16 | mein kopf dröhnt

Mein Kopf dröhnt, als ich am nächsten Morgen aufwache. Einige Minuten liege ich nur da, starre an die Decke und hoffe, dass der Kopfschmerz auf wundersame Weise verschwindet. Das tut er natürlich nicht und so krieche ich widerwillig aus meinem Bett, angele meine Jogginghose unter dem Bett hervor und schlüpfe wenig elegant hinein.

Mein Blick huscht zur Badezimmertür, die mit Stickern bepflastert ist.

Kurz überlege ich, mich einfach zusammenzureißen und in mein eigenes Bad zu gehen, doch allein bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Stattdessen öffne ich also meine Zimmertür und tapse auf leisen Sohlen die Treppe hinunter in Papas Bad. Da ich weiß, dass er auch heute Frühdienst hat, spare ich mir das Klopfen und gehe direkt auf den Medikamentenschrank zu. Im Spiegel erkenne ich meine leicht fettigen Haare und beschließe, dass eine Dusche nun wirklich ansteht.

Kopfschüttelnd öffne ich den Schrank und fahre mit dem Zeigefinger bedächtig über die vielen Tablettenpackungen und Fläschchen. Ob es Papa auffallen würde, wenn ich einige davon mit in mein Zimmer nehme?

Ich verdränge den Gedanken hastig und greife nach der Paracetamolpackung. Ich drücke zwei der weißen Tabletten heraus, fülle Papas Zahnputzbecher und schlucke sie runter. Einen Moment lang starre ich in das Waschbecken hinab. Das Hämmern in meinem Kopf wird plötzlicher lauter, vernebelt meine Gedanken und aus einem Instinkt heraus, werfe ich mir zwei weitere Tabletten ein.

Das muss reichen.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer, schiebe ich den Kopf durch Leos Tür. Er liegt leise schnarchend auf dem Rücken. Die Gelegenheit, ihn jetzt mit einem fiesen Trick zu wecken, ist perfekt, aber allein die Vorstellung ihn schreien zu hören, bringt meinen Kopf dazu lautstark zu protestieren. Ein anderes Mal. Leise schließe ich die Tür wieder hinter mir.

Zurück in meinem Zimmer, werfe ich mich aufs Bett, schnappe mir mein Handy und öffne Instagram. Sofort blickt mir eine grinsende Lara entgegen, die den Arm um Henri geschlungen hat und allem Anschein nach gut betrunken ist. Sofort durchzuckt mich eine irrationale Eifersucht.

Verdammt, ich will das nicht fühlen!

Ich checke das Datum des Posts und stelle fest, dass das Bild auf der Party vom letzten Freitag entstanden ist. Instinktiv scrolle ich durch die schrecklich kitschigen Kommentare.

jenny_033: ihr seid so süß!!!

ninaa.mai: schönstes pärchen i swear

paulisthier: halt sie gut fest bruder, sonst stiehlt sie dir noch einer haha

Es gibt noch mindestens ein Dutzend weitere Kommentare dieser Art und jeder einzelne treibt meine Gereiztheit durch die Decke. Obwohl ich es eigentlich nicht will, öffne ich Laras Profil und betrachte die Selfies, die sie mit ihren 621 Followern teilt, eins schöner als das Andere. Weil ich mich scheinbar noch nicht genug gequält habe, scrolle ich auch noch durch die Bilder, in denen sie getaggt wurde. Ganz oben stoße ich direkt auf eines, das von einem Mädchen aus unserem Jahrgang gepostet wurde, das ich nur flüchtig kenne. Auf dem Bild zu sehen sind ein Haufen Jugendlicher in Laras Wohnzimmer, alle in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit, wie sie eng zusammenstehen und in die Kamera grinsen.

Ganz unten links entdecke ich zu meiner Überraschung Emil. Ich zoome ihn heran und mustere sein hübsches Gesicht, das ich zum ersten Mal in anständigem Licht sehe. Wie ich vermutet habe, ist sein schwarzes Haar kurz geschoren und seine Haut nur wenig heller, als sie es im Dunkel der Nacht war. Auch sein verschmitztes Grinsen ist dasselbe und ich entdecke sogar die lächerliche rote Wollmütze, die er draußen trug, in seiner Hand.

Alles in allem ist Emil, trotz seines fragwürdigen Modegeschmacks, der attraktivste Junge auf dem ganzen verdammten Bild.

Ich klicke auf seinen verlinkten Account, detektivemil, der, wie es sich herausstellt, privat ist. Genervt schnalze ich mit der Zunge. Mein Daumen schwebt schon über dem 'Folgen'-Button, doch ich kann mich gerade noch davon abhalten.

Wenn ich ihm jetzt aus heiterem Himmel folge, dann bildet er sicher sonst was ein! Sicher denkt er dann, ich wäre so beeindruckt von ihm gewesen, dass ich sofort das Internet nach ihm durchforstet habe.

