23 | ich will ihn küssen

Ich will ihn küssen.

Ich weiß nicht woher  der Drang mich an ihn zu schmiegen, seine Haut zu spüren und ihn zu küssen kommt, aber er ist da und er ist stark.

Wir stehen vor dem Gartentor meines Hauses und Emil hat die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten und ist den ganzen Weg schweigend neben mir her gegangen. Die ganze Zeit über habe ich mit einen Kommentar, eine Standpauke oder zumindest einen Witz über das eben Geschehene gerechnet, doch Emil schwieg. Hin und wieder sah er zu mir herüber, wie um sicherzugehen, dass ich nicht abgehauen war und schaute dann wieder stoisch nach vorn. Jetzt, wo wir vor meinem Haus angekommen sind, reibt er sich über den Nacken und sieht dabei so attraktiv aus, wie nie zuvor.

Mann, will ich ihn dringend küssen!

Noch vor weniger als einer halben Stunde habe ich mir die Seele aus dem Leib geheult, wie eine Irre in die Leere geschrien und wollte von einer Brücke springen, doch jetzt ist alles, was ich will, Körperkontakt. Mit Emil. Vielleicht werde ich ja wirklich verrückt.

Bevor ich allerdings meinem Verlangen nachkommen kann, fragt Emil: "Und du bist sicher, dass es dir jetzt besser geht?"

Ich nicke, den Blick auf sein schönes Gesicht fokussiert. Momentan geht es mir tatsächlich besser. Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass ich mich emotional so verausgabt habe, dass einfach nichts mehr übrig ist, doch in diesem Moment nehme ich es einfach so hin. Ich konzentriere mich viel lieber auf den hübschen Jungen vor mir.

"Also kann ich dich da rein gehen lassen, ohne mir Sorgen zu machen, dass du nochmal so eine Nummer wie eben abziehst?"

Seine Worte sollten mich verletzen, aber das tun sie nicht. Ich bin viel zu gefesselt vom Anblick seiner Lippen. Ohne weiter darüber nachzudenken, sage ich: "Du kannst ja mit hoch kommen und dich davon überzeugen."

Sein Kopf ruckt hoch. Überraschung und noch etwas - Verwirrung? Freude? - schwingt in seinem Blick, als er mich ausgiebig mustert. Ich stehe nur da, schaue zurück und warte auf eine Reaktion auf meine kühnen Worte.

Findet er mich nicht attraktiv? Habe ich ihn vielleicht verschreckt? Natürlich habe ich das.

Ich würde mir am Liebsten selbst gegen den Kopf schlagen. Welcher normale Typ würde mit dem Mädchen, das er eben noch vom Suizid abgehalten hat, weniger als eine halbe Stunde später rummachen?

"Ich verstehe dich nicht, Liz, und das ist das Beste an dir." Er legt den Kopf schräg, mustert mich erneut mit seinen hübschen dunklen Augen. "Alle Anderen in dieser Stadt sind so langweilig. So verdammt berechenbar. Ich habe mich zu Tode gelangweilt und das seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Fuß in diese Stadt gesetzt habe. Als wir uns an diesem Abend kennengelernt haben, da stand ich kurz davor abzuhauen. Einfach in den nächsten Zug springen und raus aus dieser jämmerlichen Stadt. Ich dachte, ich hätte alles gesehen, was diese Stadt zu bieten hat. Und dann kamst du aus dem Haus gestürmt."

Noch immer betrachtet er mich mit diesem ernsten Blick, der mich dazu bringt nervös von einem Fuß auf den Anderen zu treten. Meine Frage hat er noch immer nicht beantwortet und ich habe keine Ahnung worauf er mit seiner Erklärung hinaus will.

"Du hast dort auf dieser Veranda gestanden und einfach geschrien. Ganz plötzlich. Im ersten Moment habe ich mich fast zu Tode erschreckt, aber sofort danach wollte ich wissen, was du da tatest. Es hat mich interessiert. Verstehst du?"

Nein, tue ich nicht, aber ich nicke trotzdem. Seine Worte klingen in meinen Ohren nach.

Es hat mich interessiert.

Er sagt das, als wäre es eine wahre Errungenschaft.

"Und dann haben wir uns kennengelernt und ich habe dich kein Stück mehr verstanden. Ich wusste, dass du littest. Da war so verdammt viel Schmerz in deinen Augen, nur ein Idiot hätte das übersehen können. Trotzdem standest du vor vor mir, sprachst mit mir, hast Witze gemacht und ich dachte die ganze Zeit nur: Wie schafft sie das? Ich habe dich nicht verstanden, tue ich noch immer nicht völlig, aber ich habe dich bewundert."

