10 | es regnet in strömen


Es regnet in Strömen, als ich endlich meinem Vater entkomme.

Das ganze Wochenende habe ich damit verbracht, ihm nach Kräften aus dem Weg zu gehen, was, trotz der drei Stockwerke unseres Hauses, nicht gerade einfach war. Marie fuhr übers Wochenende ihre Cousine in München besuchen und so war ich gänzlich allein mit meinem Vater, seinen Argusaugen und zweifelnd in Falten gelegter Stirn.

Zum Frühstück ließ ich mich noch aus dem Zimmer locken, doch das war auch schon das Höchste der Gefühle. Nachdem ich seinen Vorschlag, mich zu ihm in den Garten zu gesellen, zum dritten Mal ablehnte, gab er seine Versuche endlich auf und verschanzte sich in seinem Büro um angestaute Arbeit zu erledigen. Die ins Schloss fallende Tür bescherte mir seltsamerweise nicht die Erleichterung, die ich erwartet hatte.

Mangels Alternativen, verschanzte auch ich mich schließlich in meinem Zimmer, als es wie aus Eimern zu gießen beginnt.

Kraftlos hieve ich mich also in mein Bett, setze mich mit angezogenen Knien ans Kopfende und wickele die Decke wie einen Schutzwall um mich, als könne der mich vor der Welt und all ihren Ungerechtigkeiten abschirmen. Ich vergrabe meine Nasen in dem weißen Stoff und atme den blumigen Geruch unseres Waschmittels ein. Der vertraute Geruch schafft es normalerweise immer, mich zu beruhigen, doch heute kann auch er meine wirren Gedanken nicht aufhalten.

Meine Augen wandern in meinem Zimmer umher, über den offen stehenden Kleiderschrank, die verstaubte Oberfläche der Kommode und den beladenen Schreibtisch. An den Wänden hängen vereinzelt Bilder - Aufnahmen von mir und Henri, Schnappschüsse aus dem Ferienlager, Kindheitsbilder von meinem Bruder - aber auch Zeichnungen und Cover von Musikalben.

Sie alle stechen aus dem Schwarz der Wände hervor, wie Sterne am dunklen Nachthimmel.

Mein Blick fällt auf die Gitarre, die gegenüber an die Wand gelehnt ist, noch genau da, wo ich sie bei meiner Ankunft verfrachtet habe. Das gewohnte Kribbeln in den Fingern bleibt aus und ich lege das Kinn auf meinen Knien ab.

Ich habe keine Lust zu spielen.

Früher hatte ich immer Lust zu spielen. So viel Lust, dass mein Vater es wahrscheinlich mehr als einmal bereute mir das Instrument gekauft haben. Wobei es eigentlich die Idee meiner Mutter gewesen war. Sie war immer der Auffassung, dass jeder ein Instrument spielen können sollte und so schickte sie meinen Bruder Leo zum Klavier- und mich zum Gitarrenunterricht: Sie tat es selbst dann noch, als Leo sie wochenlang anbettelte, ihn aufhören zu lassen.

Mich brauchte man allerdings nicht groß zu überzeugen. Von dem Moment an, an dem ich das erste Mal die Saiten einer Gitarre zupfte, war ich besessen. Ich lernte schnell und übte rigoros. Mit jedem neuen Lied, das ich zu spielen lernte, machte das Instrument mir mehr Freude. Noch bevor ich meinen Ranzen nach der Schule ganz absetzte, griff ich schon zur Gitarre.

Meine Mutter war begeistert und mein Vater besorgte sich Ohrstöpsel.

Als hätte ich mit dieser Kindheitserinnerung eine Meldung ans Universum geschickt, blinkt in dem Moment mein Handy auf.

"Mama" steht dort in großen Leuchtbuchstaben und instinktiv krampft sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich spiele mit dem Gedanken, das Telefon klingeln zu lassen, doch irgendetwas, sei es die Erinnerung, meine Einsamkeit oder der verdammte Regen, bringt mich schließlich doch dazu, nach dem Handy zugreifen und auf die grüne Taste zu drücken.

"Hallo, Schatz.", flötet die Frau, mit der ich seit genau einer Woche nicht mehr gesprochen habe.  Meine Mutter ruft, seit ich mich erinnern kann, jeden Sonntag an und diese Routine konnte auch meine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nicht brechen. Scheinbar kann sie sich nur einmal in der Woche daran erinnern eine Tochter zu haben.

Die Stimme meiner Mutter ist noch immer so honigweich und melodisch, wie ich sie in Erinnerung habe. Dass Miriam Krüger Synchronsprecherin ist, überrascht niemanden, der je auch nur ein Wort mit ihr gewechselt hat.