Nein, danke.

Ich schließe die App.

✦ ✦ ✦

Gegen drei nehme ich Benny an die Leine und schließe die Haustür hinter mir. Übertrieben aufgeregt, wuselt er um mich herum und wedelt hektisch mit dem Schwanz.

"Ist ja gut, Großer", meine ich liebevoll und tätschle dem hechelnden Beagle den Kopf. "Es geht ja schon los! Wir zwei Hübschen machen jetzt einen ausgiebigen Spaziergang."

Ich lasse zu, dass er mich eine Weile durch die Siedlung zieht und trotte ihm einfach hinterher. In Gedanken bin ich noch immer bei Lara und Henri.

Verdammt, denke ich, es sollte mir nichts ausmachen!

Es sollte mir nichts ausmachen, dass mein bester Freund glücklich und zufrieden ist und eine stabile Beziehung führt. Aber aus irgendeinem lächerlich kindischen Grund tut es das doch. Ich würde gerne behaupten, dass es daran liegt, dass ich in Henri verliebt und gern an Laras Stelle wäre, aber das wäre zu einfach. Es ist nur so, merke ich, dass Lara mich austauschbar fühlen lässt. So als wäre meine und Henris jahrelange Freundschaft bedeutungslos und das kann ich nicht zulassen, denn mir bedeutet sie alles. Er ist nicht nur mein engster, sondern auch einziger echter Freund. Warum musste Lara sich ausgerechnet Henri nehmen, wo sie doch jeden Typen haben könnte?

Sofort hasse ich mich für diesen Gedanken.

Sie hat sich Henri ausgesucht, weil er einfach toll ist. Er ist lieb, charmant und klug. Man kann mit ihm lachen, aber auch eine echte Unterhaltung führen. Neben seinem hübschen Gesicht, hat er dann natürlich noch diese butterweiche Stimme. Kein Wunder, dass sie sich in ihn verliebt hat. Eigentlich ist es überraschend, dass ich Henri überhaupt so lange für mich hatte.

Der Stich in meinem Herzen hat sich in ein stetiges Brennen verwandelt, dem ich keinen Einhalt gebieten kann, während es jegliche Vernunft auslöscht.

Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass wir mittlerweile im Stadtpark gelandet sind. Es ist heute etwas kühler als die letzten Tage, aber immer noch sommerlich angenehm, sodass hier und da junge Leute auf den Wiesen verteilt sitzen.

Ich finde eine leere Bank in der Nähe und mache es mir im Schneidersitz darauf gemütlich. Während ich die vorbeigehenden Menschen beobachte, fische ich die Zigarettenpackung aus meiner Jackentasche, hole mir eine heraus und zünde sie an. Gerade als ich den ersten Zug nehmen will, höre ich, wie jemand meinen Namen durch den Park schreit.

"Liz? Liz!"

Überrascht drehe ich mich um. Hinter mir, auf einer der Wiesen neben den Spazierwegen, steht Emil und wedelt grinsend mit den Armen. Um ihn herum sitzen zwei Jungs und ein Mädchen auf einer Decke, von denen mir nur Letztere vage aus der Schule bekannt vorkommt. Leicht überrumpelt stehe ich einen Moment nur starr da, bevor ich mich endlich in Bewegung setze und mit einem zurückhaltenden Lächeln auf die Gruppe zu gehe.

"Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen!" Noch immer grinsend und leicht übermütig umarmt Emil mich, wobei ich versuche ihm mit meiner angezündete Zigarette kein Loch ins T-Shirt zu brennen.

Er riecht gut, stelle ich fest.

Bevor ich jedoch irgendetwas sagen kann, zieht Benny die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Fröhlich schwanzwedelnd tapst er über die Decke und lässt sich von ihnen bereitwillig streicheln.

"Ach Gott, ist der süß!", schwärmt das Mädchen und einer der Jungen, einer schlaksiger Typ mit Dreadlocks, schaut zu mir auf und fragt: "Wie heißt der Kleine denn?"

"Benny", erkläre ich und mache die Leine ab, damit der Kleine sich besser bewegen kann.

"Komm, setz dich!" Emil umfasst meinen Arm und zieht mich mit zu sich hinunter. "Leute, das ist Liz!", eröffnet er seinen Freunden und ich spüre wie sich alle Augenpaare auf mich richten. "Wir haben uns letztens auf einer Party kennengelernt, die zum Schreien war." Er zwinkert mir zu und fährt fort: "Der Idiot mit den Dreadlocks hier ist mein Kumpel Linus, die Lady der Runde ist Maja und dieser sympathische junge Mann", Emil zeigt auf den grimmig wirkenden Typen zu meiner Rechten, "ist Julius."

