6 | ich weiß nicht wie alt sie ist
Ich weiß nicht wie alt sie ist, doch meine neue Psychologin könnte sowohl Anfang vierzig als auch Mitte sechzig sein. Ihr Gesicht ist jung und sie hat leichte Lachfalten um die Mundwinkel, doch gleichzeitig strahlt sie eine Autorität aus, die geradezu ehrfurchtgebietend ist.
Frau Siebert hat langes dunkles Haar, das sie in einem tiefen Pferdeschwanz trägt. Ihr offener Blazer hat die Farbe von Milchkaffe und dazu trägt sie eine weinrote Schlaghose. Unweigerlich denke ich darüber nach, ob es ihre Taktik ist Ruhe durch Kleidung auszustrahlen. Die Sandalen an ihren Füßen bestätigen jedenfalls diesen Eindruck. Absicht oder nicht, sie erreicht ihr Ziel, denn seit dem Moment, in dem ich ihre Hand schüttelte, bin ich ungewohnt geerdet.
"Deine Akten habe ich von der Klinik schon erhalten, aber ein paar Sachen will ich formhalber nochmal mit dir durchgehen." Sie beugt sich über ihren Schreibtisch auf der anderen Seite des Raums, tippt etwas auf der Tastatur und kurz darauf spuckt der Drucker einige Zettel aus, mit denen sie zu mir zurückkommt. Sie lässt sich auf dem Ledersessel mir gegenüber nieder und überschlägt die Beine.
Ich umschließe die Teetasse in meiner Hand fester, während sie auf das Stück Papier starrt, auf dem meine gesamte Lebensgeschichte zusammengefasst ist. Der Gedanke, dass alles was mich ausmacht, auf ein DIN-A4-Blatt passt, ist beängstigend.
Zähneknirschend starre ich zum wiederholten Mal auf den lächerlichen Spruch auf meiner Tasse. Man ist erst besiegt, wenn man sich geschlagen gibt. Daneben ist eine kleine lächelnde Sonne gemalt. Wer auch immer diesen Spruch geschrieben hat, wurde wohl noch nie bewusstlos geschlagen.
"Gehören diese Spruchtassen bei Psychologen eigentlich immer zum Inventar?", rutscht es mir heraus. Frau Siebert schaut von ihrer Lektüre auf und sieht mich fragend an. Etwas betreten zupfe ich am Saum meines T-Shirts. "Mein Psychologe in der Klinik hatte auch so welche.", füge ich erklärend hinzu.
"Dr. Schuster, oder?" Ich nicke. "Manchmal können solche kleinen Sprüche unbewusst ziemlich viel bewirken und manchmal sind sie völlig zwecklos. So oder so, einen Versuch sind sie wert." Neugierig beugt Frau Siebert sich vor. "Was stand denn bei Dr Schuster drauf?"
"Es erscheint immer unmöglich, bis es getan wird.", zitiere ich ohne Umschweife. Ich habe den Großteil meiner Therapiestunden bei ihm damit verbracht auf diesen schwachsinnigen Spruch zu starren und Blickkontakt zu vermeiden.
Meine Gegenüber lacht. "Da ist sicherlich etwas dran, wobei der Spruch vielleicht etwas überheblich ist. Hier, schau dir meinen an!" Sie dreht ihre eigene Tasse so, dass ich den Spruch darauf lesen kann. Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.
"Der ist gar nicht so übel.", räume ich ein. "Auf jeden Fall meilenweit besser als der Schwachsinn von Dr. Schuster."
"Ich nehme das einfach mal als persönliches Lob. Dankeschön." Frau Siebert lacht verschmitzt, lehnt sich in ihrem Sessel zurück und taxiert mich sichtlich entspannt. Ich teile ihre Lässigkeit nicht. Unweigerlich frage ich mich was sie sieht, von meiner äußeren Erscheinung mal abgesehen. Ob sie erkennen kann, dass ich, im Gegensatz zu ihren anderen Patienten, nicht erwarte Hilfe zu bekommen? Merkt sie, dass ich gar keine Hilfe will ? Inständig hoffe ich, dass das nicht der Fall ist, doch sie wäre wohl keine Psychologin geworden, wenn sie Menschen nicht lesen kann, oder?
