11 | es ist ewig her


Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal bei Henri Zuhause war, aber mir ist noch immer alles so vertraut, als wäre es gestern gewesen. Der Flur, durch den Henri mich jetzt führt, ist schmal und mit Bildern behangen, die ich nicht zu betrachten brauche. Ich kenne sie alle. Der Duft des Raumerfrischers ist mir genauso vertraut wie das Gefühl des weichen Teppichs unter meinen Füßen.

Der Grundriss von Henris Haus ist identisch mit dem meines Zuhauses, doch es fällt schwer, das zu glauben, wenn man die Häuser erstmal betritt. Sie sind zu verschieden um sich zu ähneln.

In der Mitte unseres Wohnzimmers steht eine riesige weiße Ledercouch, die ich jedes Mal zu beschmutzen befürchte, wenn ich darauf sitze, doch die von Henris Familie ist mit rotem Stoff bezogen und mit senfgelben Zierkissen beladen. Auf dem kleinen Tisch davor stehen Blumen, von denen ich weiß, dass sie aus dem kleinen Garten vor der Haustür stammen. Der Tisch vor der Fensterfront ist aus massivem Holz gemacht, sehr viel praktischer als unser Glastisch, und auch die offene Küche enthält viele hölzerne Elemente. Bücherregale säumen die Wände auf der einen Seite und Bilder die auf der Anderen.

Ein Schritt in dieses Haus reicht aus, um ein warmes wohliges Gefühl der Geborgenheit in mir aufsteigen zu lassen, vermischt mit einem Hauch Sehnsucht. Sehnsucht danach, an einem solchen Ort Zuhause zu sein.

"Liz!"

Ich drehe mich zu der Stimme, die hinter der Küchentheke hervorkommt, um und finde mich kurz darauf in der überschwänglichen Umarmung von Henris Mutter Diana wieder. Ihre dünnen Arme sind fest um mich geschlungen und ihr Schraubstockgriff zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen, bevor der vertraute Geruch ihres Lavendelparfüms mir in die Nase steigt. Es ist dieser Geruch, der mich schließlich versteifen lässt und daran hindert ihre Umarmung gleichermaßen herzlich zu erwidern.

Schließlich löst sie sich von mir und streicht mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. Das Lächeln der hochgewachsenen Blondine ist so warm und aufrichtig wie eh und je.

"Gott, ich bin ja so froh dich wieder hier zu haben, Liebes. So unendlich froh!" Bei all der Zuneigung in ihrem Blick dreht sich mir langsam der Magen um und Scham breitet sich in mir aus. Nervös zupfe ich an meinem Haar und versuche den Kloß, der sich in meinem Hals bildet, zu ignorieren.

"Mann, Mama, jetzt bedräng Lizzie doch nicht so!", meckert Henri und ich bin ihm unendlich dankbar für seine schroffen Worte, die den emotionalen Moment beenden. Ich kann nicht gut mit den Gefühlen Anderer umgehen, was wohl keine Überraschung ist, schließlich überfordern mich meine Eigenen schon ausreichend.

Augen verdrehend tritt Diana schließlich einen Schritt zurück und wuschelt ihrem Sohn durch den blonden Lockenkopf, der dem ihren so ähnlich ist. "Ist ja gut, du alter Frechdachs."

Der Anblick der Beiden zaubert mir schließlich doch ein Lächeln auf die Lippen und ich verdränge alle Gedanken an die Vergangenheit. Ich kann nichts an ihr ändern, als muss ich jetzt verdammt nochmal mit ihr leben.

Oder?

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

"Danke für die Einladung.", stoße ich schließlich hervor und werfe Diana ein scheues Lächeln zu. Ihre dunklen Augen glitzern verdächtig und sie streicht mir noch einmal sanft über die Schulter, bevor sie sich schließlich ebenfalls zusammenreißt.

"So!" Bedeutend klatscht Henris Mutter in die Hände und wendet sich wieder der Küche zu. "Ich bin fast fertig mit dem Essen. Wollt ihr zwei schon mal den Tisch decken?"

"Ja!", rufen Henri und ich gleichzeitig, offenbar beide froh nach dieser unangenehmen Situation eine Beschäftigung zu haben. Er grinst mich an, knufft mich in die Seite und öffnet einen der hölzernen Küchenschränke. In stiller Eintracht decken wir den Tisch für drei Personen - Henris Vater ist mit einem Kollegen unterwegs - und ich genieße das Gefühl der Ruhe, das mich durchströmt, während ich die Teller entgegen nehme, die Henri mir reicht. Es fühlt sich fast so an wie früher.

Früher.

Wie seltsam das klingt.

