19 | ich gehe da nie wieder hin

"Ich gehe da nie wieder hin!"

Entrüstet blickt mein Vater mich an. "Natürlich wirst du heute wieder zur Therapie gehen! Das steht gar nicht zur Debatte."

Genervt schiebe ich meine Müslischale von mir und lege den Löffel zur Seite. Ich schlage einen ernsten Ton an und gebe mir die größte Mühe überzeugend zu klingen: "Die Therapie bringt mir einfach nichts, Papa. Was für einen Sinn ergibt es, dort jede Woche hinzufahren, wenn ich sowieso nur meine Zeit verschwende?"

"Jetzt, erzähle keinen Schwachsinn, Liz! Du verschwendest deine Zeit nicht, aber Therapien brauchen eben etwas Zeit. Du gehst solange zu Frau Siebert, bis sie sagt, dass du es nicht mehr musst, hörst du?"

Er sagt das in einem Ton, der keine Widerrede erlaubt. Ich wäre nicht seine Tochter, wenn ich mich daran halten würde.

"Das ist so unfair. Du kannst mich nicht zwingen zu gehen!"

Spätestens jetzt merke auch ich, wie kindisch ich klinge, doch das ist mir mittlerweile auch egal. Ich will wirklich nicht mit Frau Siebert sprechen. Ich will mir nichts aus der Nase ziehen lassen, will nicht darüber reden, ja nicht einmal darüber nachdenken, was ich getan habe. Alles was ich will, ist mich in meinem Zimmer verkriechen und die Welt um mich herum zu vergessen.

Mein Vater zeigt sich gänzlich unbeeindruckt, nur die Verwendung meines vollen Namens lässt seine Wut erkennen. "Elisabeth Stern, du wirst heute zur Therapie gehen, keine Widerrede, und wenn ich dich höchstpersönlich dahin schleifen muss, hast du mich verstanden?"

Wir liefern uns für einige Sekunden ein Blickduell, bevor ich frustriert schnaubend aufspringe und nach oben haste.

"Liz!"

Meine Antwort besteht aus einem lauten Türknallen.

Ich kann da heute nicht hingehen! Ich kann einfach nicht.

Frau Siebert wird es merken. Sie wird merken, dass ich versagt habe, dass ich Henri von mir gestoßen habe und sie wird merken, dass ich ein grauenvoller Mensch bin. Und dann wird sie mich fragen, wie ich mich dabei fühle und dem kann ich mich nicht stellen, ohne auf der Stelle in tausend Einzelteile zu zerspringen.

Mein Atem verschnellert sich und mein Herz pocht viel zu schnell in meiner Brust. Mit feuchten Handflächen fahre ich mir übers Gesicht.

"Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht", murmele ich verzweifelt vor mir her, während ich mich auf die Bettkante setze und den Kopf zwischen die Beine lege.

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

Mein Atem will sich nicht beruhigen.

Komm schon!

Es bringt nichts, mein Puls rast noch immer und das altbekannte Pochen in meinem Kopf übertönt meine Gedanken. Ich tue das Einzige, von dem ich weiß, dass es helfen wird. Hastig reiße ich die unterste Schublade meiner Kommode auf, wühle durch die Klamotten und fische aus der hintersten Ecke das kleine Metalldöschen heraus.

Es liegt kühl in meiner Hand. Mit zitternden Fingern öffne ich es und nehme die zwei gelblichen Tabletten, die einsam darin liegen, heraus. Kraftlos raffe ich mich auf, greife nach der Wasserflasche auf meinem Nachttisch und drehe sie auf. Ich schlucke beide Tabletten gleichzeitig und fokussiere mich dann auf einen Punkt an der Decke, während ich darauf warte, dass sich mein Herzschlag wieder normalisiert.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, das zur Straße hinaus zeigt. Der Himmel ist wolkenlos und die Bäume blühen so grün, dass die Szene beinahe aussieht wie ein Gemälde. Ein Windstoß bringt die Äste der Bäume zum Wiegen. Alles ist ruhig und friedlich.

Es ertönt ein Klopfen an meiner Tür.

"Liz?" Selbst dumpf durch die Tür hindurch, klingt Leos Stimme nervös und vorsichtig. "Komm schon, Schwesterchen, du weißt, dass du zur Therapie musst. Bitte. Es ist das Beste für dich." Er schweigt einen Moment. "Du machst es nur noch schlimmer, wenn du weiter mit Papa streitest. Er meint es doch nur gut."

Natürlich meint er das.

Plötzlich schäme ich mich. Ich schäme mich so sehr, dass die Panik, die ich eben noch gefühlt habe, gänzlich verschwindet und nur noch Scham hinterlässt, die sich wie Säure durch mein Herz frisst.

