13 | ich erinnere mich nicht
Ich erinnere mich nicht gerne an diese Nacht. Sie bereitet mir Kopfschmerzen und lässt jedes Mal den Drang in mir aufsteigen, meinen Kopf gegen die nächstgelegene Wand zu schlagen, bis die Erinnerungen verschwinden. Dennoch schwirren sie mir noch den ganzen Abend im Kopf, selbst als ich schon längst das Haus der Jakobs verlassen habe und einen Umweg nach Hause nehme, in dem kläglichen Versuch einen klaren Kopf zu bekommen.
Die sommerliche Nachtluft streicht mir über die Haut und weht mir das Haar aus dem Gesicht. Die Straßenlaternen werfen flackerndes Licht auf die Pflastersteine. Hin und wieder streifen mich die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos und lassen mich aufsehen. In Gedanken versunken, führe ich die glimmende Zigarette an meine Lippen und ziehe kräftig daran. Der Rauch brennt in meinen Lungen, stärker als ich ihn in Erinnerung habe.
Erneut flackern die Ereignisse aus dieser Nacht in meinem inneren Auge auf.
Während ich Benny damals ausgesperrt hatte, um sterben zu können, war es sein Bellen im Garten gewesen, das Diana auf mich aufmerksam gemacht hatte. Irgendwie musste sie wohl gespürt haben, dass etwas nicht stimmte, denn sie verschaffte sich mit Hilfe ihres Ersatzschlüssels Zugang zu unserem Haus, suchte alle Zimmer ab und fand mich schließlich bewusstlos auf dem Badezimmerboden.
Hätte sie mich nicht gefunden, hätte sie nicht sofort den Notarzt gerufen, ja, hätte sie Bennys Bellen nicht gehört, dann wäre ich in dieser Nacht gestorben.
Irgendwie weiß ich das.
Es ist nicht so, als wäre in dieser Nacht mein Leben an mir vorbeigezogen, wie es in Filmen der Fall ist, und auch ein weißes Licht habe ich nicht gesehen, aber irgendwo tief in mir drin habe ich doch gespürt, dass das Ende nah war. Da war eine Müdigkeit, eine tiefe Ruhe in mir, die so einladend war, wie nichts zuvor. Kein Joint, kein Pulver und keine Xanax der Welt war je verführerischer. Ich wollte in diesem Moment nichts sehnlicher, als mich der Dunkelheit hinzugeben, einfach in ihr zu schwelgen und all die weltlichen Sorgen hinter mir zu lassen.
Aber dann waren da Arme und Sirenengeheul und ein schwacher Lavendelgeruch, der mich in der Nase kitzelte und davon abhielt, in der Schwärze zu schwelgen.
Ohne es mitbekommen zu haben, stehe ich wieder im Vorgarten unseres Haus und schaue mit gerunzelter Stirn zum Haus der Jakobs hinüber.
Ich weiß, dass ich Diana dankbar für ihr Einschreiten sein sollte, dafür, dass sie praktisch mein Leben gerettet hat.
Ich weiß nicht, ob ich es bin.
Ich ziehe noch ein paar Mal an meiner Zigarette, bevor ich sie austrete, den Schlüssel aus meiner Jackentasche krame und die Haustür aufschließe.
✦ ✦ ✦
Ich werde von lautem Krach aus dem Erdgeschoss geweckt. Verwirrt reibe ich mir die Augen und werfe einen raschen Blick auf die Digitalanzeige meines Handys. 10:04. Wer zur Hölle macht denn um diese Uhrzeit so einen Lärm?
Krampfhaft versuche ich wach zu werden und den Nebel der Müdigkeit abzulegen.
Mein Vater ist heute morgen um sechs zur Arbeit gefahren, das hatte er mir gestern noch leicht schuldbewusst erzählt. Er kann also unmöglich der Verursacher des Lärms sein. Ein weiteres Poltern schallt durch das Haus und lässt mich zusammenzucken. Hat er vielleicht vergessen Benny nach draußen zu lassen?
Frustriert schnaubend, werfe ich die Decke zurück und schwinge die Beine aus dem Bett. Hastig greife ich nach meinem schwarzen Hoodie, der über dem Schreibtischstuhl hängt, und ziehe ihn über, bevor ich dem Lärm folge. Barfuß tapse ich aus meinem Zimmer und bleibe erschrocken stehen, als das Poltern in etwas Anderes übergeht: Schritte.
Fuck.
Ist das ein Einbrecher? Bitte, lass es kein Einbrecher sein! Oh Gott, denke ich, ich will nicht ermordet werden. Mein Herz rast und meine Atmung geht schnell. Welcher Einbrecher bricht um zehn Uhr morgens ein, verdammt nochmal?
Vorsichtig tapse ich auf die Treppe zu, beuge mich mit schwitzigen Händen übers Geländer, gerade weit genug um einen Blick nach unten werfen zu können. Eine hochgewachsener Mann steht mitten im Wohnzimmer, leger in T-Shirt und Jeans, neben ihm zwei große Koffer und eine Reisetasche. Ich bin so überrumpelt, das Adrenalin noch immer in den Adern, dass ich einen Moment brauche, um die Person, die dort steht, zu erkennen.
