22 | die welt um mich herum
Die Welt um mich herum dreht sich.
Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und laufe weiter geradeaus. Meine Schritte sind etwas unbeholfen und eigentlich bewege ich mich wohl eher in Schlangenlinien fort.
Mir ist es egal. Mir ist alles egal.
Ich spüre noch immer Davids Hände auf meiner Haut, kann noch immer seine feuchten Küsse und seinen heißen Atem spüren. Eine Gänsehaut breitet sich über meinem ganzen Körper aus und Ekel steigt in mir auf. Auf der Suche nach Halt, fahre ich mir fiebrig durch die langen Haare. Ich wünschte, ich könnte die Erinnerungen einfach beiseite schieben, doch in der Schublade, in der ich all meine anderen unerwünschten Emotionen verstaue, ist kein Platz mehr. Sie droht auseinander zu bersten.
Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.
Ich werde ganz sicher nicht zu lassen, dass dieses Arschloch der Grund für meine nächste Panikattacke ist. Das ist er verdammt nochmal nicht wert! Also atme ich weiter tief durch und konzentriere mich auf die gepflasterte Straße vor mir. Zähle meine Schritte. Vermeide die Linien. Alles, nur nicht denken.
Nicht denken. Nicht denken. Nicht denken.
Nachdem ich eine Weile herumgeirrt bin, ohne meine Umgebung wirklich wahrzunehmen, schaue ich schließlich auf.
Wo zur Hölle bin ich?
Ich drehe mich um meine eigene Achse und betrachte meine Umgebung. Ich stehe mitten auf einer Brücke, unter der ein schmaler Fluss fließt. So sehr ich mich auch bemühe das Straßenschild am Ender des Weges des Weges zu entziffern, es ist viel zu weit weg und viel zu dunkel, als dass ich es lesen könnte. Eigentlich kenne ich den Namen der Brücke, doch er will mir nicht einfallen.
Vielleicht etwas mit B? Oder war es D? Ist ja auch egal.
Aus der Entfernung höre ich noch dumpf Musik, also kann ich mich nicht wirklich weit von der Party entfernt haben. Noch immer kann ich den Druck von Davids Händen auf meiner Haut fühlen. Ich lege den Kopf in den Nacken und leere die Flasche, deren Inhalt meine Kehle noch immer brennen lässt. Gut so.
Schon wieder dreht sich die Welt um mich herum. So viel habe ich doch gar nicht getrunken! Ob das an den Tabletten liegt? Naja, ist ja auch egal.
Wankelnd gehe ich an den Rand der Brücke zu und lehne mich gegen die steinerne Mauer. Die Flasche stelle ich neben mir auf den Boden und allein durch diese kleine Bewegung, wird mir schwindelig. Hastig kreuze ich kreuze Arme, lege das Kinn auf ihnen ab und lausche dem Plätschern des Wassers.
Ein Schluchzen überkommt mich.
So plötzlich wie ich die Verzweiflung weggeschoben habe, ist sie auch wieder da. Sie überrollt mich mit voller Kraft und nimmt mein ganzes Sein ein. In meinem Kopf ist kein Platz für klare Gedanken. Alles was ich spüre, ist unendlicher unumgänglicher Schmerz. So viel Schmerz.
Erst ist das Schluchzen noch ganz leise, doch schnell überströmen Tränen mein Gesicht und mein Körper wird von einem ausgewachsenen Heulkrampf geschüttelt. Rastlos reibe ich mir übers Gesicht und fahre mir durch die Haare, während ich immer und immer wieder von verzweifelten Schluchzern geschüttelt werde. All die Emotionen, die sich seit meinem Streit mit Henri, ja eigentlich schon seit meiner Rückkehr nach Hause, in mir angestaut haben, kommen nun an die Oberfläche. Vielleicht haben Davids abartige Hände sie freigesetzt, denke ich bitter. All meine Emotionen kommen jedenfalls in einer Welle, die so groß ist, dass sie droht über mir einzubrechen und mich fort zu schwemmen.
Ich lasse sie.
Ich fühle sie.