"Erzähl mir etwas von dir, Elisabeth!"
Ich schaue sie verdutzt an. "Haben Sie nicht gesagt, dass Sie meine Akte haben? Dann wissen Sie wohl schon mehr über mich, als ich selbst."
"Ist das so?", fragt sie zweifelnd. Nein, natürlich nicht. Ihre Worte und ihr wissender Blick machen mich unruhig, doch ich versuche so gut es geht meine Gefühle zu überspielen. "Ich will einfach etwas von dir hören."
"Irgendetwas?" Zweifelnd verschränke ich die Arme vor der Brust. Die Ruhe, die ich noch vor wenigen Momenten fühlte, ist dahin und Nervosität macht sich in mir breit.
"Was immer du als wichtig empfindest." Frau Siebert legt die Papiere auf den Tisch zwischen uns und faltet die Hände auf ihrem Knie zusammen.
Spätestens jetzt schrillen bei mir die Alarmglocken. Mein Blick huscht suchend im Zimmer herum und ich frage mich, was zur Hölle ich ihr erzählen soll. Zweifelsohne wird sie jedes meiner Worte auseinandernehmen und analysieren. Meine Hände beginnen zu schwitzen und es kostet mich all meine Selbstkontrolle, sie nicht nervös an meiner Jeans zu reiben.
Ich beschließe mit den Fakten anzufangen, denn die kennt sie wirklich schon alle.
"Nun gut. Ich heiße Elisabeth Stern, aber ich bevorzuge Lizzie. Ich werde in ein paar Monaten siebzehn und gehe in die elfte Klasse. Wobei ich die wahrscheinlich wiederholen muss." Allein der Gedanke macht mich völlig wahnsinnig und ich würde mir am liebsten die Haare vom Kopf reißen. "Meine Mutter arbeitet in Berlin, deshalb wohne ich bei meinem Vater. Mein älterer Bruder, Leopold, studiert Medizin. Er will Arzt werden, so wie mein Vater."
"Und du? Was willst du mal beruflich machen?", unterbricht Frau Siebert mich und schaut mich aufrichtig interessiert an.
"Ich? Ich- also, ich weiß nicht.", stottere ich völlig überfordert. Die Frage erwischt mich kalt und für einen Moment versuche ich ernsthaft darüber nachzudenken, doch mir fällt nichts ein. Was will ich für den Rest meines Lebens tun? Womit will ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen? Ja, was kann ich denn überhaupt? Ich finde keine Antwort auf diese Fragen.
Die Wahrheit ist, dass ich mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht habe, weil ich nie damit gerechnet habe, überhaupt so lange zu leben. Das mag ehrlich sein, doch kann ich das meiner Psychologin gegenüber ja wohl kaum gestehen.
"Das ist kein Problem. Wenn du, wie du sagt, die elfte Klasse wiederholst, dann hast du ja noch genug Zeit dir darüber Gedanken zu machen.", wendet sie ruhig ein, noch bevor ich mit einer flapsigen Lüge um die Ecke kommen kann.
Erleichtert stoße ich den Atem aus, löse jedoch meine, noch immer vor der Brust verschränkten, Arme nicht. Dennoch, die Frage nagt an mir und ich spüre ein penetrantes Pochen in meinem Schädel. Ich beschließe diese Sorge zur Seite zu schieben. Frau Siebert lächelt mich aufmunternd an und ich verbiete mir selbst zurück zu lächeln.
"Ich möchte, dass du weißt, dass ich dir keinen Stress machen werde. Wenn dir etwas nicht passt, dann ist das in Ordnung. Ich zwinge dich zu nichts. Wir lasse das hier ganz entspannt angehen, okay?" Sie lehnt sich ein Stück in ihrem Sessel vor und ich blicke ihr zum ersten Mal wirklich in die Augen. Sie sind grau und obwohl sie dunkel sind, liegt ein gewisser Glanz in ihnen. "Ich weiß, dass es nicht einfach ist, sich auf eine ganz neue Person einzulassen und ihr praktisch das Innere auf dem Silbertablett zu präsentieren, deswegen würde ich mich heute ganz nach dir richten. Ist das okay für dich, Lizzie?"
