17 | das blut gefriert mir in den adern


Das Blut gefriert mir in den Adern. Schockiert starre ich Maja an und hoffe, dass ich mir ihre Worte nur eingebildet habe. Ihr schuldbewusster Blick und die verwirrten Gesichter der Anderen, sagen jedoch etwas Anderes.

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

"Oh Gott, sorry", entschuldigt sie sich sofort und kratzt sich verlegen am Kopf. "Ich habe mal wieder nicht nachgedacht. Das ist mir einfach so rausgerutscht. Wirklich! Weißt du, ich habe nicht viel mit Gossip am Hut, vorallem nicht über Leute aus der Stufe unter mir, aber das war schon irgendwie krass, was die Leute erzählt haben. Und da wollte ich, naja", sie zuckt mit den Schultern, "wissen ob es stimmt."

Ich schlucke hart. Was soll ich denn darauf antworten? Klar stimmt es und eigentlich kann ich auch nicht wirklich etwas Anderes behaupten, aber ich habe dieses Mädchen vor zehn Minuten erst kennengelernt! So sympathisch sie auch sein mag, ich bin nicht bereit mit ihr über den intimsten Moment meines Lebens zu sprechen. Und den schamvollsten.

"Mann, Maja, jetzt lass sie doch mit deinen ständigen Fragen in Ruhe!", meldet sich zu meiner Überraschung Julius, der grimmig wirkende Hüne, zu Wort. "Das geht uns doch gar nichts an."

Ich atme erleichtert aus und würde mich am Liebsten für sein Einschreiten bedanken.

"Stimmt." Maja nickt energisch und wirft mir ein weiteres entschuldigendes Lächeln zu. "Sorry nochmal."

Linus fragt das Mädchen mit den wilden Locken nach ihrer Schwester und gibt sich die größte Mühe das Gespräch schnell voranzutreiben. Während die beiden also diskutieren, versinke ich in Gedanken.

Warum läuft alles immer wieder auf diesen einen verdammten Moment zurück?

Wie soll ich denn jemals weitermachen, wenn sogar Leute, die ich nie zuvor getroffen habe, mich sofort als das "Selbstmordmädchen" abstempeln? Wie kann man etwas hinter sich lassen, wenn es so verdammt omnipräsent ist?

Noch immer in Gedanken, spüre ich Emils brennenden Blick auf mir. Ich hebe den Kopf und starre direkt in seine umnebelten dunklen Augen, die mich taxieren. Er hat die Augenbrauen zusammengezogen und betrachtet mich, als wäre ich ein Rätsel, dass er zu lösen versucht. Überraschenderweise ist da kein Mitleid in seinen Augen und auch keine Sorge.

Ist das Interesse auf seinen Zügen? Faszination vielleicht?

Bevor ich mir sicher sein kann, wendet Emil den Blick ab und greift hinter sich. Er holt eine Gitarre hervor, die ich bisher nicht entdeckt hatte, weil sie von den Taschen der Anwesenden verdeckt war.

"Oho, bekommen wir etwa eine kostenlose Kostprobe?", fragt Maja in einem Sing-Sang und wendet Emil ihre Aufmerksamkeit zu.

"Mann, uns brauchst du nicht mehr aufzureißen!", witzelt Linus und schlägt seinem Cousin spielerisch auf den Oberarm. "Wir sind dir doch alle schon verfallen."

Emil grinst ihn an und zwinkert mir heimlich zu. Ich erröte.

War das ein Wink mit dem Zaunpfahl? Denkt er, dass ich ihm verfallen bin? Will er, dass ich ihm verfalle? Vermutlich interpretiere ich da zu viel hinein, denke ich und schüttele den Gedanken rasch ab.

Emils Gitarrenspiel ist überraschend gut. Er nutzt keine geschickten Handgriffe und hin und wieder verspielt er sich, aber er tut es mit so einer Lässigkeit und Selbstbewusstsein, dass es niemanden stört. Es ist schön ihm zuzuhören und einfach ganz chaotisch mitzuschwenken, wie es Linus, Maja und sogar Julius tun. Ihr ausgelassenes Lachen ist ansteckend und so habe auch ich nach einiger Zeit meine Anspannung abgelegt.

"Oh, Mann, du spielst das ganz falsch", kichere ich und überrasche mich selbst, als ich sage: "Lass mich mal!"