"Leo?!"
Der Kopf meines Bruders ruckt hoch und ein verschmitztes Grinsen breitet sich auf seinem jungenhaften Gesicht aus. "Sieh an, sieh an, wer ist denn da aus den Federn gekrochen? Wenn das nicht meine kleine Schwester ist." Geschickt lässt er das Handy in seiner Hosentasche verschwinden und fährt sich dann durch das kurze blonde Haar. "Worauf wartest du? Bekomme ich keine Umarmung zur Begrüßung?"
Es dauert keine fünf Sekunden, da bin ich die Treppe hinunter gestürmt und verpasse meinem Bruder statt der Umarmung, die er forderte, einen heftigen Schlag auf die Brust.
"Hast du in Berlin deinen verdammten Verstand verloren?", kreische ich. "Du hast mich zu Tode erschreckt! Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen." Dramatisch lege ich mir die Hand aufs die Brust und blicke wütend zu Leo auf. "Mann, ich dachte du wärst ein verdammter Einbrecher, du Idiot! Wie kannst du mir das antun?"
Völlig entgeistert starrt er zurück. "Hat Papa dir nicht erzählt, dass ich komme?"
Soll das ein verdammter Witz sein? Ist das ein gottverdammtes Déjà-vu?
Es kostet mich all meine Selbstkontrolle, von der ich wahrlich eh nicht viel habe, um tief durchzuatmen und nicht wütend aufzuschreien.
"Unser geliebter Vater hat mir in letzter Zeit so einiges nicht erzählt.", grummele ich und reibe mir frustriert über die Stirn. Ich blicke erneut zu Leo auf, entdecke aufrichtige Verwirrung in seinem Gesicht und lasse meinen Blick über die Koffer zu seinen Füßen gleitet. "Nein, aber ehrlich: Was machst du hier?"
"Ich, ähm, ziehe hier ein."
"Du tust bitte was?"
"Ich ziehe wieder Zuhause ein.", antwortet Leo, als sei es das Offensichtlichste der Welt. Ist es nicht.
"Ich weiß, ich laufe Gefahr mich zu wiederholen, aber: Hast du in Berlin deinen Verstand verloren?" Entgeistert blicke ich meinen Bruder an. "Du bist vierundzwanzig und studierst in der Hauptstadt. Warum zum Geier willst du zurück nach Hause ziehen? Ist dir das Geld ausgegangen? Wirst du von Kredithaien gejagt?"
Leo seufzt tief und wirft mir einen genervten Blick zu. "Nein, du Hohlkopf." Grinsend schnipst er mich gegen die Stirn.
"Aua!" Wütend schaue ich zu, wie mein Bruder sich demonstrativ lässig auf die Couchlandschaft fallen lässt und mich auffordernd ansieht. Als ich mich schließlich im Schneidersitz neben ihm nieder lasse, fängt er endlich an zu erklären.
"Du weißt doch, dass ich jetzt mit dem theoretischen Teil des Medizinstudiums fertig bin und das praktische Jahr in einem Krankenhaus anfange, oder? Ich studiere zwar in Berlin, aber wo ich den Praxisteil mache ist an sich völlig egal. Ich habe dann vor ein paar Wochen mit Papa geredet und er meinte, dass ich das genauso gut hier machen kann. Er organisiert mir einen Platz bei sich im Krankenhaus und ich kann näher bei euch sein." Nervös blickt er sich im Raum um. "Wir sehen uns ja so selten und außerdem kann ich so Geld sparen und -"
"Also hat Papa dich als Aufpasser für mich angeheuert.", unterbreche ich ihn.
"Nein!", demonstriert Leo ein wenig zu energisch. Hastig fährt er sich durch die Haare und leckt sich über die Lippen. "Komm schon, Lizzie, so ist das nicht."
"Verkauf mich nicht für blöd, Leopold!", zische ich und benutze bewusst seinen verhassten vollen Namen, der mir auch sogleich ein Augenrollen einbringt. "Papa vertraut mir nicht, also lässt er dich durchs halbe Land anreisen um für mich den Babysitter zu spielen. Und du machst da auch noch mit!" Dramatisch werfe ich die Hände in die Luft und starre meinen Bruder wütend an. Seine Unschuldsmiene kann er sich sonst wohin stecken.
Ich sehe, dass er protestieren will, aber ich kenne meine Bruder und weiß genau, dass er das nicht lange durchhält. Nach einem lächerlich kurzen Blickduell, ist es Leo, der die Hände in die Luft wirft.
"Mann, du kennst unseren Vater doch! Er macht sich Sorgen und das ist seine komisch verzwickte Art, das zu zeigen."
"Du musst aufhören ihn immer in Schutz zu nehmen!", grummele ich, noch immer ziemlich angepisst. "Ständig verschweigt er uns Dinge und überschreitet absolut jede mögliche Grenze. Das ist nicht okay!"
"Jetzt reg dich doch nicht auf, Lizzie. Ist es denn so schlimm, dass ich hier bin?"
Nein, denke ich, das ist es nicht.
Das sage ich ihm natürlich nicht und ziehe ihm stattdessen mit einem der Zierkissen eins über.
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