"Warum?" Ich schlucke hart und muss erneut die Tränen zurückhalten. "Warum solltest du mich bewundern? Ich habe versucht mich umzubringen. Zweimal. Ist das nicht das größte Zeichen für Schwäche?"

Emil zuckt mit den Schultern und schaut zur Seite, als wären ihm die folgenden Worte peinlich. "Mag sein, aber immerhin hast du dich deinem Schmerz gestellt, hast ihn jahrelang ausgehalten. Ich renne immer nur vor ihm davon." Als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sieht, fügt er mit leiser Stimme hinzu: "Mein kleiner Bruder ist vor einem Jahr gestorben. Autounfall."

Oh. Oh.

Das ist das Letzte, womit ich gerechnet habe und seine Worte überraschen mich so sehr, dass ich einen Schritt zurück mache. Es dauert einen Moment, bis mir die Bedeutung dieser Worte bewusst wird. Sein Bruder ist tot. Er hat seinen Bruder verloren.

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

"Das tut mir leid", sage ich schließlich, weil es nichts Anderes gibt, was ich in dieser Situation sagen könnte. Dabei habe ich noch nie etwas so sehr gemeint. Es tut mir wirklich leid, dass er das erleben musste, aber meine Worte haben für ihn natürlich gar keine Bedeutung. Das weiß ich.

"Danke." Emil schluckt und schaut mir noch immer nicht in die Augen. "Das ist der Grund, warum meine Eltern sich getrennt haben. Nun ja, einer der Gründe. Besonders gut lief es vorher auch nicht, aber Nico war der Klebstoff, der sie zusammenhielt. Als er starb, hat sie das zerstört. Es gab keinen Grund mehr für die Beiden zusammen zu bleiben, also hat meine Mutter sich so schnell wie möglich ihren letzten Sohn geschnappt, ihn ins Auto gezerrt und ist in ihre Heimat gezogen."

Als ich den Schmerz in seinem Gesicht sehe, kann ich mich nicht zurückhalten. Ich muss ihn einfach berühren. Langsam mache ich einen Schritt auf Emil zu, greife nach seinen Händen und umschließe sie. Sie sind eiskalt.

Nun schaut er mich doch an. Erst überrascht und dann mit so viel Nachdrücklichkeit, dass ich mich zwingen muss, nicht zur Seite zu schauen. Das ist so untypisch für ihn. Aber wer bin ich schon, um das zu beurteilen? Eigentlich kenne ich ihn ja kaum. Vielleicht ist das der echte Emil. Vielleicht ist Nachdrücklichkeit ja typisch für ihn.

"Ich bewundere dich, weil du deinen Schmerz fühlst. Er mag dich an deine Grenzen getrieben haben, aber du setzt dich mit ihm auseinander. Ich laufe nur davon. Tue so, als wäre Nico nie von diesem Auto angefahren worden, als wäre ich nie auf seiner Beerdigung gewesen, als wäre er nie gestorben. Ich verdränge all das, trinke und rauche und hoffe einfach, dass der Schmerz weggehen wird, wenn ich ihn nur lange genug ignoriere."

Das wird er nicht, will ich sagen.

Du solltest mich nicht bewundern, will ich sagen.

Ich verstecke mich auch vor dem Schmerz, will ich sagen.

Aber ich tue es nicht. Ich sage nichts davon, weil in seinem Blick so viel Hoffnung liegt, dass ich es nicht übers Herz bringe, sie zu zerstören. Er bewundert mich wirklich und ich kann ihm die Illusion nicht nehmen. Ich weiß wie es ist, wenn der Schmerz so schwer ist, dass man nicht glaubt, ihn jemals ertragen zu können. Ich weiß auch, wie es sich anfühlt so verzweifelt jemanden zu suchen, der einen aus der Dunkelheit zieht. Und für Emil bin momentan dieser jemand ich.

Er muss wirklich verzweifelt sein.

Und weil ich nicht lügen will und keine Wahrheit finde, die ihm Trost spenden kann, lehne ich mich vor und küsse ihn.

Seine Lippen fühlen sich weich auf meinen an und es dauert nur einen Moment, bevor Emil sich von seiner Überraschung erholt und mich näher an sich zieht. Er legte die rechte Hand auf meine Taille und umfasst mit der Linken meine Wange. Ein wohliges Kribbeln durchfließt meinen Körper und ich wünsche mir, dass es nie mehr weggeht.

Zuerst sind die Küsse zärtlich und vorsichtig, doch schnell verwandeln sie sich in etwas Leidenschaftliches. Etwas Verzweifeltes. Seine Hand vergräbt sich in meinem Haar, während er mich noch näher an sich zieht und seine Zunge in meinen Mund eindringt. Wir sind wie zwei Ertrinkende, die endlich an die Wasseroberfläche kommen.