"Hi." Ich winke etwas verlegen in die Runde. "Ich wollte euch wirklich nicht stören. Ich muss auch eigentlich-"

"Ach Quatsch, du störst doch nicht", widerspricht Maja, die ungefähr in meinem Alter ist und wilde dunkle Locken hat, auf die ich sofort neidisch bin. "Emils Freunde sind unsere Freunde." Ich will gerade erklären, dass wir eigentlich gar keine Freunde sind, schließlich haben wir uns erst letzte Woche kennengelernt, doch da plappert Maja schon weiter. "Diese schwanzüberladene Runde hat sowieso etwas mehr weiblichen Input gebraucht! Vor Allem solchen, der Kippen dabei hat."

Sie deutet auf meine rechte Hand, in der ich noch immer meinen Glimmstängel halte. Das bringt mich nun doch zum Lachen und die Anspannung lässt etwas nach. Ich zünde meine Zigarette erneut an und werfe der Dunkelhaarigen dann die Packung samt Feuerzeug zu.

Ich ziehe einmal fest und genieße das leichte Brennen, das sich in meiner Lunge ausbreitet. Wie lange mir das wohl noch erhalten bleibt, bis mein Körper wieder im Rauchermodus ankommt?

"Woher kennt ihr euch?" Meine Frage richtet sich an alle, aber ich schaue Emil dabei an. Er ist gerade dabei Benny intensiv hinter den Ohren zu kraulen und schaut überrascht auf, als hätte er mich schon vergessen.

"Oh, also Linus ist mein Cousin mütterlicherseits.", erklärt er lässig. "Julius ist mein Dealer und Maja hab ich auf einer Home kennengelernt und bin sie seither nicht mehr losgeworden."

Besagte Maja prustet jetzt entrüstet und wirft mit meinem Feuerzeug nach Emil. "Typisch Männer! Immer denkt ihr, ihr wärt der Mittelpunkt der Welt, dabei bist du derjenige der mich immer anruft, wenn ihm langweilig ist."

"Hey, wenn ich mich recht erinnere, hast du mich letzten Samstag angerufen hast, um dich von deinem Tinderdate zu retten! Wenn das nicht ehrenhaft und selbstlos ist, dann weiß ich auch nicht", witzelt Emil.

"Aber nur weil ich keine andere Wahl hatte! Der Typ war ein Creep und sah nicht mal ansatzweise so heiß aus wie auf seinem Profilbild. Von wegen Sixpack." Verschwörerisch lehnt sich Maja zu mir vor. "Kleiner Tipp am Rande: Lass dich von Emil niemals irgendwohin fahren. Der fährt wie eine gesengte Sau!"

Überrascht drehe ich mich zu dem Jungen neben mir und frage: "Du hast einen Führerschein?" Ich bin mir ziemlich sicher, dass er noch keine achtzehn ist und somit nicht alleine fahren darf. Emil bestätigt meinen Verdacht indem er sorglos den Kopf schüttelt.

Ich weiß nicht, ob mich seine Gelassenheit allem gegenüber beeindruckt oder beängstigt.

"Aber genug über die zwei Nervensägen", meldet sich jetzt Julius, den Emil liebevoll nur seinen Dealer genannt hat, zu Wort. Er ist ein bisschen älter als ich, vielleicht so um die zwanzig und trägt seine Haare im Boxerschnitt. Sofort frage ich mich, ob er wirklich Emils Dealer ist oder ob das nur so eine Art Spitzname ist. Beides erscheint mir möglich. "Erzähl was von dir, Liz!"

Kurz fühle ich mich in die erste Therapiesitzung mit Frau Siebert zurückversetzt und muss das Gesicht verziehen. "Da gibts nicht viel, fürchte ich." Ich weiche seinem Blick aus und asche meine Zigarette hochkonzentriert auf die Wiese.

"Nur keine Schüchternheit vortäuschen.", klinkt sich auch Emil wieder ein. "Ich hab den Wagen gesehen, mit dem du Freitag abgeholt wurdest! Raus damit, woher hat deine Familie Kohle?"

Ich lache nervös und streiche mir das Haar aus dem Gesicht, weil mir die Frage irgendwie unangenehm ist. "Mein Vater ist Arzt, aber das hat wenig mit mir zu tun."

"Stimmt!", fügt Maja energisch hinzu. "Meine Eltern haben beide studiert, aber meine Schwester hat trotzdem mit sechzehn die Schule geschmissen und ist jetzt mit ihrem zweiten Kind schwanger!"

"Dann weißt du ja schon wo dich deine Zukunft hinführt." Für diesen Kommentar bekommt Linus von Maja einen beeindruckenden Schlag in die Seite, der ihn zum Aufstöhnen bringt.

Sehr mit sich selbst zufrieden, wendet sich Maja erneut an mich und fragt: "Stimmt es eigentlich, dass du versucht hast dich umzubringen?"

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