Als wären wir Jahre getrennt gewesen, dabei waren es nur wenige Monate. Und doch fühlt sich alles seltsam an, irgendwie fremd und ungewohnt, als müsse ich mich in meinem eigenen Leben eingewöhnen und meinen Platz aufs Neue finden. Dabei scheint es, als haben alle Anderen meinen alten Platz bereits vergeben und nun liegt es an mir, mich irgendwo hineinzuzwängen.

Ist dort überhaupt noch Platz für mich? Will ich die Mühe auf mich nehmen, einen Platz zu finden? Oder wäre es für alle leichter, wenn ich es sein ließe?

"Alles okay, Liz?", fragt Henri mit einem besorgten Unterton in der Stimme und reißt mich aus meinen dunklen Gedanken. Er hat den Arm über den Tisch zu mir ausgestreckt und Gabeln und Messer in der Hand, während er mich mit gerunzelter Stirn betrachtet.

"Was?" Ich schüttele den Kopf. "Ähm, ja klar." Hastig greife ich nach dem Besteck und verteile es mit zittrigen Händen. "Ich war nur in Gedanken."

"Was für Gedanken?"

"Nicht so wichtig."

"Liz, bitte!", fordert Henri fast schon flehentlich. "Komm schon. Du weißt doch, dass du immer mit mir reden kannst. Ich würde dir doch zu-"

"Seid ihr zwei so weit?"

Erleichtert wende ich mich von Henri und seinem Hundeblick ab und nicke stattdessen Diana enthusiastisch zu, die mit in die Hüften gestemmten Armen am Kopf des Tisches steht. "Ja! Was gibt es denn eigentlich?"

Dianas Augen leuchten auf und während wir uns alle hinsetzen, erzählt sie mir von diesem neuen Rezept, das sie ausprobiert hat und ich gebe mir die größte Mühe zuzuhören und zugleich Henris Blick auszuweichen. Diana tut uns allen auf und ich schaufele das Essen nur so in mich rein, während ich zwanghaft versuche allen unangenehmen Themen auszuweichen. Ich frage nach der Arbeit, nach ihrem Garten und erkundige mich sogar nach ihrer Meinung zu Henri Freundin Lara. Sie findet sie super. Henri bleibt still.

Als mir schließlich keine Fragen mehr einfallen, mit denen ich Diana löchern könnte, neigen sich die unverfänglichen Themen dem Ende und ich sehe wie sie sich den Mund mit der Serviette abgewischt. Sie fokussiert mich schließlich mit einem sanften, aber bestimmten Blick.

"So, Liz, jetzt erzähl mal,", beginnt sie, "wie läuft es Zuhause?"

Fuck.

"Ähm, gut?", beginne ich und versuche nicht über Dianas gezogene Augenbrauen zu lachen. Ihr Blick schreit geradezu: Verarsch mich nicht! Ich schlucke also und versuche es noch einmal: "Nein wirklich, es läuft ganz in Ordnung. Denke ich. Papa hatte sich die Woche frei genommen, wobei er morgen wieder zur Arbeit muss, aber hey, einen Versuch wars wert." Ich lache auf. "Immerhin zwingt mich jetzt keiner mehr morgens beim Frühstück zu erscheinen. Oder überhaupt aufzustehen."

Mein Humor wird nicht geschätzt, stattdessen sehen mich sowohl Diana als auch Henri vorwurfsvoll an.

Ich seufze. "Das war ein Witz." War es nicht. "Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass mein Vater sich Mühe gibt, mir Freiraum zu lassen." Er vermeidet es mit mir zu sprechen. "Aber ich gehe", gezwungenermaßen, "ein Mal die Woche zu einer Therapeutin. Frau Siebert heißt sie. Ich kenne sie noch nicht besonders gut, aber sie wirkt nett. Kompetent irgendwie. Ich gehe am Mittwoch wieder zu ihr."

Als ich in Dianas hübsche Augen sehe, erkenne ich Erleichterung darin, auch wenn sie versucht sie zu überspielen.

"Ich bin froh, dass du weiterhin Hilfe bekommst", antwortet sie, "und natürlich auch, dass du dich mit deiner Therapeutin verstehst." Diana streckt sich über den Tisch aus und greift nach meiner Hand, die sie fest umfasst. Ihre Hand fühlt sich weich und warm in meiner Kalten an. "Ich freue mich wirklich, dass du hier bist. Du bist immer willkommen, das weißt du doch, oder?"

Kein Wunder, dass sie sich Sorgen macht, denke ich, schließlich war sie es, die mich zugedröhnt und blutend auf dem Badezimmerboden gefunden hat.

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