Ich weiß nicht, wie wir es schließlich schaffen uns voneinander zu lösen, doch es gelingt uns. Emils Brust hebt und senkt sich viel zu schnell. Sein Blick ist umnebelt. Ich kann mir denken, dass ich ganz ähnlich aussehe. Mein Herz rast, doch zum ersten Mal seit Langem tut es das nicht aus Angst.

Ohne auf ein weiteres Wort von ihm zu warten, krame ich meinen Schlüssel heraus, schließe die Haustür auf und bedeute ihm, mir leise zu folgen. Er tut es. Ich horche kurz, doch ich kann aus dem Inneren des Hauses keine Geräusche hören. Papa und Leo müssen wohl schon am Schlafen sein. Gut so. Hintereinander tapsen Emil und ich die Treppe hinauf und als wir oben angekommen sind, schiebe ich Emil in mein Zimmer, bevor ich die Tür langsam schließe.

Kaum habe ich das getan, sind seine Hände auch schon auf meiner Hüfte und seine Lippen auf meinem Mund. Ich schmiege mich an ihn, gebe mich seinen Küssen völlig hin und fahre mit den Händen durch sein kurzes Haar. Er stöhnt. Ich grinse zufrieden in unseren Kuss hinein.

Ich denke in diesem Moment nicht nach. All die unliebsamen Gefühle und Erinnerungen schieben sich wie von selbst in den hinteren Teil meines Gedächtnisses und ich bin dankbar dafür. Scheinbar ist mir eine Nacht ohne Sorgen vergönnt.

Noch immer fest umschlungen, gehen wir auf mein Bett zu. Die weiche Matratze gibt unter mir nach, als ich mich auf den Rücken lege und Emil auf mich ziehe. Ich kann ihm nicht nah genug sein. Schamlos stöhne ich in unseren Kuss hinein und streiche von seinem Nacken, über seine Schultern seinen Rücken hinunter. Es braucht nur ein Zupfen an seinem Pullover, bis Emil versteht, mich angrinst und das Kleidungsstück rasch über den Kopf zieht.

Gierig wandert mein Blick über seinen Oberkörper. Emil ist nicht besonders durchtrainiert, eher schlank und drahtig. Ich bin erleichtert, denn wenn er muskelbepackt gewesen wäre, hätte ich mich wohl für meinen eigenen Körper geschämt. Doch die Art, wie er mir jetzt das T-Shirt auszieht, meinen Oberkörper begierig betrachtet und mein Dekoleté mit zarten Küssen übersät, lässt mich alle Unsicherheiten vergessen.

Mein Kopf ist leer. Alles was ich fühle, sind Emils Hände, die unter den Bund meines Slips wandern und seine heißen Küsse auf meinem Hals. Vergessen sind der Schmerz, die Ereignisse des heutigen Tages und Emils Geständnis.

Wir sprechen nicht, als er schließlich in mich eindringt. Der Schmerz ist nicht so schlimm, wie ich es befürchtet hatte. Er wird überwältigt von der Lust, die kurz darauf einsetzt und für einen viel zu kurzen Augenblick ist sie das Einzige, was mein Sein erfüllt. Die Welt löst sich in eine Million Bestandteile. Pure Glückseligkeit, die besser ist, als jedes High, das ich zuvor erlebt habe.

Und dann ist es vorbei. Einfach so.

Wir liegen eine Weile schweigend nebeneinander, keuchend und mit rasenden Herzen. Die Wolke der Lust löst sich schmerzhaft schnell auf und ich trauere ihr schon jetzt hinterher. Ich starre an die Decke, die wie der Rest meines Zimmers schwarz gestrichen ist, bis mein Blick wieder völlig klar ist.

Mit der Klarheit kommen die Erinnerungen zurück, die sich schwer auf meiner Brust niederlassen. Es ist zum Schreien.

Ich seufze und drehe den Kopf zu Emil, mustere sein Gesicht. Die hübschen dunkelbraunen Augen, mit den vollen Wimpern. Die flache Nase, die ein bisschen schief ist. Die Wangenknochen. Der breite Mund. Die vollen Lippen.

Die Schwere bleibt.

"Kannst du mich halten?"

Ich bin ebenso überrascht von den Worten, die meinen Mund verlassen wie Emil. Mit gerunzelter Stirn schaut er zu mir herüber, mustert mich, zögert.

Dann tut er es. Er schlingt die Arme um mich, zieht mich ganz nah an sich und vergräbt das Gesicht in meinem Nacken. Die ganze Nacht lang lässt er mich nicht los und ich weiß nicht, wer von uns Beiden das hier gerade mehr braucht.

Und während ich mich in seiner Wärme suhle, spüre ich, wie die Schwere auf meiner Brust leichter wird. Ein bisschen nur, aber ich spüre es.

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