25 | ich sterbe fast
Ich sterbe fast vor Nervosität, als es endlich Montag ist.
Okay, das ist übertrieben, aber ich bin definitiv so nervös, dass ich nicht aufhören kann, auf meinem Schreibtischstuhl herumzuzappeln. Immer wieder werfe ich einen Blick aus dem Fenster und suche die Straße nach Emil ab. Als ich ihn endlich in meine Straße einbiegen sehe, setzt mein Herz einen Schlag aus.
Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung und als das Klingeln der Tür ertönt, wische ich meine feuchten Handflächen an meiner Jeans ab. "Beruhig dich!", flüstere ich mir selbst aufmunternd zu. "Es gibt keinen Grund nervös zu sein. Das wird schon alles."
Ich höre wie Leo Emil die Tür aufmacht und die Beiden ein paar Worte austauschen. Emil lacht. Schwere Schritte ertönen und ich weiß, dass ich eigentlich aufstehen und zur Tür gehen sollte, aber mein Körper ist erstarrt. Verdammt.
Reiß dich zusammen!
Kurz darauf klopft es an meiner Tür und ich krächze mit plötzlich sehr trockener Kehle: "Herein!"
Ich spüre wie Emil den Raum betritt, ein paar Schritte hinein macht und dann hinter mir stehen bleibt. "Ich mag deinen Bruder. Er ist cool drauf."
"Er hat seine Momente", meine ich und drehe mich endlich zu dem Jungen um, mit dem ich letztes Wochenende geschlafen habe. Er trägt einen blauen Sweater und schwarze Jeans, in denen er mal wieder unangebracht gut aussieht.
Verdammt, denke ich, das macht es mir nicht leichter.
Ich entschließe mich dazu, die unangenehme Stille mit einem mittelmäßigen Witz zu durchbrechen. "Leo studiert Medizin, das heißt er macht auch was aus seinem Leben! Ganz nach deinem Geschmack."
Emil grinst, schiebt die Hände in die Hosentaschen und versteht offensichtlich meine Anspielung auf seine Behauptung, keiner seiner Freunde würde etwas mit seinem Leben anfangen. "Das macht ihn mir gleich noch sympathischer."
Ich zupfe an meinem Sweater und zeige aufs Bett. "Du kannst dich ruhig hinsetzen."
Emil folgt meiner Aufforderung und lässt sich auf meinem Bett nieder. Genauso wie jeder, der mein Zimmer zum ersten Mal betritt, betrachtet er die schwarzen Wände mit gerunzelter Stirn und mustert die Bilder interessiert.
Ich räuspere mich, als er etwas zu lang auf ein Bild von mir und Henri in der Grundschule starrt. Wir grinsen beide mit Zahnlücken-Lächeln in die Kamera, Henris Arm ist um meine Schulter geschlungen und ich zeige Hasenohren hinter seinem Kopf. Ich sollte es wahrscheinlich abhängen.
"Wie war das Wochenende bei deinem Vater?", frage ich um ihn von dem Bild abzulenken.
"Zum Glück kurz", witzelt er und reibt sich über die Wange. "Er hat sich in seinem Arbeitszimmer vergraben, also habe ich ihn kaum sehen müssen. Wahrscheinlich besser so. Wir haben uns nicht besonders viel zu sagen, was die gemeinsame Zeit dezent unangenehm macht."
Das kann ich mir nur allzu gut vorstellen. Mein Vater und ich haben uns auch nicht mehr besonders viel zu sagen, doch seit Leo wieder Zuhause ist, sind die Dinge deutlich entspannter. Ich bin noch immer vorsichtig, aber immerhin muss ich nicht mehr jedes meiner Worte doppelt überdenken. Weil ich nicht weiß, was ich antworten soll, frage ich stattdessen: "Als was arbeitet dein Vater denn?"
"Anwalt." Emil grinst, lässt sich nach hinten fallen und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. "Falls du also in näherer Zukunft Mist baust, besorge ich dir gerne juristischen Beistand."
Ich schnaube. "Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt." Einen Augenblick lang schweigen wir beide, bevor ich all meinen Mut zusammen nehme und sage: "Wir müssen über Freitag reden."
"Wir springen also gleich in kalte Wasser, ja?" Ich lächle ihn entschuldigend an. Emil setzt sich auf und lehnt sich am Kopfteil meines Bettes an. Er wirkt von außen ganz lässig, doch ich bilde mir ein, in seinen Augen so etwas wie Unsicherheit zu entdecken. "Na dann mal los."
Ich zögere einen Moment. Soll ich das wirklich tun? Ist es überhaupt nötig? Es wäre so viel einfacher, so zu tun, als wäre nichts passiert und weiterzumachen. Bisher hat das ja auch geklappt und-
Nein, weise ich mich selbst zurecht, es hat nie geklappt! Ich muss endlich einen Schritt nach vorn machen. Das hier ist nötig und ich schaffe es.
"Also, erstens:", beginne ich und setze mich ein Stück auf. "Du darfst Niemandem erzählen, was auf der Brücke passiert ist. Und damit meine ich wirklich Niemandem, hörst du? Nicht deiner Familie, nicht deinen Kumpels, niemandem, egal wie high du sein magst. Das war ein Rückfall, aber ich habe mich wieder unter Kontrolle. Wenn Henri oder meine Familie irgendwie Wind davon bekommen, dann lande ich sofort wieder in der Klinik und das würde jeglichen Fortschritt, den ich gemacht habe, zugrunde richten. Okay?"
Auffordernd schaue ich Emil an, der erneut seine ernste Miene aufgesetzt hat. Er nickt stoisch. "Meine Lippen sind versiegelt."
"Versprochen?"
"Versprochen."
Erleichtert atme ich aus. Gut. Die erste Hürde ist überwunden.