Du hast uns alle zerbrochen. Du hast uns alle zerbrochen. Du hast uns alle zerbrochen.

"Okay", lenke ich ein, gerade laut genug, dass Leo mich hört.

Einen Moment lang herrscht Stille und ich denke schon, dass er gegangen ist, doch dann fügt er mit brüchiger Stimme hinzu: "Danke, Lizzie."

Für so etwas sollte er sich nicht bedanken müssen, denke ich.

✦ ✦ ✦

Ich höre Frau Siebert nicht wirklich zu, als sie auf mich einredet. Ich habe noch immer die Angst in Papas Blick vor Augen, als ich heute morgen die Treppe mit Leo an meiner Seite herunter kam. Die Erleichterung, die seinen ganzen Körper durchströmte, als er mich gesund und lebendig sah, sitzt mir noch immer tief in den Knochen, genauso wie die unendlich große Scham.

Vielleicht war sie schon immer da, die Scham über das was ich getan habe, doch bisher war sie gut vergraben unter all der Wut, die ich mit mir herum trug. Die Wut war mein Panzer, mein undurchdringlicher Schutzschild, vor sehr viel tödlicheren Gefühlen.

"Liz?", fragt meine Psychologin und reißt mich damit aus meinen düsteren Gedanken. "Hörst du mir zu?"

Ich vermeide ihren Blick und rutsche unbehaglich auf meinem Platz herum, doch sie lacht nur auf und wiederholt ihre Worte: "Ich habe eben gesagt, dass es ganz normal ist, das Gefühl zu haben allein zu sein, doch du musst dir in solchen Situationen bewusst machen, dass du ganz viele Menschen um dich herum hast. Menschen, die dich lieben und die dich unterstützen wollen."

"Das ist ja das Problem", nuschele ich in mich hinein.

"Wie bitte?"

Ach Scheiß drauf.

Ich atme tief durch. "Das ist ja das Problem, habe ich gesagt. Ich will nicht, dass sie mir helfen."

Frau Siebert runzelt die Stirn und stellt ihre Teetasse auf dem Tischchen zwischen uns ab, plötzlich sehr viel interessierter als noch vor einigen Sekunden. "Und warum nicht?"

"Weil ich ihnen nur weh tue." Betreten tunke ich den Teebeutel wiederholt in meine Tasse. "Ich habe ihnen damals weh getan und ich tue es jetzt wieder. Wenn sie aufhören würden mich zu lieben und mir helfen zu wollen, dann würden sie sich eine ganze Menge Mist ersparen."

"Aber meinst du nicht, dass du ihnen das wert bist?"

Jetzt schaue ich doch auf und runzele die Stirn, während ich versuche meine Gedanken zu strukturieren. Aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht ganz verstehe, will ich, dass sie es versteht. Es wirklich versteht.

Mit ruhiger Stimme erkläre ich also: "Wissen Sie, ich habe die letzten Monate nicht für mich gelebt. Ich habe mich jeden morgen aus dem Bett gequält, weil ich meinem Vater nicht nochmal das Herz brechen konnte, weil ich Henri nicht nochmal enttäuschen wollte. Ich habe für sie gelebt, nicht für mich. Aber jetzt? Jetzt weiß ich nicht, ob das nicht vielleicht falsch von mir war. Vielleicht muss ich ihnen das Herz noch einmal brechen, hart und schnell. Vielleicht ist es das Beste für sie."

Ich zögere, strukturiere meine Gedanken und senke de Blick auf meine fröhliche Tasse.

"Ohne mich sind sie besser dran. Es ist selbstsüchtig, aber ich kann nicht zusehen wie mein Vater Marie verliebt anschaut, wie Henri Lara küsst. Ich kann einfach nicht. Ich weiß, dass sie Glück verdienen - ich will dass sie glücklich sind, wirklich - aber das geht nur wenn ich nicht mehr da bin, denn ich kann verdammt nochmal nicht dabei zu sehen."

Frau Siebert schweigt sehr lange. Ich denke schon, dass sie gar nichts mehr sagen will, als sie schließlich nach meiner Hand greift. Überrascht blicke ich in ihre warmen braunen Augen.

"Menschen sind in der Lage mehr als eine Person zu lieben, Liz. Nur weil dein Vater und Henri jetzt andere Menschen in ihr Herz geschlossen haben, heißt das nicht, dass sie dich daraus verdrängt haben, verstehst du? Die Liebe, die deine Freunde und Familie für dich empfinden, ist einzigartig. Sie ist einzigartig und du verdienst sie."

Wenn ich das nur glauben könnte.

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