14 | ich habe leo nicht vermisst


Ich habe Leo nicht vermisst. Würde ich das sagen, würde ich lügen. Ich habe nicht ständig an ihn gedacht und ihn mir sehnlichst herbei gewünscht, nein, es war viel mehr so, dass er mir gefehlt hat. Ich habe mich so an seine Abwesenheit gewöhnt, dass ich fast vergessen habe, wie viel leichter alles ist, wenn mein großer Bruder in meiner Gegenwart ist.

Das stelle ich fest, als wir am Abendbrottisch sitzen und ich mich nicht nur einmal, sondern gleich dreimal beim Lächeln erwische. Immer wieder drehe ich mich zu Leo um, wie um feststellen, ob er wirklich real und keine Fata Morgana ist.

Aber er ist real.

Er spricht und lacht und zieht mich auf, wie wir es taten, bevor er nach Berlin zog. Seine miese Haltung ist dieselbe, er schmatzt noch so abartig wie ich es in Erinnerung habe und selbst seine blonden Haare sind genauso kurz geschnitten wie eh und je.

Irgendwie schafft Leo es allein durch seine Anwesenheit sogar, dass ich den restlichen Abend ohne flaues Gefühl im Magen und ohne Schuldgefühle verbringe. Selbst über Papas lahme Witze kann ich lachen und verdrehe bei seinen Geschichten aus dem Krankenhaus heimlich die Augen, während Leo Interesse heuchelt.

Und als es dann Zeit ist, ins Bett zu gehen, schlafe ich innerhalb weniger Minuten ein. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten.


✦ ✦ ✦


Am Dienstag spiele ich mit dem Gedanken meine morgendliche Therapiesitzung bei Frau Siebert zu schwänzen. Das Hochgefühl des Vortages fließt noch immer durch meinen Körper und ich will es nur ungern mit dem Schatten meiner Vergangenheit vertreiben. Mein Plan löst sich allerdings in dem Moment in Luft auf, in dem mein Vater den Kopf durch meine Zimmertür steckt und verkündet, mich höchstselbst zur Therapie zu fahren.

Eine Stunde später sitze ich auf dem Beifahrersitz seines Audis und starre durch die Windschutzscheibe auf die Straße.

"Ich kann dich leider nachher nicht abholen, weil ich gleich weiter zur Arbeit muss, also ruf einfach Leo an, wenn du bei der Therapie raus bist, ja?" Mein Vater biegt links auf die Hauptstraße ab und sieht aus dem Augenwinkel zu mir herüber.

"Ich kann auch einfach mit dem Bus fahren.", murmele ich. Beiläufig zupfe ich am Stoff meiner neuen Bluse und betrachte die hellblaue Farbe kritisch. Sie ist sehr viel fröhlicher, als ich es gewohnt bin und ich wundere mich selbst, warum ich dieses Oberteil heute morgen aus dem Schrank zog. "Soweit ist es nach Hause ja eigentlich nicht."

"Ach Quatsch, Lizzie. Leo macht das gerne!"

"Weil du ihm einen Praktikumsplatz besorgt hast und er im Gegenzug meinen Babysitter spielt?", antworte ich, deutlich patziger, als angebracht. Verdammt. Sofort ziehe ich den Kopf ein und meide den Blick meines Vaters.

"Das stimmt so nicht und du weißt das genau." Er umfasst das Lenkrad so stark, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervorstechen. "Natürlich habe mich dafür eingesetzt dass Leo wieder nach Hause kommt, er ist schließlich mein Sohn! Habe ich gedacht, dass dir es dir auch gut tun würde, mehr Familie um dich herum zu haben? Ja. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Leo hergeholt hätte um dein Babysitter zu sein." Ich spüre die unterdrückte Wut, die in ihm brodelt, doch seine Stimme ist beeindruckend ruhig. "Wenn er Zeit mit seiner Schwester verbringen will, dann ist das seine Entscheidung. Und sollte er sich entscheiden nach ihr zu sehen, dann tut er das sicher aus berechtigter Sorge."

Aua.

Seine geschickt verpackte Formulierung täuscht mich nicht über die eigentliche Bedeutung seiner Worte hinweg. Leo vertraut dir nicht und ich tue es auch nicht.

Ich beiße mir auf die Zunge und als ich schließlich doch zu meinem Vater herüber blicke, wandern meine Augen über seinen angespannten Kiefer und die gerunzelte Stirn. Mit belegter Stimme gestehe ich: "Tut mir leid, Papa. Ich habe es nicht so gemeint."

Er schenkt mir ein halbherziges Lächeln und sieht dabei müder aus denn je. "Schon okay."

Irgendwie ist mir klar, dass es das nicht ist, aber ich weiß nicht was ich sagen soll, also sinke ich zurück in den Sitz und richte den Blick auf die Straße.

Ungefähr fünf Minuten später halten wir vor der Praxis. Ich löse den Gurt, greife nach meiner Tasche und fahre mir durch die Haare. Bevor ich die Tür öffne, bleibe ich einen Moment lang unsicher sitzen.

"Ich hab dich lieb.", nuschle ich.

Einen Moment schweigt mein Vater und als ich aufblicke, sind seine Augen glasig. "Ich dich auch, Prinzessin."

Hastig steige ich aus, werfe die Autotür zu und betrete die Praxis von Frau Siebert.


✦ ✦ ✦


"Und, wie ist es dir seit unserer letzten Sitzung ergangen?"

Das 'Gut' liegt mir schon auf der Zunge, doch ich kann mich gerade noch davon abhalten, diesen Schwachsinn von mir zu geben. Stattdessen fahre ich mich über die Unterarme und antworte: "Durchwachsen."