Da ist die Einsamkeit, die ich in unserem riesigen Haus fühlte, wann immer Papa nicht da war. Das Gefühl nicht dazu zu gehören, wann immer ich mit Henri und seinen Freunden abhing. Die Rastlosigkeit, wenn ich mal wieder den ganzen Tag allein in meinem Zimmer saß. Das Hoch, das ich nach meinem ersten Joint fühlte, die Ruhe nach meiner ersten Xanax. Das schreckliche Tief, wenn die Drogen meinen Körper verließen. Die Sehnsucht, mich jemandem anzuvertrauen. Die Angst, verurteilt oder nicht ernstgenommen zu werden. Die Verzweiflung, wenn ich morgens aufwachte und mir nichts sehnlicher wünschte als wieder einzuschlafen. Die Kraftlosigkeit, die ich empfand, weil jeder Moment, in dem ich atmete, mir zu viel Energie raubte. Und dann kam die Taubheit, die Wut und die Scham.
All diese Emotionen strömen auf mich ein, verzehren mich und fordern alle auf einmal gespürt zu werden. Es ist die reine Hölle.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf der Brücke stehe und einfach vor mich hin weine. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, doch in Wahrheit waren es wahrscheinlich nur wenige Minuten. Als irgendwann keine Tränen mehr da sind und mein Körper vor Erschöpfung bebt, beuge ich mich über die Mauer und schaue nach unten. Der Fluss plätschert weiter vor sich hin, gänzlich unbeirrt von meinem Ausbruch. Aus irgendeinem Grund regt sich bei dem Anblick bei mir etwas. Ohne groß über meine nächste Handlung nachzudenken, greife ich nach der Flasche zu meinen Füßen, hole aus und werfe sie ins Wasser. Sie kommt mit einem Plopp auf der Wasseroberfläche auf, generiert ein paar mickrige Wellen und schwimmt dann an der Oberfläche mit dem Strom weiter.
Dieser lächerliche Anblick macht mich nur noch ungehaltener.
"Ich hasse diese Stadt!", brülle ich in die Dunkelheit hinein. "Ich hasse diese verdammte Stadt, ich hasse ihre verdammten Bewohner und ich hasse, was sie aus mir gemacht hat. Ich hasse einfach alles!"
"Amen", meint eine sarkastische Stimme hinter mir.
Ich drehe mich nicht zu Emil um, ich weiß einfach, dass er es ist, und starre stattdessen auf meine Hände. Um mich für meinen Ausbruch zu schämen bin ich viel zu wütend, zu betrunken und zu erschöpft. Wahrscheinlich ist er peinliche Ausbrüche schon von mir gewohnt, denke ich, in Erinnerung an unser erstes Treffen. Das bringt mich dazu trocken aufzulachen. Kurz darauf spüre ich Emil neben mir.
"Was machst du hier?" , frage ich schließlich matt.
Er zuckt mit den Schultern. "Ich hab nach dir gesucht."
"Das brauchst du nicht", behaupte ich mit einem bitteren Lachen. Demonstrativ drehe ich mich dem Fluss zu. "Mir geht es wunderbar. Absolut fantastisch, wie du sehen kannst! Ich brauche kein Hündchen, das mich auf Schritt und Tritt verfolgt."
"Sei nicht so zickig", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Empört schnaube ich, doch er ignoriert mich einfach. "Du warst betrunken und wirktest nicht wie du selbst. Linus und ich wollten abhauen, aber als ich gesehen habe, wie du davon gestürmt bist, wollte ich nur kurz nach dir sehen. Sichergehen, dass alles okay ist."
"Warum das?" Er schweigt und nun sehe ich Emil doch wirklich an. Sein dunkles Haar ist wieder unter seiner schwachsinnigen Wollmütze versteckt und er ist neben mir über die Mauer gelehnt. Sein Kiefer ist angespannt und er weicht meinem Blick schuldbewusst aus. Der Anblick macht mich nur noch zorniger und ich lasse zu dass der Zorn, die Kontrolle übernimmt. "Sag schon! Was hat man dir über mich erzählt, dass du der Meinung bist, auf mich aufpassen zu müssen?"
Noch immer keine Antwort.
"Ich hab dich etwas gefragt, Emil!" Wenig sanft umfasse ich sein Kinn und zwinge ihn, mich mit seinen hübschen dunklen Augen anzusehen. "Was dachtest du würde ich tun?"