Nervös blicke ich ich mich im Raum um, als ich versuche meine Gedanken für Punkt Zwei zu sortieren. Mein Blick fällt auf Emils Lippen und ein Kribbeln durchzuckte mich. Ich weiß noch ganz genau wie weich sie sind und kann seine sanften Küsse beinahe spüren. Nur für einen Augenblick, ziehe ich es in Betracht einfach die Klappe zu halten und ihn an mich zu ziehen. Es wäre leicht, so leicht, denn ich weiß, dass er es auch will. Ich könnte mich auf seine Berührungen konzentrieren und alle anderen Gefühle und Gedanken verdrängen.
Aber was würde das bringen? Der Schmerz würde in der Schublade zwar versteckt sein, aber er wäre immer noch da und irgendwann unweigerlich ausbrechen. Nein, das kann ich nicht nochmal durchmachen...
"Was Freitagnacht angeht..."
"Kommen wir jetzt zu dem spaßigen Teil?"
Ich werfe ihm für seinen sarkastischen Ton einen bösen Blick zu. "Was Freitagnacht angeht, müssen wir ein paar Sachen klarstellen."
"Na, das klingt ja gar nicht spaßig." Emil schmollt.
"Würdest du vielleicht mal aufhören mich zu unterbrechen? Ich versuche dir hier mein Herz auszuschütten und wenn du so weitermachst, kann ich meine Gedanken nicht sortieren und labere nur Mist."
"Sorry." Er grinst.
Ich schüttele den Kopf. "Also, wir müssen ein paar Sachen klarstellen. Erstmal bin ich dir dankbar, dass du nach der Brücke bei mir geblieben bist, dass du für mich da warst. Das hat mir viel bedeutet. Ich bin dir auch dankbar, dass du dich mir anvertraut hast. Ich weiß, dass so etwas nicht leicht ist." Als ich Emil in die Augen schauen will um meine Worte zu untermauern, ist sein Grinsen verschwunden und er weicht meinem Blick aus. "Was wir getan haben-"
"Der Sex?" Böser Blick. "Sorry."
"- war aber nichts Anderes als Ablenkung." Ich atme tief durch und dieses Mal erwidert Emil meinen Blick. "Wir waren beide traurig und der Sex hat uns von diesen Gefühlen abgelenkt. Er war nicht mehr und nicht weniger."
"Aber das muss er ja in Zukunft nicht sein." Emil grinst anzüglich, doch ich merke, dass es aufgesetzt ist. Auch er versucht seine Unsicherheit zu überspielen.
Mach es mir doch nicht so schwer, will ich schreien. Hör doch auf so liebenswert zu sein! Sei ein Arsch!
Stattdessen schaue auf die Hände in meinem Schoß, atme tief durch und erkläre: "Du verstehst mich nicht. Ich fange gerade erst an, überhaupt mit meinen eigenen Problemen klarzukommen. Ich habe keinen Kopf für noch mehr Drama. Für mehr Druck, mehr Unwissenheit, mehr Hin und Her. Das klingt hart und selbstsüchtig, ich weiß, aber ich will ehrlich sein. Ich habe momentan genug damit zu kämpfen mit mir selbst zurechtzukommen. Leo und ich nähern uns gerade erst wieder an, um meinen Vater muss ich sowieso auf Zehenspitzen herumgehen und was momentan mit Henri los ist, weiß ich selbst nicht."
Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.
"Ich mag dich Emil. Ich mag dich wirklich und ich bereue Freitagnacht nicht."
"Gut", erwidert er und wirkt erleichtert. "Ich nämlich auch nicht."
Ich ignoriere das Flattern in meiner Magengegend, das seine Worte auslösen und starre vehement auf die Hände in meinem Schoß. "Aber was ich zu sagen versuche, ist, dass ich momentan keinen Platz für eine weitere Person in meinem Leben habe."
Ich schaue nicht auf, aber ich höre wie er scharf einatmet. "Ich muss das Chaos in meinem Leben erstmal unter Kontrolle bekommen und ich weiß nicht wie lange das dauert. Es wäre unfair von mir, zu erwarten, dass du auf mich wartest, deshalb tue ich das auch nicht." Ich atme erneut tief durch. "Ich hoffe du verstehst das."
Er schweigt und es dauert eine Weile, bis ich den Kopf hebe und in seine hübschen braunen Augen sehe. Traurigkeit steht in ihnen, aber auch so etwas wie Verständnis und Entschlossenheit. Das beruhigt mich.
"Ich verstehe was du meinst. Alles."
"Danke", flüstere ich und blinzle die Tränen aus meinen Augen. Verdammt, wo kommen die denn her?
Emil schwingt die Beine aus dem Bett, zieht sein T-Shirt zurecht und wirft noch einen Blick auf das Bild direkt gegenüber von meinem Bett. Auch ich schaue auf das Foto. Ich sitze am Küchentisch, trage einen viel zu großen schwarzen Pulli, vor mir steht ein Kuchen, der unter den ganzen Kerzen kaum zu erkennen ist. Mein sechzehnter Geburtstag. Ich lächle zwar in die Kamera, doch meine Augen sind leer. Völlig leer. Wenige Monate später habe ich versucht mich umzubringen.
Ich weiß, dass auch Emil zu dieser Erkenntnis kommt, doch er zuckt nicht zusammen, schaut nicht weg und blickt mich auch nicht mitleidig an. Stattdessen dreht er sich zu mir um und ich erkenne so viel Entschlossenheit in seinem Blick, dass ich überrascht zurückzucke.
"In dieser Stadt gibt es nicht wirklich viel zu tun, weißt du? Und du bist mit Abstand der interessanteste Mensch hier, also..." Er dreht sich im Türrahmen um. "Werde ich warten."
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