. Ausnahmsweise trug der Mann keine Weste unter seinem Jackett und ausnahmsweise war sein Regenschirm nicht rechts, sondern links neben seinem Stuhl. Es waren kleine Details, aber sie fielen mir trotzdem auf. Nicht, weil ich ein gutes Auge für Details hätte, sondern weil es anders als normalerweise war.
"Hey, Lili! Worauf wartest du? Bring den Gästen ihr Essen!", pampte mein Boss Devin mich von der Seite an, und ich ließ vor Schreck beinahe einen Teller Spaghetti fallen.
"Aber natürlich, Entschuldigung.", murmelte ich und lief mit gesenktem Kopf wieder los.
Mein Leben war seit dem Tag, an dem Devin Flynn mich von der Straße aufgesammelt hatte, todlangweilig. Meine Eltern waren vor vier Jahren sehr plötzlich gestorben und da die Polizei mich in ein Kinderheim hatte stecken wollen, war ich weggerannt. Ich war damals zwölf Jahre alt gewesen, aber schon damals hatte ich nicht das Verlangen verspürt, mich von irgendwelchen Idioten in ein Heim stecken zu lassen. Meine Mutter hatte immer gesagt, ich hätte ihren Freigeist geerbt. Und damit hatte sie recht gehabt.
Ein halbes Jahr hatte ich auf der Straße gelebt, bis Devin mich aufgesammelt hatte und in seinem Restaurant angestellt. Er ließ mich in einer kleinen Gartenhütte, die ich mit den Jahren bewohnbarer gemacht hatte, auf seinem Grundstück schlafen und bezahlte mich gerade so, dass ich mir das Nötigste zum Überleben kaufen konnte. Es war kein protziges Leben, aber wenigstens hatte ich ein Dach überm Kopf und Nachts eine warme Decke. Ich war inzwischen sechzehn Jahre alt, aber dank meines Aussehens, der Kleidung die ich von Devin zum Arbeiten bekam, hatte bisher noch keiner das Jugendamt angerufen. Und jedem, dem es aufgefallen war, hatten wir versichern können, dass ich nur einen Gelegenheitsjob angenommen hatte, und alles mit rechten Dingen zuging.
"Ihre Bestellung, Sir.", sagte ich und stellte den Teller Spaghetti vor einem anderen Mann ab, der an einem Tisch neben dem Zeitungsmann saß. Er nickte mir zu und ich eilte wieder weiter. Nicht, das außergewöhnlich viel Betrieb wäre, aber ich hatte Angst, dass Devin mich sonst wieder anmeckerte. Er hatte mich zwar unter seine Fittiche genommen, aber mögen tat er mich trotzdem nicht besonders.
"Ich würde gerne zahlen.", erklang eine Stimme und sofort erkannte ich den Zeitungsmann. Ich drehte mich zu ihm und nickte.
"Ich hole die Rechnung.", lächelte ich und rannte nahezu wieder davon. Das Bezahlen fand ich immer besonders schlimm. Ich war in der Schule nicht besonders gut in Mathe gewesen und hatte auch nie die Chance bekommen, es besser zu lernen. Denn ich war seit vier Jahren nicht mehr in der Schule gewesen.
Was heute allerdings am schlimmsten daran war, dass ich Jemandes Bezahlung annehmen musste, war die Tatsache, dass es der Zeitungsmann war. In seiner Gegenwart hatte ich immer das Gefühl, dazu gezwungen zu sein, alles besser zu machen, als sonst. Aber mal ganz abgesehen von meiner Angst, war es auch wahnsinnig aufregend. Normalerweise betrat der Zeitungsmann das Restaurant nämlich um exakt 12:01 Uhr und verließ es um 12:58. In der Zeit trank er einen Tee und aß ein Stück Kuchen - meistens Torte. Doch heute war er länger hier geblieben, bis 13:46, und hatte schon seinen zweiten Tee getrunken. Das war ungewöhnlich.
"Äh, das macht dann... ähm, £8,60.", stotterte ich unsicher, und legte die Rechnung vor ihm auf den Tisch. Er reichte mir einen zusammengefalteten Zehn Pfund Schein aus seiner Brieftasche und lächelte mich freundlich an. Nervös faltete ich den Schein auseinander und wollte ihn in meine Dienst-Geldbörse packen und das Wechselgeld berechnen, da fiel ein kleiner Zettel aus dem Zehn Pfund Schein auf den Boden. Schnell hob ich ihn auf und wollte ihm dem Zeitungsmann zurück geben, da bemerkte ich, was darauf stand. Es war ein Name und eine Nummer.
"Sir, ich bin erst sechzehn. Und außerdem besitze ich gar kein Telefon.", sagte ich leise und mit gesenktem Kopf. Devin hatte mir immer gesagt, wenn mir jemand seine Nummer gab, sollte ich ablehnen und sagen, ich wäre sechzehn oder maximal siebzehn.
"Ich weiß.", lächelte der Mann, der laut des Namens auf dem Zettel Mycroft Holmes hieß. Ein ungewöhnlicher Name... "Machen Sie sich keine Sorge, Mrs Dundis, ich bin gewiss nicht an Ihnen interessiert.", er lachte, als wäre es das abwegigste dieser Erde und ich fragte mich zwangsläufig, woher er meinen Namen kannte. "Ich arbeite... eng mit der britischen Regierung und insbesondere mit dem Außenministerium zusammen. Und wir-"
"Er ist die britische Regierung.", erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir und verwirrt drehte ich mich um. 

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