Als Antwort auf sein schuldbewusstes Schweigen, schiebe ich die Ärmel meines roten Sweaters hoch und hieve mich auf das steinerne Geländer der Brücke.
"Was zur Hölle machst du da?" Verwirrung und Sorge klingen aus seiner Stimme, während er mit gerunzelter Stirn zu mir aufblickt.
"Genau das, was du von mir erwartet hast!" Ich schwinge die Beine über die Brücke. Der Stein ist gerade so breit, dass ich relativ sicher darauf sitzen kann. Wütend blicke ich Emil an, der mich jetzt mit aufgerissenen Augen und riesigen Pupillen anstarrt. "Das ist es doch, was du dachtest, oder? Das ist es doch, was die Anderen dir über mich erzählt haben: Dass ich verrückt und suizidal bin! Dass ich versucht habe mich umzubringen und es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich es wieder tue."
"W-Was? Nein.. Ich-", stottert er und umfasst hastig meinen Oberarm, wohl um mich davon abzuhalten hier und jetzt von der Brücke zu springen. Die schiere Angst, die in seinen Augen schimmert, nüchtert mich schlagartig aus. Weg ist die Energie, die mir die Wut noch vor Sekunden verliehen hat und zurück die lähmende Verzweiflung.
"Vielleicht", beginne ich jetzt mit einer Stimme, die selbst in meinen Ohren tonlos klingt, "haben sie Recht. Vielleicht habe ich unterbewusst nur auf die Gelegenheit gewartet, es endlich zu beenden. Auf einen Moment, in dem ich ungestört bin und endlich tun kann, woran ich vor Monaten gescheitert bin."
"Liz, mach keinen Scheiß. Ernsthaft, komm da runter!"
Ich nehme Emils Worte kaum wahr. Mein Körper ist schlaff und mein Blick auf den Fluss gerichtet. "Weißt du, als ich in der Klinik war, haben die Ärzte und Psychiater sich geweigert mir Schlafmittel zu geben, selbst als ich nächtelang wach lag. Ich habe gebettelt und gebettelt, sie mögen mir endlich helfen, doch keiner hat etwas getan. Mein Körper war so daran gewöhnt jeden Tag mit Tabletten vollgepumpt werden, dass er ohne Beruhigungs- oder Schlafmittel einfach nicht mehr klar kam. Also lag ich stundenlang einfach da und habe die Wand angestarrt. Ich habe gestarrt, mich herum gewälzt und nachgedacht. Ich habe stundenlang darüber nachgedacht, was ich getan habe und wie wütend ich auf mich war, dass ich nicht tiefer geschnitten oder mehr Tabletten genommen hatte. Paradox, oder? Ich war in dieser Klinik, um meine Suizidgedanken loszuwerden und alles was sie gebracht hat, war, dass ich mir den Tod noch sehnlicher wünschte."
"Komm einfach da runter, hörst du? Selbst wenn du springst, würdest du nicht sterben. Die Brücke ist viel zu niedrig." Emil versucht es mit einem Lächeln, doch als ich nicht zurück lächle, wird er wieder ernst und umfasst meinen Arm fester. "Lass uns darüber reden. Wir finden schon eine Lösung, aber bitte, komm erstmal darunter."
Er hat Recht. Die Brücke ist viel zu niedrig. Ich würde mir maximal ein paar Knochen brechen, am wahrscheinlichsten aber einfach ziemlich frieren. Einen Moment lang sitze ich nur völlig bewegungslos da und schaue zwischen Emil und dem Fluss hin und her.
Ich habe getrunken und ich weiß, dass die Xanax noch immer in meinem Körper ist, doch ich fühle mich so nüchtern, wie nie zuvor. Ich spüre Emils kühle Hand auf meinem Arm und, anders als bei David, beruhigt mich sein fester Griff. Ich weiß nicht wann oder wieso es passiert ist, doch mein Innerstes ist zur Ruhe gekommen und alles was ich spüre, ist der Junge neben mir, der mich noch immer flehentlich ansieht.
Schließlich schwinge ich die Beine über die Mauer und lasse mir von Emil herunter helfen.
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