Als Kind habe ich es geliebt von ihr Geschichten vorgelesen zu bekommen. Ich hing förmlich an ihren Lippen und saugte jedes ihrer Worte in mich auf. Bis sie schließlich verstummte und ich sie nur einmal in der Woche zu hören bekam.

"Ach Süße, Ich habe schon die ganze Woche über versucht dich zu erreichen.", säuselt meine Mutter nun in den Hörer. Ich brauche sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie gerade die Lippen schürzt und sich durch die langen blonden Locken fährt. "Warst du so beschäftigt, dass du es nicht geschafft hast, dich bei deiner alten Dame zu melden?"

Beschäftigt war ich wahrlich nicht. Den gestrigen Tag habe ich, wie viele zuvor, im Bett verbracht und sprichwörtlich Löcher in die Decke gestarrt, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, mich bei jedem Klopfen an meiner Tür schlafend zu stellen.

"Ging.", gebe ich ausweichend zurück. "Bin davon ausgegangen, dass wir einfach sonntags telefonieren. So wie immer."

"Na klar, Schatz, das tun wir ja auch, aber ich wollte wissen wie es bei dir läuft. Hast du dich gut eingelebt?"

"Mhh.", murmele ich nur. Zum Lügen fehlt mir die Kraft, doch die Wahrheit kann ich auch nicht sagen. Dass ich mich fehl am Platz fühle - überflüssig. Dass ich das Gefühl habe, nicht mehr hier sein zu dürfen. Dass jeder Schritt mehr Kraft kostet, als ich aufbringen kann.

Ich habe Angst, wie sie regieren würde. Dass sie sich Sorgen macht, oder schlimmer noch, dass sie es nicht tut.

"Hat sich dein Vater denn wenigstens frei genommen?", hakt sie nach und ich verdrehe bei der Schärfe in ihrer Stimme die Augen. Selbst nach sechs Jahren Trennung verteilen die beiden noch immer Spitzen wo es geht.

"Hat er." Ich weiß genau in welche Richtung diese Unterhaltung steuert und ich habe herzlich wenig Interesse an ihr, also tue ich das einzig Vernünftige und wechsle das Thema. "Ich war am Freitag mit Henri unterwegs!", trällere ich also übertrieben fröhlich. "Wir waren auf einer Party. Henri hat jetzt übrigens eine Freundin."

"Ach, wie schön! Ich freue mich für ihn. Henri ist so ein lieber Junge." Momentan ist er ein ziemliches Arschloch, aber okay. "Wie geht es ihm sonst so? Will er immer noch Polizist werden oder hat er sich das mittlerweile anders überlegt? Und seiner Mutter Diana? Arbeitet sie immer noch für dieses Architekturbüro?"

Ich zwirbele mir eine Haarsträhne um den linken Zeigefinger und meine betont locker: "Du könntest uns ja besuchen kommen und sie selbst fragen."

"Ach, Süße", seufzt meine Mutter und ich weiß genau was als Nächstes kommt, "du weißt doch wie gerne ich das würde, aber ich habe mit diesem neuen Projekt alle Hände voll zu tun. Wir sind praktisch den ganzen Tag im Studio. Erinnerst du dich an das Skript, von dem ich dir erzählt habe? Die Producer sind-"

Ich höre nicht weiter zu und verbringe die nächsten fünfzehn Minuten damit, hin und wieder zustimmend zu brummen und mich unruhig auf dem Bett herumzuwälzen. Als wir uns schließlich verabschieden, schleudere ich das Handy frustriert ans Bettende. Erneut wird mir bewusst, warum ich Telefonate mit meiner Mutter nach Kräften vermeide. Sie wecken in mir den Wunsch meinen Kopf wiederholt gegen eine Wand zu schlagen. Hart.

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

Als mein Handy erneut aufleuchtet, rechne ich schon damit, dass es meine Mutter ist, der eine weitere wichtige Geschichte eingefallen ist, doch zu meiner Überraschung ist es eine SMS von Henri.

Zögerlich, und aus irgendeinem Grund nervös, greife ich danach und entsperre es.

Henri: tut mir leid, dass ich am freitag so ein arsch war. wirklich. ich hätte nicht so ausrasten sollen.

Henri: hast du lust rüberzukommen? meine mutter hat gekocht. sie würde sich voll freuen dich zu sehen.

Henri: ich mich auch.

Ich will wütend sein, aber ohne, dass ich etwas dagegen tun könnte, schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen.

Außerdem, ich kann es mir nicht leisten, wütend auf ihn zu sein. Freunde habe ich schließlich nicht viele, also trete ich die Decke weg und schwinge die Beine aus dem Bett.

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