Interessiert mustert Frau Siebert mich und kommt auf mich zu. Meine Psychologin ist auch heute wieder in gedeckten Farben gekleidet. Ihr langärmliges T-Shirt ist dunkelgrün und passt gut zu der braunen Cordhose, die sie trägt. Noch immer mit dem Blick auf mich gerichtet, stellt sie zwei Teetassen auf dem Tisch zwischen uns ab und lässt sich auf ihrem Sessel nieder. "Und wie sieht so eine 'durchwachsene' Woche aus?"

"Es war einfach alles ein bisschen viel, denke ich." Vorsichtig greife ich nach meiner Tasse und stelle fest, dass es wieder die Man-ist-erst-besiegt-wenn-man-sich-geschlagen-gibt-Tasse ist. "Sie wissen schon: Nach Hause kommen, mich neu eingewöhnen, meine alten Freunden treffen... Und dann musste ich auch noch mit Marie shoppen gehen!" Ich schnaube bei dieser Erinnerung genervt.

Frau Siebert sieht mich fragend an. "Marie ist...?"

"Oh, die neue Freundin meines Vaters", erkläre ich und nippe an meinem Tee. "Sie hat mich letzte Woche auch abgeholt."

Frau Siebert nickt, als könne sie sich tatsächlich an Marie erinnern. "Und du magst sie nicht besonders, habe ich Recht?"

Perplex blicke ich auf und runzele die Stirn. "Woher wissen sie-"

"Gut geraten", meint sie leicht hin. "Also stimmt es?"

Unbehaglich zupfe ich an meiner Bluse. "Es liegt nicht an ihr, sie hat mir ja nicht direkt was getan. Eigentlich ist sie sogar ziemlich nett.", gestehe ich.

"Du hast nur allgemein ein Problem damit, dass dein Vater eine neue Partnerin hat?"

"Nein, das auch nicht." Frustriert fahre ich mich durch die Haare. "Ach, ich weiß nicht. Marie ist einfach so zuvorkommend und fröhlich und sie macht meinen Vater glücklich und das macht mich einfach wahnsinnig. Gott, das klingt so böse! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne es meinem Vater ja, wirklich. Es ist nur so, dass alles, was ich tue ihn unglücklich macht und jetzt kommt Marie daher und-"

"Macht ihn glücklich", beendet Frau Siebert meinen Satz. Ich nicke beschämt.

"Es tut einfach weh, wissen Sie? Zu sehen, dass Papa jemanden gefunden hat, der die Scherben aufsammelt, die ich verursacht habe. Und dass dieser jemand nicht ich bin. Es ist dasselbe mit Henri!"

"Dein Kindheitsfreund?", hakt Frau Siebert nach.

"Ja genau." Ich nicke hastig und ringe aufgeregt mit den Händen. "Wir waren unzertrennlich und kaum bin ich ein paar Monate weg, sucht er sich jemand Neues und natürlich ist dieses Mädchen absolut perfekt, hübsch und fröhlich. Ich würde sie am Liebsten beide rütteln und fragen was das alles soll. Ach, Mann, ich weiß auch nicht! Wahrscheinlich macht das was ich erzähle gar keinen Sinn, vergessen Sie es." Ich mache eine wegwerfende Bewegung und sacke zusammen.

"Liz, was du da erzählst macht absolut Sinn!"

"Wirklich?" Zweifelnd hebe ich die Augenbrauen.

"Ja! Du bist enttäuscht, wie gut die Menschen in deinem Umfeld scheinbar ohne dich klarkommen. Du fühlst dich ersetzt, weil dein Vater und Henri jemanden gefunden haben, der sie glücklich macht und du fühlst dich schuldig, weil dieser Jemand nicht du bist."

Mir bleibt beinahe der Atem weg, als mich die Wahrheit ihrer Worte wie ein Hammerschlag trifft. Mir wird heiß und kalt zugleich und ich fühle mich schrecklich entblößt. Automatisch verschenke ich die Arme vor der Brust und frage mich, wie um Himmels Willen, diese Frau mich zu solch einem Geständnis gebracht hat.

Frau Siebert faltet die Hände im Schoß, lehnt sich gelassen in ihrem Sessel nach hinten und fährt fort. "All das sind berechtigte und absolut nachvollziehbare Gefühle, Liz. Sie sind kein Grund sich zu schämen."

"Okay", sage ich lahm, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ein Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand sagt mir, dass ich gerade einmal seit einer halben Stunde hier bin. Frustriert atme ich aus.

Frau Siebert, die meinem Blick gefolgt ist, schaut nachdenklich. "Ich weiß, dass das nicht leicht für dich war, Liz, aber ich bin sehr froh, dass wir heute so weit gekommen sind. Das ist ein großer Fortschritt."

Ich ignoriere ihre Aussage.

"Meinen Sie wir können heute etwas früher Schluss machen? Ich, äh, muss noch wohin." Das ist eine sehr schwache Lüge, aber Frau Siebert wirft nur einen Blick auf ihre Notizen und nickt dann.

"Natürlich."

Erleichtert reibe ich mir übers Gesicht und raffe mich dann hastig auf. Ich greife nach meiner Tasche und halte meiner Gegenüber die Hand hin, um mich zu verabschieden.

Frau Siebert schüttelt sie und bevor sie meine Hand loslässt, sagt sie noch: "Menschen können mehr als eine Person lieben, das weißt du, oder?"

Verwirrt starre ich sie an. "Ja, natürlich."

"Gut." Sie lächelt bedeutungsvoll. "Dann machen wir nächste Woche da weiter."

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