Bereitwillig recht mir Emil seine Gitarre, die etwas zu groß für mich ist, sich aber doch gut in meinen Händen anfühlt. Das kalte Holz fühlt sich vertraut an und ich streiche andächtig über die Saiten.

Es dauert nicht lange, bis ich wieder völlig in meinem Element bin und die Musik nur so aus mir heraus strömt. Vergessen sind Gedanken an Noten und Techniken. Meine Finger wissen was sie zu tun haben und jahrelange Erfahrung übernimmt die Kontrolle.

"So macht man das!", verkündet Linus und die aufrichtige Bewunderung in seiner Stimme, macht mich bin ein bisschen stolz. Es ist schön, anerkannt und gelobt zu werden, vor allem dann, wenn man normalerweise von Kritik nur so überladen wird.

Ich spiele noch eine Weile, bis Maja irgendwann sagt, dass auch sie es einmal probieren will. Sie spielt fürchterlich schlecht und bringt uns alle mit ihrem Krach zum Lachen. Schließlich reißt Linus ihr die Gitarre mit einem gutmütigen "Mir fallen bald die Ohren ab" aus den Händen.

Die Zeit fliegt nur so dahin und als ich das nächste Mal auf mein Handy schaue, ist es bereits fünf Uhr.

"Ich muss jetzt wirklich los", gestehe ich widerstrebend und raffe mich auf. Ich will nicht gehen, aber ich weiß, dass Leo mich umbringt, wenn ich nicht wieder da bin, wenn Papa nach Hause kommt und er ihm erklären muss, warum er mich so lange allein gelassen hat. Ich klopfe meine Klamotten ab und strecke mich.

"Ich bringe dich nach Hause." Emil springt auf, schnappt sich die Hundeleine und macht sie bereits an Bennys Halsband fest.

"Das musst du nicht-"

"Doch, doch.", widerspricht er und schlüpft in seine übergroße Jacke. "Mach ich gerne."

Mein dummes Herz kann natürlich nicht anders, als einen kleinen Hüpfer zu machen. Ich hasse es dafür, doch es ist alle Mal besser, als eine weitere obsessive Gedankenkette, die sich nicht unterbrechen lässt.

"Okay. Danke."

Emil lächelt mich an, und zieht mich dann auch schon mit sich. Ich winke den Anderen über die Schulter hinweg zu. Linus ruft: "War schön dich kennenzulernen!". Maja nickt heftig, Julius dreht konzentriert seine nächste Kippe und scheint mein Weggehen gar nicht zu bemerken. Vielleicht interessiert es ihn auch einfach nicht.

"Deine Freunde sind cool", sage ich, nachdem wir einige Zeit lang schweigend nebeneinander hergelaufen sind. Jetzt wo er direkt neben mir ist, stelle ich fest, dass Emil mich nur um knapp einen halben Kopf überragt, doch irgendwie wirkt er größer. Liegt es an seinem strammen Gang? An seiner Selbstsicherheit? An der Lässigkeit, die er ausstrahlt?

Ich bewundere ihn aus dem Augenwinkel. Jeder seiner Schritte ist zielsicher, obwohl er eigentlich gar nicht weiß, wo wir hingehen.

"Die Idioten?" Emil lacht auf. "Keiner von denen macht etwas aus seinem Leben!"

Verwirrt runzele ich die Stirn. "Warum hängst du dann mit ihnen ab?"

"Ich habe ja nicht behauptet, dass mich das stört. Es ist nur so, dass Maja wahrscheinlich wie ihre Schwester enden wird: Von einem One-Night-Stand geschwängert und ohne Geld. Bei Julius ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen ihn einbuchten und Linus rennt dem Ärger praktisch hinterher." Er zuckt mit den Schultern. "Cool ist das nicht."

Seine Ehrlichkeit schockiert mich.

Emils Worte sind so kühl und objektiv, dass ich kaum glauben kann, dass sie von derselben Person stammen, die eben noch mit ihren Freunden gewitzelt hat. Er mag ja vielleicht Recht haben, aber es fühlt sich dennoch falsch an, ihn so negativ über die Drei sprechen zu hören.

Warum umgibt er sich mit Menschen, die er als Taugenichtse abstempelt? Mein Vater war der festen Auffassung, dass man sich stets mit Menschen umgeben soll, die einen guten Einfluss auf einen haben. Menschen, die einen zu einem besseren Menschen haben. Diese Weisheit hat er mir schon seit der Grundschule eingebläut.