Ich nicke nur, viel zu verwirrt um eine Antwort hervorzubringen. Sie ist komplett anders als Dr. Schuster, der seit unserer ersten Stunde hartnäckig auf meine Mauern einschlug, und das macht mich unruhig. Ich kann sie nicht einschätzen. Ich weiß nicht, was ich sagen muss um sie abzuspeisen und so sitze ich nur stumm da und versuche mir einen Reim auf ihr Verhalten zu machen.
Ihr muss doch klar sein, dass ich nie und nimmer mit der Wahrheit rausrücke, wenn ich nicht dazu gezwungen werde, oder?
Wir verbringen die restliche Stunde damit meinen "Rahmen" zu zeichnen, wie Frau Siebert es ausdrückt. Sie gleicht ihre Akte mit mir ab und ich wiederhole, was sie schon längst weiß. Ich erzähle von meinen Eltern, von meinem Bruder, von Benny. Ich schildere die Umstände meiner Einlieferung, wobei ich mich mehr als kurz halte. Meine Gegenüber muss ihre Worte ernst gemeint haben, denn sie fordert mich nicht auf, genauer ins Detail zu gehen. Sie fragt auch nach anderen Dingen, bittet mich von der Schule zu erzählen, welche Fächer ich mag, womit ich sonst so meine Freizeit verbringe. Dass ich Gitarre spiele, scheint sie zu interessieren und so sprechen wir die letzten zehn Minuten über nichts anderes als unsere Lieblingsbands und ich finde heraus, dass sie den Traum lebte und in den Neunzigern auf einem Nirvanakonzert war.
Als sie die Akte zuschlägt und mir Bescheid gibt, dass unsere Stunde vorbei ist, bin ich fast enttäuscht. Ich habe seit Ewigkeiten mit niemandem mehr wirklich geredet. Immer ging es nur um meine Probleme, um meine Taten und Verhaltensmuster. Überrascht stelle ich fest, dass ich das Gefühl einer echten Unterhaltung vermisst habe.
Das hier war auf verzwickte Weise normal und ich beschließe, dass es nur mäßig erbärmlich ist, dieses Bedürfnis bei meiner Psychologin gestillt zu haben.
Sobald ich die Tür hinter mir schließe, erblicke ich Maries weißen BMW, der auf der gegenüberliegenden Straße geparkt ist. Sie winkt mir breit lächelnd entgegen und für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken nach Hause zu laufen. Es würde ewig dauern, aber immerhin würde ich so um ihr fröhliches Geplapper herumkommen. Die Frau ist schrecklich gesprächig.
Vermutlich würde mir mein Vater dann aber eine weitere Standpauke halten und mich womöglich nie wieder unbeaufsichtigt lassen. An meine Zukunft denkend, gehe ich auf den Wagen zu.
"Und, Lizzie, wie wars?", fragt Marie, sobald ich mich auf dem Beifahrersitz fallen lasse.
"Gut.", gebe ich tonlos zurück und schnalle mich an. Ich lasse den Blick über ihr rot weiß gepunktetes Kleid und das dazu passende Haarband wandern. Eigentlich ganz süß, denke ich, aber viel zu schrill für eine Frau ihren Alters. Wie alt ist sie überhaupt?
"War Frau Schuster nett? Kommst du gut mit ihr klar?"
Ich murre und hoffe, dass sie mit der Fragerei aufhört. Tut sie nicht.
"Worüber habt ihr denn so gesprochen?"
"Kannst du mich vielleicht einfach in Ruhe lassen?", fahre ich sie einen Ticken zu ungehalten an. "Ich habe kein Interesse daran, mit dir über irgendetwas zu reden!"
Kurz fühle ich mich schlecht wegen meiner schroffen Antwort, doch auch dieses Gefühl verdränge ich so gut es geht. Ich muss ihr gar nichts erzählen, schließlich ist sie nicht meine Mutter.
Ich schulde niemandem in dieser gottverdammten Stadt eine Erklärung.
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