Unweigerlich drängt sich mir die Frage auf, warum Emil ausgerechnet mit mir abhängen will. Hält er mich ebenfalls für einen Verlierer?

Ich verziehe das Gesicht.

"Was?" Emil grinst mich an, plötzlich wieder so charmant wie eh und je. "Habe ich etwas gesagt, das dir nicht passt?"

Ich schüttele den Kopf. "Nein, du hast mich nur überrascht."

"Überrascht? Inwiefern?"

"Ich habe dich einfach nicht für die Art von Typ gehalten, der hinter dem Rücken seiner Freunde schlecht über sie redet." Von meiner anderen Sorge, er könne mich für einen Loser halten, erzähle ich ihm nichts.

"Das bin ich auch nicht." Plötzlich wird seine Stimme ungewohnt ernst. Es scheint ihm wichtig, dass ich seine folgenden Worte verstehe. "Ich würde ihnen das auch genau so ins Gesicht sagen. Wirklich! Wenn mich jemand fragt: 'Hey Emil, was hälst du eigentlich von mir?', dann würde ich der Person keinen Honig ums Maul schmieren. Ich bin ein Advokat schonungsloser Ehrlichkeit, weißt du?"

"Schonungslose Ehrlichkeit?", frage ich ungläubig.

Er nickt heftig.

"Ich weiß ja nicht", beginne ich. "Wenn wir alle ohne Rücksicht auf Verlust ehrlich wären, würde es wohl nicht lange dauern, bis die Welt in Flammen aufgeht. Ich meine, stell dir mal vor jeder dahergelaufene Typ sagt seinem Boss offen, was er von ihm hält: Wir könnten nie wieder miteinander arbeiten, geschweige denn Beziehungen führen." Ich fuchtle dramatisch mit den Armen. "Wir würden einander ständig an die Gurgel gehen!"

"Okay, vielleicht ist Ehrlichkeit nicht immer die friedvollste Strategie, aber zumindest wüssten dann alle wo sie stehen." Emil zuckt mit den Achseln und dreht sich leicht zu mir. "Das ist mir lieber, als mich ständig fragen zu müssen, was die Leute wirklich von mir denken."

Seine Logik ist verquer und ich weiß nicht ob ich ihr zustimme, aber ich nicke trotzdem. Emil wirkt wie jemand, der seine Meinung bis aufs Blut verteidigt und ich habe nicht das Gefühl ihm in einem Wortgefecht ebenbürtig zu sein, also schweige ich. Als wir in meine Straße einbiegen, zeige ich auf mein Haus und sage: "Da wohne ich."

Emil pfeift anerkennend und ich nehme mir ein Beispiel an Maja und schlage ihn gegen den Oberarm. Er kichert, wobei sich um seine Augen herum Lachfalten bilden. Sie lassen ihn noch jungenhafter erscheinen und ich stelle fest, dass sie ihn um einiges attraktiver machen.

Verdammt. Die Liste seiner positiven Attribute wird länger.

"Also", beginne ich und trete von einem Bein aufs Andere, als wir vor meiner Haustür stehen. "Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast."

Emil legt den Kopf schief. "Gerne."

Ich stehe einen Moment unsicher da und bewundere seine hübschen dunklen Augen. Natürlich hat er auch noch zum niederknien lange Wimpern!

"Ruf mich an, wenn du mich mal wieder beim Gitarrespielen in den Schatten stellen willst."

"Ich habe deine Nummer gar nicht", sage ich in beiläufigem Ton und lasse die Worte zwischen uns in der Luft hängen.

Sofort streckt mir Emil auffordernd seine Hand entgegen. Ich grinse in mich hinein, hole mein Handy heraus, entsperre und reiche es ihm. Ich sehe zu, wie er mit raschen Fingern seine Nummer eintippt und mir dann das Handy zurückgibt.

Er tritt ein paar Schritte zurück, reibt sich über das kurzgeschorene Haar und meint: "Bis zum nächsten Mal."

"Bis zum nächsten Mal."

Ich kann nichts gegen das selige Lächeln tun, dass sich auf meine Lippen schleicht, als ich mich umdrehe und den Schlüssel aus meiner Tasche krame.

Ich spüre seinen heißen Blick in meinem Rücken als ich hinein gehe, aber ich drehe mich nicht mehr um.

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